Editorial

Zellen tanzen Ballett

(06.03.2023) Während der Hirnentwicklung wandern Neurone an ihren Platz und bilden gleichzeitig ihr Axon aus. Die Koordination der beiden Prozesse überrascht.
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Die gelb fluoreszierenden Neurone produzieren ein Peptid, das das Centrosom an der Bildung von Mikrotubuli hindert. Ihre Migration ist dadurch gestört, dennoch bilden sie interzelluläre Verbindungen aus, deckte Frank Bradkes Team auf.

Damit sich ein funktions­fähiges Gehirn entwickeln kann, müssen Millionen von Zellen wachsen, den richtigen Platz im Gewebe finden und Verbindungen untereinander knüpfen. Vorläufer der Nervenzellen teilen sich in der innersten Schicht des Neuralrohrs, der Ventrikular­schicht. Von dort wandern sie radial nach außen zur corticalen Platte, aus der sich später die Großhirnrinde entwickelt. Während der Wanderung differenzieren die Vorläuferzellen zu reifen Nervenzellen und bilden dabei aus einem ihrer vielen noch unspezialisierten Ausläufer (Neuriten) ihren charak­teristischen, langen Nervenzell­fortsatz (Axon) aus, über den Nervensignale weitergeleitet werden. Danach zeigt die Nervenzelle eine bipolare Struktur.

Für Frank Bradke (im Bild) vom Deutschen Zentrum für Neuro­degenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn ist das wie „Zell-Ballett“: „Es ist faszinierend, dass sich der Zellkörper der Nervenzelle nach oben bewegt und gleichzeitig nach hinten den axonalen Ausläufer auswachsen lassen kann.“ Denn sowohl für die Migration als auch für das Auswachsen des Axons – die Polarisation – werden Mikrotubuli benötigt. Diese röhren­förmigen Bestandteile des Cytoskeletts nehmen in der Zelle vielfältige Aufgaben wahr, die mit Transport und Fortbewegung zu tun haben: So bilden sie in der Zellteilung den Spindel­apparat, vermitteln den Vesikel­transport und ermöglichen mobilen Zellen die Fortbewegung. Wie die Mikrotubuli die beiden entgegen­gerichteten Prozesse der Migration und der Polarisation koordinieren, war bislang nicht bekannt. Das Schlüssel­element dafür hat das Forschungs­team unter der Leitung von Bradke nun gefunden: das Centrosom.

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Master of Mikrotubuli

Das Centrosom wird auch als Mikrotubuli-organisierendes Zentrum (MTOC) bezeichnet, weil es in der Lage ist, die röhrenartigen Strukturen aus einzelnen Tubulin-Unter­einheiten zusammen­zubauen. Bradkes Team wollte deshalb untersuchen, ob und in welcher Weise das Centrosom für die Prozesse in den wandernden Nervenzellen benötigt wird. Immerhin hatten frühere In-vitro-Versuche mit Ratten-Hippocampus-Zellen gezeigt, dass das Axon weiterwächst, wenn das Centrosom der Zelle zuvor durch Laserbeschuss zerstört worden war. Ebenfalls war bekannt, dass die Aktivität des Centrosoms während der Polarisation abnimmt. „Allerdings ist dann die Entscheidung, welcher der undifferenzierten Neuriten zum Axon wird, schon gefallen“, schränkt Erstautor Stanislav Vinopal ein. „Bei der anfänglichen Polarisierung ist dagegen noch offen, welcher der Neuriten das Rennen macht und zum Axon wird. Während dieser Phase ist das Centrosom noch aktiv und kann Mikrotubuli ausbilden.“

Als Erstes entwickelten die Bonner Methoden, mit denen sie die Funktion des Centrosoms ausschalten konnten. Entscheidend für dessen Fähigkeit, Mikrotubuli aufzubauen, ist ein Ringkomplex aus γ-Tubulin, der über das Protein Nedd1 ans Centrosom bindet. Indem sie eine Variante von Nedd1 herstellten, die zwar noch das Centrosom, aber nicht mehr den γ-Tubulin-Ringkomplex binden konnte, verhinderten die Forscher, dass Mikrotubuli gebildet werden konnten.

Unnötig für die Polarisation

Welchen Einfluss diese Manipulation auf das Axon-Wachstum hatte, untersuchte das Team in Zellkultur, in der Neuronen nicht wandern können. Auf diese Weise lassen sich beide Prozesse – Migration und Polarisation – gut voneinander trennen. Überra­schenderweise hatte das Ausschalten des Centrosoms keinen Einfluss auf die Polarisation: Hinsichtlich Anzahl und Länge der Axone gab es keine Unterschiede zwischen Zellen ohne Centrosom-Aktivität und Kontrollzellen. Auch wenn das Centrosom mit einem Laser zerstört wurde, wuchsen weiterhin Axone aus. Offensichtlich werden also die für das Wachstum des Axons benötigten Mikrotubuli nicht am Centrosom gebildet. Für die Zelle gibt es nämlich auch andere Möglichkeiten der Mikrotubuli-Bildung, beispielsweise unter Vermittlung des Golgi-Apparats. Störten die Forscher diesen Prozess, so reduzierte sich auch das Axon-Wachstum.

Wie bereits erwähnt, verliert das Centrosom im Verlauf der Polarisation natürlicherweise seine Fähigkeit zur Mikrotubuli-Bildung, vermutlich weil der γ-Tubulin-Ringkomplex aus dem Centrosom verloren geht. Dafür spricht zumindest, dass Nedd1 – der Faktor, der den γ-Tubulin-Ringkomplex zum Centrosom führt – in ausdiffe­renzierten Neuronen deutlich herabreguliert ist. Die Forscher überprüften deshalb, ob eine Herabregulation der Centrosom-Aktivität für das Axon-Wachstum wichtig sein könnte. Dazu überproduzierten sie Akna, einen Aktivator der centrosomalen Mikrotubuli-Produktion. Doch auch die dadurch verstärkte Centrosom-Aktivität hatte keinen Einfluss auf die Axon-Bildung der betroffenen Nervenzellen.

Entscheidend für die Migration

Mithilfe eines von Sebastian Dupraz entwickelten Expressions­systems, durch das die Centrosom-Aktivität in Neuronen hoch- oder runterreguliert werden kann, gelang es den Bonnern, den Einfluss des Centrosoms auf die radiale Wanderungs­bewegung zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass die Nervenzellen ohne Centrosom sich nicht mehr zur corticalen Platte hin ausrichten konnten: Sowohl die Migrations­geschwindigkeit als auch die Zielstrebigkeit der Zellen war im Vergleich zu den Kontrollzellen deutlich reduziert.

Interessanterweise war der Effekt ähnlich fatal, wenn die Aktivität der Centrosomen verstärkt wurde. Die Axone wurden in beiden Fällen weiterhin gebildet. Die Herab­regulation der Golgi-vermittelten Mikrotubuli-Bildung hatte dagegen keinen Einfluss auf die Migration. Nervenzellen wandern, indem sie am Vorderende eine Schwellung bilden, in die zuerst das Centrosom und anschließend der Zellkern einwandern. Das Vorderende zieht dann den Rest der Zelle hinterher. Die typischen Schwellungen waren seltener zu beobachten, wenn die Centrosomen überaktiv waren, und wurden häufiger bei Inaktivierung des Centrosoms. Insgesamt deutet das darauf hin, dass die Aktivität des Centrosoms fein austariert sein muss, damit eine geordnete Migration möglich ist.

Blick auf neuronale Entwicklungsstörungen

Die neuen Erkenntnisse könnten zukünftig auch helfen, Therapien für verschiedene Erbkrankheiten zu finden, so hoffen die DZNE-Forscher. „Erst einmal können wir dadurch verstehen, wieso bei einigen neuronalen Entwicklungs­störungen zwar die neuronale Migration in Mitleidenschaft gezogen wird, aber das axonale Wachstum immer noch relativ normal abläuft – und das obwohl bei beiden Prozessen Mikrotubuli beteiligt sind“, erklärt Vinopal und Dupraz fügt hinzu: „Das gilt insbesondere für Pachygyrien, die durch Mutationen in γ-Tubulin verursacht werden.“

An dieser Stelle könnten zukünftig molekulare Therapien ansetzen, ist das Team überzeugt. „Wir haben jetzt die Grundlagen zum Verständnis geschaffen“, fasst Bradke zusammen. „Weitere Schritte in Richtung Therapie­entwicklung können wir nicht alleine bewältigen, da wird es einen Zusammen­schluss mehrerer Forschungs- und Klinikgruppen geben müssen.“

Larissa Tetsch

Vinopal S., Dupraz S. et al. (2023): Centrosomal microtubule nucleation regulates radial migration of projection neurons independently of polarization in the developing brain. Neuron, S0896-6273(23)00070-3

Bild: DZNE/Sebastian Dupraz (AG Bradke) & DZNE/Frommann (Porträt)


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Letzte Änderungen: 06.03.2023