Editorial

Der Imperativ der Machbarkeit

(24.03.2023) Hauptsache, Daten machen! Wenn man sie hat, werden sie schon einen Sinn ergeben. So heißt es oft. Doch ohne Konzept funktioniert das manchmal nicht.
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Zum Glück ist in der Forschung heute so vieles einfach machbar – dem mächtigen Methodenschub der letzten zwei Jahrzehnte sei Dank! Denn nicht immer fällt den Forschern, die im Hamsterrad des Publish or Perish ja pausenlos Projekte am Laufen haben müssen, auch was Originelles ein. Und dann? Ja gerade dann ist die Verlockung besonders stark, diesem Imperativ der reinen Machbarkeit zu folgen.

Und das hat ja auch Vorteile: Man braucht kaum komplizierte Konzepte, ein oftmals recht plakativer Zweck reicht meist schon aus. Und die entsprechenden Projekte kann man dann leicht verkaufen. Schließlich bietet das, was machbar ist, eine gewisse Ergebnisgarantie. Wenn ich ein Genom sequenziere, habe ich am Ende eine Sequenz – und das ist doch schon mal was. Welche Erkenntnisse mir die Sequenz bringt – na ja, das kann man dann noch später sehen.

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Konzepte kommen mit den Daten

Sehr beliebt unter diesen konzeptionsarmen „Just-do-it,-think-later“-Ansätzen sind sogenannte „Fishing Expeditions“. Etwa einfach mal ein Transkriptom oder Ähnliches aufnehmen – geht ja leicht heutzutage. Und ein Muster, das man nachträglich noch zu einer Art Konzept weiterentwickeln kann, wird sich mit dem Hereinkommen der Daten schon fast von selbst entwickeln. Hat ja schon öfter geklappt.

Oder auch nicht. In einem Blog wurde dieses Thema vor kurzem im Zusammenhang mit der Schlafforschung diskutiert. Ein wenig erfolgreiches Feld, wie die Teilnehmer meinten. Immer noch weiß man nicht, was Schlaf eigentlich genau ist und warum er sich evolutionsgeschichtlich entwickelt hat. Und weil einem vor lauter Konzeptionsleere nichts mehr einfiel, begannen einige Vertreter einfach mal „ergebnisoffen nach Schlafgenen zu fischen“. Die bescheidene Beute dieser Fischzüge? Die üblichen allgegenwärtigen Verdächtigen in Hirnzellen: Proteinkinasen, Dopaminrezeptoren, Serotonintransporter und so weiter.

Emergentes Gehirn

Bis einer der Diskussionsteilnehmer angesichts dieser Schilderung aus der Haut fuhr: „Verstehen die nicht, dass Schlaf eine emergente Eigenschaft des multizellulären Gehirns ist? Nicht einzelne Neuronen schlafen (oder sind wach) – die Gehirne tun das! Der „Schlafmechanismus“ ist folglich kein molekularer Mechanismus, sondern das Ergebnis eines speziellen Musters neuronaler Aktivität und Konnektivität.“

Gutes Beispiel, dass konzeptionelles Denken sich immer lohnt, bevor man einfach das macht, was nun mal eben geht.

Ralf Neumann

(Illustration via NightCafe Creator)

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Letzte Änderungen: 23.03.2023