Hinreichend statt optimal
Das Problem dabei: Solche Lehnsessel-Denker sind tatsächlich gefährlich, denn Evolution ist nicht so trivial, wie diese Leute oftmals meinen. Entsprechend viele Missverständnisse müssen die „echten“ Evolutionsbiologen deswegen immer wieder mühevoll ausräumen.
Ein solches Missverständnis ist etwa, dass die Selektion so lange auswählt, bis irgendetwas optimal an seine Umwelt angepasst ist. Falsch! Die Selektion wählt nur so lange aus, bis etwas hinreichend angepasst ist. Das mag wortklauberisch klingen, ist aber ein Riesenunterschied. Denn hätte die Evolution uns optimal anpassen wollen, wäre zum Beispiel menschliche Photosynthese eine gute Sache gewesen. Offenbar geht es aber auch ohne grüne Haut gut genug.
Genauso falsch ist daher, dass die Evolution aus einer Population immer die „Besten“ auswählt. Vielmehr eliminiert sie lediglich diejenigen Individuen, die nicht mehr hinreichend mit ihrer Umwelt zurecht kommen. Besteht kaum Selektionsdruck – was nichts anderes heißt, als dass die gesamte Population die Herausforderungen ihres Lebensraums gut bewältigt –, braucht sie auch keine Neuerungen. Diese entstehen zwar weiterhin durch Variation in dem ein oder anderen Individuum, setzen sich in der Population aber nicht durch, weil diese die entsprechenden Anforderungen ja sowieso schon hinreichend meistert. Fazit: Evolution strebt nicht per se nach Verbesserung.
Besser oder schlechter?
Überhaupt: Was ist in der Evolution besser oder schlechter? Ist der Mensch ein „besseres“ Ergebnis der Evolution als das Bakterium? Rein entwicklungsgeschichtlich betrachtet sind beide Lebensformen „Erfolgsstories“, bis zum heutigen Tage haben sie ihre jeweiligen Umweltanforderungen stets hinreichend gemeistert. (Wobei Bakterien natürlich schon deutlich länger meistern als wir Menschen.)
Evolution hat demnach auch keine ihr innewohnende Richtung. Sie wird höchstens durch Veränderungen der Umwelt – durch variierenden Selektionsdruck also – in gewisse Richtungen gedrängt. Aber auch unter solchem Druck entstehen Selektionsvorteile nicht automatisch durch etwas Komplexeres, Besseres oder irgendwie Höherentwickeltes. Auch ein oder mehrere Schritte zurück können Vorteile bringen. Bestes Beispiel sind die Reduktionsvorgänge beim Übergang von der freilebenden zu einer parasitischen Lebensweise.
Oder nehmen wir die Krokodile. Die meiste Zeit liegen sie untätig im Wasser, um zum Beutefang plötzlich heftig aber nur kurz zu explodieren. Klar, sind ja auch Kaltblüter. Waren sie allerdings nicht immer, wie Daten zu deren Herzanatomie und -physiologie nahelegen (Physiol. Biochem. Zool. 77: 1051-68). Vielmehr scheinen die Urahnen der Krokodile warmblütige und äußerst agile Landtiere gewesen zu sein. Irgendwann aber gingen diese zurück in seichte Gewässer, wo plötzlich der Wärmeverlust zu einem stärkeren Thema wurde. Und dieser neue Selektiondruck sorgte offenbar dafür, dass die heutigen Krokodile sekundär wieder zur Kaltblütigkeit zurückkehrten. Lieber an Agilität und Kondition einbüßen, als die hohen Energiekosten für die Endothermie zu zahlen.
Erst Daten, dann spekulieren
Sicher keine völlig falsche Unterstellung, dass viele in ihren Lehnsesseln die Umstellung von Warm- zum Kaltblütler eher als Rückschritt beurteilen würden. Für die Krokodil-Ahnen, die damals gerade einen neuen Lebensraum besiedelten, war es jedoch eindeutig ein Fortschritt.
Und ganz abgesehen davon: Wie hätten reine „Armchair-Evolutionists“ zuvor überhaupt spekulieren können, dass die Vorfahren der Krokodile Warmblüter waren? Dazu brauchte es erstmal harte Daten.
Ralf Neumann
(Illustr.: DALL-E 2)
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