Aus dem Takt geraten
Rund die Hälfte der Gene im Menschen wird in mindestens einem Gewebe oder Organ rhythmisch exprimiert (Sci Transl Med, 10(458):eaat8806). Solche taktgesteuerten Gene sorgen dafür, dass manche Vorgänge zu unterschiedlichen Tageszeiten unterschiedlich aktiv sind: So ist die Verdauung tagsüber aktiver als nachts, während man abends leichter in den Schlaf findet als morgens. Wann gegessen, geschlafen, Sport getrieben oder ein Medikament eingenommen wird, kann deshalb großen Einfluss auf das Ergebnis haben. „Die biologische Uhr regelt den Zeitablauf vieler zellulärer und molekularer Mechanismen wie die Zellteilung oder von Stoffwechselprozessen und spielt eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung der menschlichen Gesundheit“, fasst Relógio dieses Wissen zusammen. „Ist der zirkadiane Rhythmus gestört, können Krankheiten entstehen wie Schlafstörungen, Depressionen, Diabetes, neurodegenerative Erkrankungen, Fettleibigkeit oder Krebs.“
Solche Störungen können durch Umwelteinflüsse herbeigeführt werden, etwa durch eine Zeitverschiebung oder Schichtdienst, aber auch der persönliche Lebensstil spielt eine Rolle. Esse ich regelmäßig mitten in der Nacht oder schlafe ich entgegen meinem zirkadianen Rhythmus, kommt die innere Uhr aus dem Takt. Weiß man, wie die innere Uhr tickt, kann man darauf Rücksicht nehmen. Und noch viel wichtiger: Durch eine Abstimmung auf die Zeitsteuerung des Stoffwechsels lassen sich auch Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten verbessern, wie Relógio erklärt: „Etwa 90 % der neuen Wirkstoffe fallen durch, weil sie in Studien nicht wirken, davon ein Drittel, weil sie ungewollte Nebeneffekte haben. Die sogenannte Chronotherapie kann diese Zahlen verbessern, da Zellzyklus und Stoffwechsel beide zeitgesteuert sind.“
Die Uhr bestimmen
Dass es einen Unterschied macht, ob beispielsweise ein Krebsmedikament morgens oder abends eingenommen wird, ist inzwischen klinisch bewiesen. Allerdings – und damit kommen wir wieder zu den Lerchen und Eulen – tickt die Uhr nicht für jeden gleich. Man muss die innere Uhr also für jeden Menschen individuell bestimmen, was bisher kaum praktikabel durchzuführen war. Hier setzt die TimeTeller GmbH an, die im März 2023 von Relógio, Co-Gründer Benjamin Dose und der Ascenion GmbH –Technologietransfer-Partner der Charité – aus der Charité ausgegründet worden ist. Unterstützung dafür hat es vom „Inventors 4 Health“-Programm für gründungswillige Charité-Forscher sowie vom „Digital Health Accelerator“-Programm des Berlin Institute of Health (BIH) gegeben.
Um die individuelle Uhr zu bestimmen, verfolgt TimeTeller die Aktivität zweier mit der zirkadianen Uhr assoziierter Gene über den Tagesverlauf: Das Genprodukt BMAL1 ist ein positiver Regulator der Genexpression. Es beeinflusst Zellzyklus, Stoffwechsel und Immunsystem, ist wichtig für die Gedächtnisfunktion, Entzündungs- und Stressreaktionen, den Muskelstoffwechsel und steht in Verbindung mit Depression, Altern, Schlafentzug und Krebs. Per2 gehört zur „Period“-Genfamilie, sein Protein spielt eine regulatorische Rolle im Lipidstoffwechsel, Zellzyklus und Zellwachstum. Auch hier gibt es eine Verbindung zu Schlafstörungen, Altersprozessen und der Entstehung von Krebs.
Speicheltest für zuhause
Praktikabel und breit einsetzbar wird der Ansatz von TimeTeller dadurch, dass ein einfacher Speicheltest für die Bestimmung der inneren Uhr ausreicht. Ein entsprechendes TimeTeller-Kit soll bald verfügbar sein. Damit kann der Speicheltest bequem zu Hause durchgeführt und dann an das Unternehmen geschickt werden. Zurück kommt nach einigen Tagen ein Bericht mit Empfehlungen zur Anpassung des Lebensstils. „Wir wissen, dass jede Zelle des menschlichen Körpers die Aktivität vieler Gene regelmäßig steigert und absenkt“, erklärt die Unternehmensgründerin das Konzept. „Da wir davon ausgehen, dass alle Zellen des Körpers synchron arbeiten, schließen wir aus der Analyse der Genaktivität in Speichelzellen auf die zirkadiane innere Uhr.“ Mithilfe eines von TimeTeller entwickelten mathematischen Modells wird aus den Genaktivitäten berechnet, wann es für den jeweiligen Kunden am sinnvollsten ist, zu essen, Sport zu treiben oder schlafen zu gehen.
Die große Vision von TimeTeller ist es aber, Ärzten dabei zu helfen, die Therapien ihrer Patienten zu optimieren und zu individualisieren. Ob die firmeneigenen Speicheltests dazu wie erhofft ihren Teil beitragen, wird derzeit in klinischen Studien validiert. Finanzielle Unterstützung für das Start-up gab es inzwischen auch vom „InnoRampUp“-Programm der Hamburgischen Investitions- und Förderbank (IFB). Außerdem befindet sich TimeTeller in Gesprächen mit pharmazeutischen Unternehmen für den Aufbau von Kooperationen.
Larissa Tetsch
Bild: Pixabay/zoosnow
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