Editorial

Plötzlich Corona-Forscher

(26.06.2023) Mit Beginn der Pandemie war die Expertise aller Forscher gefragt. Die meisten Zitierungen sammelten dennoch Virologen und Impf-Pioniere.
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Im März 2020 wurden wir alle zu Corona-Experten – so sagt man gern scherzhaft und spielt auf den sprichwörtlichen „Bundestrainer im Fernseh­sessel“ an, der in Windeseile umschulen musste. Ganz falsch ist diese Beobachtung nicht, denn auf einmal betrafen Begriffe wie R-Wert, PCR und Immun­globuline unser aller Alltag.

Auch die Forscher in den Lebens­wissenschaften fielen zum Großteil ins kalte Wasser. Selbst Virologinnen und Virologen standen nicht mit einer Expertise für Coronaviren in den Startlöchern, sondern waren meist Fachleute für Influenza, Hepatitis, Herpes oder HIV. Eine der wenigen Ausnahmen war Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité. Er war bereits bei den SARS-Fällen im Jahr 2002 und 2003 maßgeblich an der Identifikation des Erregers als Coronavirus beteiligt (N Engl J Med, 348(20):1967-76) und blieb diesem Thema treu: In Fledermäusen suchte er nach diesen Viren und forschte zu MERS. Somit galt Drosten nach den Ereignissen in Wuhan im November 2019 aus guten Gründen hierzulande als der Fachmann der ersten Stunde.

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Geänderte Spielregeln

Aber auch jenseits der Virologie mussten sich die Lebens­wissenschaften fast zwangsläufig mit SARS-CoV-2 beschäftigen: In der Anfangszeit kämpften Intensiv­mediziner um das Leben schwer Erkrankter und es galt zunächst herausfinden, wie man COVID-19 adäquat behandelt und die Überlebens­wahrscheinlichkeit beatmungs­pflichtiger Patienten verbessert. Pneumologen und Kardiologinnen waren gefragt, und natürlich das Know-how aus der Immunologie. Auf einmal konnte fast jede Forscherin als Koautor mit auf ein SARS-CoV-2-Paper rutschen – selbst Physiker, die sich mit Luftströmungen und Aerosolen befassen.

Im Zyklus unserer regulären Publikations­analysen aber bildet sich die Relevanz des nun nicht mehr ganz so neuen Coronavirus nur bedingt ab. In den Auflistungen der meistzitierten Artikel fallen diese Arbeiten meist raus, weil sie vom jeweils aktuellen Ranking-Genre dann doch zu weit weg sind. Also haben wir uns entschlossen, ein kleines Corona-spezifisches Ranking außer der Reihe zu präsentieren. Dabei wollten wir auch die 15 meistzitierten Corona-„Köpfe“ aus dem deutschsprachigen Raum ermitteln. Gerade weil die Corona-Forschung aber nicht als eigene Disziplin abgrenzbar ist, haben wir die Spielregeln für dieses spezielle Ranking etwas modifiziert. Normalerweise nämlich wählen wir die Kandidaten der meistzitierten „Köpfe“ nach einem sinnvollen Kriterium aus (meist die Instituts­bezeichnung und der Anteil der Publikationen in den einschlägigen Fachblättern der jeweiligen Disziplin) – danach ermitteln wir deren Zitierzahlen unter Berücksichtigung aller Artikel aus dem Analysezeitraum.

Stichworte mit leichter Unschärfe

Um eine Kandidatenliste der Corona-Autoren zusammen­zustellen, schauten wir nun aber zunächst, wer alles an Corona-relevanten Fachartikeln mitgewirkt hatte. Hierzu erstellten wir einen Suchstring, der jeden Artikel mit SARS-CoV-2-Bezug einschließen dürfte – zeitlich eingegrenzt auf den Beginn der Pandemie im November 2019 bis zum März dieses Jahres (Details sind in diesem PDF zusammengefasst).

Weil die Corona-Community aber so heterogen zusammen­gewürfelt ist, ergibt es wenig Sinn, alle Paper eines Kandidaten für die Zitierzahlen zu berücksichtigen. Der Krebsforscher und die Human­genomikerin zum Beispiel würden massenhaft Zitate beisteuern aus Publikationen, die überhaupt nichts mit der Pandemie zu tun haben. Uns interessierte in diesem Fall jedoch ganz speziell die Publikations­aktivität eines Wissenschaftlers in seiner oder ihrer jeweiligen Rolle als „Corona-Forscher“. Für die Zitierungen berücksichtigt haben wir daher ausschließlich jene Artikel aus den Corona-spezifischen Suchergebnissen.

Tückische Suche

Andererseits sollten die Leute in der Top-15-Tabelle schon eine gewisse Expertise zum Thema SARS-CoV-2 mitbringen, die sie von anderen Forschern unterscheidet. Um hier eine gewisse Qualitäts­sicherung zu wahren, haben wir nur jene Autoren einbezogen, die an mindestens zehn Artikeln zu Corona mitwirkten – für uns ein Indiz, dass jemand mit einer gewissen Kontinuität zu COVID-19 oder SARS-CoV-2 geforscht hatte.

Die Suche nach Corona-Schlagworten birgt natürlich auch Tücken. Stellen wir uns eine Studie zu Influenzaviren vor, und in der Einleitung stünde sinngemäß: „Die COVID-19-Pandemie hat uns die Gefahren von Zoonosen vor Augen geführt. Auch Influenzaviren springen immer wieder von Vögeln auf andere Wirbeltiere über.“ Dieser Artikel wäre durch das Stichwort „COVID-19“ für uns ein Corona-Paper, obwohl es gar nicht um SARS-CoV-2 geht. Bei mehr als 17.000 Treffern zu Artikeln mit Adressen im deutschsprachigen Raum konnten wir hier nicht weiter von Hand selektieren. Wir hätten uns allein auf die Überschrift beschränken können, mit weniger falsch-positiven Treffern – dann aber hätten wir viele Corona-relevante Arbeiten aus dem Pool verbannt. Für die meistzitierten „Köpfe“ und Artikel, die wir hier listen, spielt diese Unschärfe aber keine nennenswerte Rolle. Außerdem haben wir alle Kandidaten nach den identischen Spielregeln behandelt, sodass die Vergleichbarkeit gewahrt ist.

Drosten & Co. in internationaler Liga

Bevor wir uns aber den einzelnen Namen widmen, werfen wir zunächst einen Blick auf die meistzitierten Artikel. Filtern wir nicht speziell auf Adressen in Österreich, Schweiz und Deutschland, so landen zwei Arbeiten unter der Federführung chinesischer Autoren ganz oben. Beide liegen mit rund 15.000 Zitierungen nah beieinander, doch mit hauchdünnem Vorsprung am Stichtag gewinnt eine Publikation aus dem New England Journal of Medicine: Die Autoren berichten hier über die ersten Fälle in Wuhan und die Isolation eines Virus, das damals noch den Namen 2019-nCoV trug. Die zweitplatzierte Arbeit, veröffentlicht in Lancet, nennt schon namentlich die Begriffe „SARS-CoV-2“ und „COVID-19“; die Autoren stellen Risikofaktoren für tödliche Verläufe zusammen – insbesondere ein hohes Alter kam als wichtiges Merkmal heraus.

Top-3-Artikel International

Platz 1 mit 15.195 Zitierungen
Zhu, N et al.: A novel coronavirus from patients with pneumonia in China, 2019. New Engl J Med, 382(8): 727-33

Platz 2 mit 15.063 Zitierungen
Zhou, F et al.: Clinical course and risk factors for mortality of adult inpatients with COVID-19 in Wuhan, China: a retrospective cohort study. Lancet, 395(10229): 1054-62

Platz 3 mit 12.036 Zitierungen
Huang, CL et al.: Clinical features of patients infected with 2019 novel coronavirus in Wuhan, China. Lancet, 395(10223): 497-506

Speziell wollen wir uns nun den Publikationen aus dem Laborjournal-Verbrei­tungs­gebiet widmen. Platz 1 der Artikelliste muss aber den internationalen Vergleich nicht scheuen, denn mit 10.694 Zitierungen ist es zugleich der am vierthäufigsten zitierte Artikel aus dem Pool weltweiter Corona-Veröffent­lichungen. Alle Namen der Autorenliste geben eine Adresse in Deutschland an, und auch Christian Drosten hat mitgeschrieben. Das Team hatte den Eintritt in die Zelle über den ACE2-Rezeptor unter die Lupe genommen. Insgesamt sechs Autoren des meistzitierten Artikels stehen auch in der „Köpfe“-Liste – schließlich bringen sie ja allein durch dieses Paper schon mehr als 10.000 Zitierungen auf die Waage. Das Paper, das Christian Drosten in der öffentlichen Wahrnehmung zum „Erfinder der SARS-CoV-2-PCR“ machte, steht übrigens auf Platz 3 der Artikelliste und wurde regulär publiziert im Januar 2020.

Top-10-Artikel im LJ-Verbreitungsgebiet

Platz 1 mit 10.694 Zitierungen
Hoffmann, M et al.: SARS-CoV-2 cell entry depends on ACE2 and TMPRSS2 and is blocked by a clinically proven protease inhibitor. Cell, 181(2): 271-80

Platz 2 mit 7.262 Zitierungen
Polack, FP et al.: Safety and efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine. New Engl J Med, 383(27): 2603-15

Platz 3 mit 4.754 Zitierungen
Corman, VM et al.: Detection of 2019 novel coronavirus (2019-nCoV) by real-time RT-PCR. Eurosurveillance, 25(3): 23-30

Platz 4 mit 4.575 Zitierungen
Gorbalenya, AE et al.: The species severe acute respiratory syndrome-related coronavirus: classifying 2019-nCoV and naming it SARS-CoV-2. Nat Microbiol, 5(4): 536-44

Platz 5 mit 3.947 Zitierungen
Beigel, JH et al.: Remdesivir for the treatment of Covid-19 – Final Report. New Engl J Med, 383(19): 1813-26

Platz 6 mit 3.163 Zitierungen
Lauer, SA et al.: The incubation period of Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) from publicly reported confirmed cases: Estimation and application. Ann Intern Med, 172(9): 577-82

Platz 7 mit 3.130 Zitierungen
Ackermann, M et al.: Pulmonary vascular endothelialitis, thrombosis, and angiogenesis in Covid-19. New Engl J Med, 383(2): 120-8

Platz 8 mit 1.827 Zitierungen
Zhang, JJ et al.: Clinical characteristics of 140 patients infected with SARS-CoV-2 in Wuhan, China. Allergy, 75(7): 1730-41

Platz 9 mit 1.772 Zitierungen
Zhang, LL et al.: Crystal structure of SARS-CoV-2 main protease provides a basis for design of improved alpha-ketoamide inhibitors. Science, 368(6489): 409-12

Platz 10 mit 1.696 Zitierungen
Wölfel, R et al.: Virological assessment of hospitalized patients with COVID-2019. Nature, 581(7809): 465-69

Wenig überraschend führt Christian Drosten auch die Liste der meistzitierten „Köpfe“ an. Mehr als 30.000 Zitierungen gehen auf sein Konto, doppelt so viele wie Marcel Müller auf Platz 2 des Sieger­treppchens. Auch Müller ist an Drostens Institut tätig. Mit Victor Corman (7.), Julia Schneider (10.) und Marie Luisa Schmidt (11.) landen insgesamt fünf Namen aus der Virologie der Charité unter den Top-15.

01. Christian Drosten (Charité Berlin): 31.025 Zitierungen – 98 Artikel
02. Marcel A. Müller (Charité Berlin): 15.317 – 22
03. Markus Hoffmann (DPZ Göttingen): 14.595 – 56
04. Stefan Pöhlmann (DPZ Göttingen): 14.543 – 56
05. Ugur Sahin (BioNTech Mainz): 13.186 – 31
06. Özlem Türeci (BioNTech Mainz): 12.992 – 23
07. Victor Corman (Charité Berlin): 12.656 – 92
08. Nadine Krüger (DPZ Göttingen): 12.332 – 17
09. Andreas Nitsche (RKI Berlin): 11.630 – 36
10. Julia Schneider (Charité Berlin): 7.608 – 10
11. Marie Luisa Schmidt (zuletzt Charité Berlin): 5.557 – 11
12. John Ziebuhr (Univ. Gießen): 4.975 – 11
13. Aleksander Tzankov (Uniklinikum Basel): 4.574 – 38
14. Tobias Welte (MH Hannover): 4.521 – 38
15. Florian Kurth (Charité Berlin): 4.461 – 54

Bekannt aus Funk und Fernsehen – aber nicht auf der Liste

Wer die Talkshows in Pandemie­zeiten verfolgt hat, wird aber einige Namen in der „Köpfe“-Tabelle vermissen. Sandra Ciesek von der Uni Frankfurt zum Beispiel. Sie war vor der Pandemie auf Hepatitis spezialisiert, hatte aber im Analyse­zeitraum 80 Corona-Artikel beigesteuert, die 3.153-mal zitiert wurden. Für die Top-15 hat es nicht gereicht, dennoch eine beachtliche Zahl.

Hendrik Streeck, Drostens Nachfolger am Institut für Virologie in Bonn, stieß auf große, aber auch gespaltene mediale Resonanz. Vom Hörensagen bekannt ist uns seine Heinsberg- oder Gangelt-Studie. Die reguläre Publikation hierzu vom November 2020 kommt aber nur auf rund 130 Zitierungen (Nat Commun, 11(1): 5829). Insgesamt wurden Streecks 23 Corona-Artikel 480-mal zitiert. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung, ebenfalls ein bekanntes Gesicht aus Funk und Fernsehen, ist mit einem Corona-relevanten Artikel in der Datenbank des Web of Science gelistet (EMBO Mol Med, 12(12): e13296), der 83-mal zitiert wurde. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin kommt auf 12 Zitierungen in zwei Artikeln.

Sind nun die eben Genannten die schlechteren Ratgeber, weil sie weniger publiziert haben? Regelmäßig mahnen wir bezüglich der Zitierzahlen zu einem differenzierten Blick, und dem treuen Laborjournal-Fan dürften diese Floskeln schon zu den Ohren raushängen. Bei einem gesellschaftlich so aufgeladenen Thema wie der COVID-19-Pandemie wollen wir aber trotzdem auch diesmal wieder ausdrücklich darauf hinweisen, dass ein Wissenschaftler mit vielen Publikationen nicht unbedingt der bessere Forscher ist. Und umgekehrt: Wer nur gelegentlich publiziert, meldet sich vielleicht lieber dann erst zu Wort, wenn sie oder er auch etwas zu berichten hat. Was es dabei noch zu bedenken gilt: Wie groß ist das Team, das jemand im Rücken hat? Wie viele Kooperationen geht man ein, sodass man auch mal zwischen dem ersten und letzten Namen in der Autorenliste mitfahren und seinen Publikations-Output etwas aufhübschen kann?

Nicht alle Coronaexperten sind Forscher

Zeitweise traf der Fingerzeig jene gnadenlos, die vermeintlich ja gar nicht medial hätten mitreden dürfen, weil sie keine Forscher sind. Doch vergessen wir nicht die vielen anderen Mitwirkenden im Hintergrund, die eben auch „Wissen schaffen“: Wer an den Erhebungen der Wochen­berichte beim RKI mitwirkt, Varianten überwacht oder anderweitig praktisch in Echtzeit Daten geliefert hatte, verfasste vielleicht keinen einzigen wissen­schaftlicher Artikel. Und doch flossen seine Daten über Umwege letztlich in Fach­publi­kationen ein. Und ja, auch eine kundige Virologin oder ein Epidemiologe kann sehr wohl gut vernetzt sein mit der forschenden Community und als Experte wichtige Beiträge in Sachen Wissenschafts­kommunikation leisten, ohne selber speziell zu Corona im Labor zu stehen.

Vergessen wir nicht, dass umgekehrt viele der hochzitierten Autoren letztlich Spezialisten sind, die gar nicht zwangsläufig das „große Ganze“ überblicken (und solch einen Weitblick auch gar nicht von sich selbst behaupten). Folgende Schlussfolgerung trauen wir uns aber zu: Die meisten der Top-15-Autoren waren an wegweisenden Erkenntnissen rund um Corona beteiligt. Denn, auch das ist wichtig: Wir betrachten hier nicht das Grundrauschen an Preprints und schnellen Presse­meldungen, in der Core Collection des Web of Science sind nur reguläre Veröffent­lichungen aus Fachblättern mit Peer Review berücksichtigt.

DPZ, RKI und BioNTech

Auch wenn mit der Pandemie Coronaforscher aus allen Disziplinen rekrutiert wurden, so dominieren doch die Virologen und Infektiologen die Tabelle der meistzitierten „Köpfe“. Die Infektions­biologen aus dem Deutschen Primaten­zentrum (DPZ) in Göttingen fallen hier ins Auge, mit Markus Hoffmann (3.), Stefan Pöhlman (4.) und Nadine Krüger (8.) – alle drei stehen auch auf der Autorenliste des meistzitierten Artikels. Mit Andreas Nitsche ist auch das RKI vertreten, und als einziger mit einer nicht-deutschen Instituts­adresse sei noch Aleksander Tzankov (13.) von der Uniklinik Basel genannt.

Nicht unerwähnt bleiben sollen die mRNA-Pioniere Ugur Sahin und Özlem Türeci mit den Plätzen 5 und 6 in der „Köpfe“- sowie Platz 2 in der Artikel-Liste. Ja, sie waren weder die Einzigen noch die Ersten, die auch schon vor Corona zu mRNA-Impfungen geforscht hatten. Man mag kritisieren, dass für einige wenige die Pandemie zu einem Milliarden­geschäft wurde, dass ein Großteil der Welt eben keinen Zugriff hatte auf die bestmöglichen Impfstoffe. Doch für uns in Europa entpuppte sich insbesondere das Vakzin von BioNTech als Gamechanger, der der Pandemie einen Großteil ihres Schreckens nahm und uns einen Weg zurück in die Normalität ebnete.

Mario Rembold

Bild: Pixabay/geralt (bearb.)


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Letzte Änderungen: 26.06.2023