Editorial

Humangenetik mit Herz

(18.07.2023) Am 8. Juli ist Jeanette Erdmann überraschend verstorben. 2015 schrieb sie einen Essay für Laborjournal, den wir hier noch einmal veröffentlichen.
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„As a human being, Jeanette’s presence, wisdom, and unwavering support will be deeply missed. We didn’t only loose a good leader and mentor, but also a good friend.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich das von Jeanette Erdmann mitaufgebaute und geleitete Institute for Cardio­genetics in Lübeck von ihr. „Her memory will forever remain in our hearts, and her impact on our institute will continue to be felt for decades to come“. Das Forschungs­zentrum Borstel würdigte Jeanette Erdmann ebenfalls als „tolle Kollegin, exzellente Wissen­schaftlerin und brillante Human­genetikerin. Ihr Tod ist ein großer Verlust“.

Erdmann hatte von 1985 bis 1991 an der Uni Köln Biologie studiert, war über die Stationen Uni Bonn, Deutsches Herzzentrum Berlin und Uniklinik Regensburg nach Lübeck gekommen, wo sie von 2004 bis 2012 das Molekulare Genetik-Labor an der Klinik für Innere Medizin II des Universitäts­klinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, leitete. Aus diesem Labor heraus entstand das Institute for Cardiogenetics 2013. Seit 2021 war Erdmann Mitglieder der Leopoldina. In ihrer Forschungs­arbeit beschäftigte sie sich mit der Genetik monogener und komplexer kardio­vaskulärer Erkrankungen wie Arteriosklerose und Herzinfarkt. Außerdem war sie dabei, siRNA- und CRISPR-basierte Behandlungs­strategien für die Collagen-VI-Muskel­dystrophie zu entwickeln, einer Erkrankung, an der sie selber litt.

Editorial

Auch das Laborjournal hat über die Arbeit der Human­genetikerin berichtet. LJ-Autorin Karin Hollricher sprach mit der Lübeckerin 2013 im Artikel „Humangenetik mit Herz“ unter anderem über ihre damals aktuelle Nature-Publikation „Dysfunctional nitric oxide signalling increases risk of myocardial infarction“ (Nature, 504:432–6). Grund für das Interview war allerdings nicht das Paper, sondern eine Platzierung der Forscherin unter den Top-15-Köpfen unseres Rankings zur Humangenetik. Auch im 2018er-Ranking zur Humangenetik kam Jeanette Erdmann unter die Top 25. Im 2019er-Rankung zur Herz-, Gefäß- und Kreislauf­forschung landete die Wissenschaftlerin sogar unter den Top 10.

Zweimal schrieb Jeanette Erdmann auch Essays für das Laborjournal. Einen davon aus dem Jahr 2015, der noch immer aktuell ist (siehe: „Rasante Aufholjagd mit Hindernissen“), wollen wir an dieser Stelle noch einmal veröffentlichen. Und damit unsere Anteilnahme ausdrücken.

-KG-


Jetzt mal ehrlich: Genomforschung – Quo vadis, Deutschland?
Von Jeanette Erdmann, Lübeck, und Heribert Schunkert, München

In seiner letzten Regierungs­erklärung im Januar 2015 hat US-Präsident Obama die Entwicklung der „Precision Medicine“ zur Chefsache gemacht. Es gab Standing Ovations von Republikanern und Demokraten gleichermaßen. Die UK Biobank plant die Genom­sequenzierung von 100.000 Personen (UK 100K Genomes Project), ebenso wie Saudi-Arabien (Saudi Human Genome Programme). Finnland (FIMM) und die Niederlande (GoNL) haben große Programme aufgelegt, um genomische Information für die klinische Medizin im Laufe des nächsten Jahrzehnts nutzbar zu machen. Auch Zwergstaaten wie Island und Estland segeln vorne weg, wenn es um die Sequenzierung der ganzen Bevölkerung geht. Aber nicht nur staatliche Projekte gehen derzeit an den Start, auch die Pharmaindustrie beginnt groß angelegte Genom­sequenzierungs­projekte (zum Beispiel Regeneron Pharmaceuticals und Amgen).

Daher sei die Frage erlaubt: Welche Strategie verfolgt Deutschland in der Genomforschung?

Hat Präsident Obama zu viel Raumschiff Enterprise geguckt? Dort braucht Doc McCoy nur einen Tropfen Tränen­flüssigkeit, um seine Diagnosen zu stellen. Sicher ist, dass aus ein paar Tropfen Blut (oder einer Träne) ein individuelles Metabolom, Transkriptom, Epigenom und Genom konstruiert werden können, aus denen in Summe unendlich viele, heute noch ungenutzte Daten abgeleitet werden können. Sicher ist auch, dass Präsident Obama mit Francis Collins und Eric Lander Berater hat, die die Zukunft der Medizin sehr stark von Big Data beeinflusst sehen.

Visionäre sind in der Wissenschaft unverzichtbar, wenn der Quantensprung gelingen soll. Welche Visionen aber hat Deutschland?

Immerhin wurden im letzten Jahrzehnt etliche Konsortien zur Aufklärung der genetischen Ursachen komplexer Erkrankungen durch deutsche Wissenschaftler initiiert und koordiniert. Beispiele sind CARDIoGRAM, CARDIoGRAMplusC4D, International Inflammatory Bowel Disease Genetics Consortium (IIBDGC), Schizophrenia Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium, METASTROKE, CHARGE-AF, EchoGen und andere. Damit war der Wissen­schafts­standort Deutschland in der Genomforschung in der Vergangenheit hervorragend positioniert und sichtbar. Seit der Weiter­entwicklung von Next-Generation-Sequencing (NGS)-Methoden und der Einführung günstiger Gesamt­genom­sequenzierungen ändert sich das Bild jedoch dramatisch und der zukünftige Kurs ist unklar.

Vor nunmehr genau zehn Jahren begann der sogenannte Goldrausch der Genomik mit der ersten Genomweiten Assoziations­studie (GWAS) zur altersbedingten Makula­degeneration (AMD). Innerhalb dieses, für die Genomforschung so wichtigen Jahrzehntes sind mehr als 2.000 genomweite Assoziations­studien publiziert und im GWAS-Katalog aufgenommen worden.

Voraussetzung für die Durchführung von GWAS war zunächst die Vollendung des Humanen Genomprojektes im Jahr 2003 und parallel hierzu die technologische Entwicklung von Hochdurchsatz-Geno­typisierungs­verfahren, die die simultane Genotypisierung von mehreren Hunderttausend SNPs (Single Nucleotide Polymorphism) in Tausenden von Probanden ermöglichte. Deutschland war hier seit Anbeginn in Form des Deutschen Human­genom­projekts (DHGP) und später im Rahmen des Nationalen Genom­forschungs­netzes (NGFN) erfolgreich mit von der Partie.

Auch wenn möglicherweise anfänglich der direkte Erkenntnisgewinn aus den GWAS für die Patienten etwas überschätzt wurde, kann man heutigen Kritikern mit einigen beachtlichen Erfolgen entgegentreten:

Verständnis der Pathogenese von Erkrankungen

Grundsätzlich haben wir in kürzester Zeit enorm viel über die Pathogenese, insbesondere von häufigen Erkrankungen, wie zum Beispiel der koronaren Herzerkrankung (KHK) oder Diabetes gelernt. So konnten für die KHK 56 chromosomale Regionen mit dem Erkrankungs­risiko assoziiert werden. Heute wissen wir, dass die KHK in den allermeisten Fällen durch eine Fehlsteuerung zellulärer Prozesse entsteht, die durch den Lebensstil und eine große Zahl häufiger Risiko­allele, die fast ausnahmslos die Regulation der Genexpression beeinflussen, initiiert wird. Die meisten dieser Risiko­allele deuten auf Signalwege, die bislang nicht in einen Zusammenhang mit der KHK gebracht wurden und ermöglichen somit völlig neue Einsichten in die Pathogenese.

Medikamentenentwicklung

Die Translation der Ergebnisse aus den GWAS in die Medikamenten­entwicklung wird in den vergangenen Jahren zunehmend in der Öffentlichkeit sichtbar. So wurden für die altersbedingte Makula­degeneration häufige Varianten im Gen für den Komplement­faktor H identifiziert, die das Risiko für die Erkrankung bei homozygoten Varianten­trägern versiebenfachen. Dem wird jetzt durch Entwicklung von Medikamenten, die das Komplement­system beeinflussen, Rechnung getragen. Ein weiteres Beispiel für die GWAS-geleitete Arzneimittel­entwicklung ist die Generierung eines IL23R-Antikörpers für eine potentielle Behandlung von Morbus Crohn und anderen Autoimmun­erkrankungen. Auch der Entwicklung von PCSK9-Antikörpern zur LDL-Cholesterin­senkung, die noch in diesem Jahr in der Klinik erwartet werden, liegen genetische Studien zugrunde. Viele weitere, durch GWAS identifizierte, Zielmoleküle werden derzeit experimentell getestet.

Für andere vermeintliche therapeutische Entwicklungen (beispielsweise sPLA2- und CRP-Antikörper) bedeuteten genetische Daten hingegen den Sargnagel. Und dies ist gut so, denn es macht natürlich wenig Sinn, weiter medikamentös Prozesse beeinflussen zu wollen, deren genetische Pendants sich als phänotypisch irrelevant herausgestellt haben.

Risikoprädiktion

Die Anwendung von OMICs-Daten zur Risiko­prädiktion ist in der Onkologie schon recht weit verbreitet. So konnte eine kürzlich veröffentlichte Studie im New England Journal of Medicine für das Glioblastom überzeugend zeigen, dass die Integration von genetischen Daten die Klassifizierung von Tumoren, und damit auch die Prognose, gegenüber der rein histologischen Klassifizierung deutlich verbessert. Die Risiko­prädiktion für sporadischen Brustkrebs, die auf dem Vorhandensein spezifischer Mutationen im BRCA1- und BRCA2-Gen basiert, wird bekannterweise schon länger von einigen Firmen weltweit angeboten und ist weitgehend etabliert.

Neben diesem bereits beachtlichen Erkenntnis­gewinn durch GWAS haben wir Wissenschaftler bei diesen Projekten noch etwas gelernt: vertrauensvolle Kooperation und Datenaustausch über Grenzen hinweg. Innerhalb weniger Jahre haben wir als wissenschaftliche Community Strukturen und Regeln entwickelt, um hochsensible genetische Daten auszutauschen – mit dem Ziel gemeinsam den maximal möglichen Erkenntnis­gewinn aus den Daten zu erzielen. So wurden internationale Forschungs­konsortien gegründet mit teilweise mehreren hundert Wissenschaftlern; Daten wurden ausgetauscht, um Meta-Analysen durchzuführen. Nur diese internationalen Konsortien, wie zum Beispiel CARDIoGRAM, haben den Erfolg der GWAS ermöglicht und werden auch in der Zukunft von enormer Wichtigkeit sein.

Es besteht aber leider die reale Gefahr, dass der Wissenschafts­standort Deutschland auf diesem Gebiet in den kommenden Jahren weit zurückfallen wird. Denn derzeit gibt es kein mit den USA oder Großbritannien vergleichbares Genomprojekt in Deutschland. Im (auch finanziell) groß angelegten Gesundheits-Forschungsprojekt der Nationalen Kohorte (NAKO) sind Genom­sequenzierungen in der Finanzierung nicht inbegriffen, Mittel stehen hierfür nicht zur Verfügung. So sind unsere Wissenschaftler darauf angewiesen, Patienten im Rahmen von Kooperationen von Amerikanern sequenzieren zu lassen, weil die notwendigen Mittel in Deutschland nicht zur Verfügung stehen. Es wird zwar einen Rückfluss der Sequenzdaten nach Deutschland geben, aber die Erstauswertung wird erfahrungsgemäß am Sequenzier­standort geschehen. Die Position der deutschen Genomforschung ist damit sicherlich geschwächt.

Obama hat für die „Präzisionsmedizin“ über die nächsten Jahre 215 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Setzt man die Größe des Landes zu Deutschland in Relation, sollten es hierzulande mindestens 50 Millionen Euro sein. Damit könnten drei wichtige Pfade beschritten werden:

Erkenntnisgewinn

Zukünftige groß angelegte Sequenzierungs­studien werden weitreichende Fragen beantworten können. So ist von enormer Bedeutung, die Rolle genomischer Varianten in der Entstehung seltener Erkrankungen aufzuklären (damit ist auch eine außergewöhnliche familiäre Ansammlung häufiger Phänotypen gemeint). Welche Gen-Gen- oder Gen-Umwelt-Interaktion(en) führen zur Krankheits­entstehung? Wie wirken sich somatische Mutationen auf die Tumorbiologie und -therapie aus?

Immer deutlicher tritt die Frage hervor: Welche genetischen Mechanismen schützen uns vor Krankheit? Die Bedeutung von protektiven Varianten wird immer sichtbarer. So zeigt eine ganz aktuelle Studie im American Journal of Human Genetics, dass ungefähr drei Prozent der Bevölkerung genetische Varianten trägt, die eigentlich zu einer schwer­wiegenden Erkrankung führen sollten, deren Träger aber augenscheinlich gesund sind. Auch die Identifikation von „menschlichen Knock-outs“ – das heißt von Personen, die Mutationen tragen, die zu einem kompletten Verlust der Genfunktion führen, aber keinen auffälligen Phänotyp besitzen – sind von großer Bedeutung um Krankheits­entstehung wie auch Gesund­erhaltung zu verstehen. In diesem Sinne wurde im Jahr 2014 in den USA das „Resilience Project“ gegründet, welches gezielt nach Trägern von protektiven genetischen Varianten sucht.

Management von Big Data

Die Entwicklung von Informations­technologien, die Muster individueller klinischer, biochemischer und OMICs-basierter Daten im system­medizinischen Sinn – und damit in der Krankheits­entstehung – erkennen, sollte voran getrieben werden. „Dr. Google“ muss seine Rolle in Klinik und Praxis finden. Das vom BMBF finanzierte e:Med-Programm, das die Systemmedizin in Deutschland etablieren soll, ist hier sicherlich ein sehr guter Anfang, reicht aber bei weitem nicht aus, um international Schritt zu halten.

Translation zu neuen individuellen Therapiestrategien

Das langfristige Ziel ist eine personalisierte Medizin, unter anderem fußend auf genomischer Information. Paradebeispiel für die „Präzisions­medizin“ ist Ivacaftor (Handelsname: Kalydeco). Ivacaftor wird seit 2012 erfolgreich ausschließlich bei denjenigen Patienten mit Cystischer Fibrose (CF) angewendet, bei denen wegen der Mutation G551D im CFTR-Kanal an Position 551 Asparaginsäure anstelle von Glycin sitzt; das sind vier bis fünf Prozent aller CF-Patienten. Für andere der über 1.500 bekannten Mutationen des CFTR-Kanals, insbesondere für die häufigste Mutation F508del, konnte in klinischen Studien keine Wirksamkeit von Ivacaftor nachgewiesen werden. Ivacaftor ist somit das erste Medikament, das tatsächlich gezielt eine individuelle von mehreren Krankheits­ursachen behandelt – und nicht einfach nur deren Symptome.

Im Rahmen des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (DZHK e.V.) wird derzeit damit begonnen, einen Referenz­datensatz für Deutschland basierend auf Gesamt­genom­daten von 1.000 gesunden Probanden aus fünf Populations-basierten Studien quer durch Deutschland, zusammenzustellen (DZHK OMICS Resource).

Unsere Hoffnung ist, dass dieser Datensatz zumindest eine Art Kristallisations­punkt für weitere, so dringend in Deutschland benötigte Datensätze wird. Dennoch sieht es momentan klar danach aus, dass Deutschland trotz dieser Bemühung die bisher recht prominente Position in der Genomforschung wohl abgeben wird.

 



Letzte Änderungen: 18.07.2023