Editorial

Alzheimer-Forschung in der Zwangsjacke

(24.10.2023) Lecanemab wird als Durchbruch in der Therapie der Alzheimer-Demenz gefeiert. Christian Behl von der Universitätsmedizin Mainz widerspricht.
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Laut Amyloid-Kaskaden-Hypothese stehen im Gehirn abgelagerte, fibrilläre Protein­aggregate am Anfang der Alzheimer-Pathologie. Solche Amyloid-Plaques gehören zu den charakteristischen Merkmalen der Erkrankung – nicht zuletzt infolge der hervorragenden Datenlage dazu. Dennoch übersieht die Hypothese irgendetwas?
Christian Behl: Die Amyloid-Kaskaden-Hypothese war ohne Zweifel eine fantastische Arbeits­hypothese, die auf umfangreichen Daten aus der Molekularbiologie, der Humangenetik und der Pathologie fußt. Auch ich selbst konnte ja einen Minimalbeitrag zu ihrer Entwicklung beitragen. Das Problem ist aber, dass ihre Dominanz das Forschungsfeld in eine Zwangsjacke gesteckt hat. Jede neue Entdeckung wurde immer nur in Richtung Interaktion mit Amyloid abgeklopft – aber nicht unabhängig betrachtet, was sie eigentlich bedeutet.

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Was aber nicht ausschließt, dass neurotoxische Aβ-Peptide nicht doch Alzheimer auslösen, oder?
Behl: Ja, möglicherweise in den wenigen Prozent familiärer Alzheimer-Fälle. Allerdings ergaben jahrelange Infusionen von Aβ-Antikörpern zur Entfernung des Aβ keine klinische Besserung. Das Amyloid war zwar weitestgehend entfernt, das Einsetzen der Erkrankung wurde aber nicht verhindert.

Wenn Amyloide und Demenz nicht korrelieren, warum wird die Amyloid-Hypothese dann noch immer favorisiert, um die Krankheits­entstehung zu erklären?
Behl: Das Wort „Amyloid“ machte Fördergelder verfügbar und es war immer leichter, eine Arbeit zu publizieren, die mit der Amyloid-These konform ging, als eine disruptive, widersprechende Datenlage zu präsentieren. Doch wenn sich eine Arbeits­hypothese als unzureichend herausstellt, eben weil sie nach Jahrzehnten nicht zu einer überzeugenden Therapie geführt hat, sollte man dann die Grundannahmen dieser These nicht doch überdenken?

Die kognitiven Fähigkeiten von Alzheimer-Betroffenen, die regelmäßige Injektionen der IgG1-Antikörper Lecanemab beziehungsweise Donanemab erhielten, verschlechterten sich nach 18 Monaten um 27 beziehungsweise 35 Prozent weniger als bei Placebo-Kontrollen. Zeugt das nicht vom Erfolg der Amyloid-These?
Behl: Diese Denkweise empfinde ich als eines der zentralen Probleme in der Alzheimer-Diskussion. Weil ein Medikament erste minimale klinische Erfolge erbringt, muss die Hypothese dann richtig sein? Damit habe ich mehrere Probleme: Zum einen die Frage, wie diese Antikörper überhaupt ins Gehirn gelangen? Die Blut-Hirn-Schranke verhindert das normalerweise. Dies ist bisher nicht überzeugend geklärt. Aber nehmen wir mal an, es funktioniert: Die Original­publikationen vergleichen die Antikörper nun mit einem Placeboansatz und zeigen eine moderate Abschwächung des kognitiven Verlustes. Doch was bekam die Placebo-Gruppe eigentlich verabreicht? Auf Nachfrage schrieb mir der Erstautor der Donanemab-Studie: Saline. Eine Salzlösung soll also die adäquate Kontrolle für eine Antikörperlösung sein?

Eine Injektionslösung mit einem anderen Protein wäre sicher angemessener …
Behl: Genau. Wollen Sie beispielsweise ein kleines Molekül wie Aspirin klinisch testen, lösen Sie es in Salz und die Placebogruppe bekommt dann eben nur die Salzlösung. Das ist adäquat. Verabreichen Sie aber einen angeblich spezifisch wirkenden Antikörper, wäre nur ein unspezifischer Antikörper die adäquate Kontrolle.

Sie argumentieren also, dass bereits ein unspezifischer Antikörper die Placebokurve verschiebt?
Behl: Das wäre meine Hypothese. Mit jeder Infusion eines Proteins ruft man logischerweise eine aktivierende Immunreaktion hervor. Ich könnte mir vorstellen, dass die moderaten Effekte von Lecanemab und Donanemab und zuvor die des mittlerweile nicht mehr weiter verfolgten Aducanumab allein auf dieser Protein­infusion beruhen. […] Lecanemab hingegen zeigte null Effekte in Patientinnen. Das ist besonders bedeutsam, da Frauen im Vergleich zu Männern ein doppelt so hohes Alzheimer-Risiko haben. Ebenfalls verlangsamt Lecanemab nicht den kognitiven Abbau bei Trägern des ApoE4-Allels, sondern verstärkt ihn sogar. Das ist eine extrem schlechte Nachricht für Alzheimer-Patienten, denn etwa zwei Drittel unter ihnen tragen mindestens ein ApoE4-Gen. Und diese Behandlungen mit ihren Minimaleffekten und deutlichen Nebenwirkungen werden jetzt zu einem Behandlungs­durchbruch bei einer Volkserkrankung aufgeblasen?

Gibt es Menschen, die zwar unter einer Alzheimer-Demenz leiden, aber keine Amyloid-Plaques in ihrem Gehirn aufweisen?
Behl: Die klinische Definition der Erkrankung ist auf Amyloid ausgerichtet und schließt das somit aus. Andersherum haben laut Literatur aber übrigens 30 bis 40 Prozent der älteren Menschen auch ohne kognitive Einschränkungen amyloide Ablagerungen im Gehirn. Dem zugrunde liegt das zentrale Problem in der Demenz-Forschung: Das, was wir als klassisches Alzheimer definieren, ist extrem selten. Meist liegen Mischpathologien vor aus Alzheimer, fronto­temporaler Demenz, Huntington, Parkinson und so weiter. In allen diesen Erkrankungen aggregieren irgendwelche Proteine und lagern sich ab.

Die große Hürde ist also eine unzulängliche Differential­diagnostik?
Behl: Nicht ganz. In die Antikörperstudien werden ja von vornherein nur Personen mit einer ausreichenden Menge bestimmter Amyloide im Gehirn eingeschlossen. Aber: Amyloid könnte ja auch ein generelles biologisches Phänomen sein. Vielleicht ist es ja sogar Ausdruck eines Schutzmechanismus, den unsere Nervenzellen zeitlebens brauchen.

Wie meinen Sie das?
Behl: Alzheimer ist ausschließlich eine humane Erkrankung, die speziell die Gehirnregionen betrifft, die in der Evolution erst spät angelegt wurden, nämlich die sogenannten Assozia­tions­kortizes. Erst diese Bereiche des Neokortex machen uns zu dem, was wir sind, denn sie vermitteln unsere höheren kognitiven Funktionen wie Sprache, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Handlungsplanung. Gleichzeitig sind diese phylogenetisch neuen Gehirnareale aber genau die, die am vulnerabelsten sind gegenüber degenerativen Prozessen. Alzheimer könnte sozusagen der Preis für unsere wesentlich bessere Gehirnausstattung sein.
Die Idee ist nun, dass Amyloide vielleicht Mikroben, fehlgefaltete Proteine oder neurotoxische Moleküle binden und so aus dem Gehirnstoffwechsel entfernen, das Nervensystem also schützen, dann aber irgendwo gelagert werden müssen, weil sie nur schwer zu degradieren sind. Bei manchen Menschen hat das dann langfristig negative Auswirkungen, weil sie eben so viel älter werden. Im 19. Jahrhundert, als die durchschnittliche Lebenserwartung noch unter 60 Jahren lag, war Alzheimer schließlich unbekannt. Der Trugschluss könnte also sein, Amyloid als das ursächliche Problem von Demenz-Erkrankungen zu definieren.

Wenn Amyloide also nur das Endresultat eines Schutzmechanismus sind und sich Alzheimer nicht damit beheben lässt, Amyloide zu unterbinden, wo sehen Sie das meiste Potential in der Medikamenten­entwicklung?
Behl: Demenzen sind individuelle Erkrankungen, die von verschiedenen Prädispo­sitions­faktoren abhängen, die das Erkrankungsrisiko erhöhen. Haben Sie das Glück, über ein Genom ohne Risikogene zu verfügen, ist Ihr Gehirn im Alter vielleicht etwas weniger flexibel, aber es funktioniert ansonsten. Haben Sie hingegen von Geburt an bestimmte Prädispo­sitions­faktoren zum Beispiel im lysosomal-autophagischen Recycling­system Ihrer Nervenzellen, dann lagert Ihr Gehirn eher früher als später Amyloid ab, die ohne Zweifel Mikroglia aktivieren und Entzündungsprozesse in Gang setzen. Vielleicht lassen sich autophagische Wege also therapeutisch unterstützen. Allerdings möchte ich nicht, dass wir jetzt den gleichen Fehler wiederholen wie mit der Amyloid-These. Meiner Ansicht nach gibt es bei Alzheimer kein Allheilmittel! Alle genannten Krankheits­thesen haben ihre Berechtigung, da sie alle nur einen bestimmten Teil des pathologischen Gesamtprozesses betrachten. Man muss ihre Gesamtheit in ein Präventions-, Therapie- und Heilungskonzept integrieren.

Ein Alzheimer-Medikament wird also stets ein Cocktail für unterschiedliche Krankheitsaspekte sein?
Behl: Ja, ich bin überzeugt, dass solche Multi-Drug-Ansätze die Zukunft sind – auch wenn die Pharma­industrie sie wahrscheinlich eher nicht favorisiert.

Das Gespräch führte Henrik Müller

Bild: C. Behl

Dieses hier gekürzte Interview erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 10/2023.


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Letzte Änderungen: 24.10.2023