Editorial

Der Wissenschaftler: Poet und Buchhalter?

(08.03.2024) Wie viel Poesie steckt in der Laborforschung? Und wie viel Buchhaltertum? Oftmals leider wenig von Ersterem, und viel von Letzterem. Ein persönlicher Rückblick.
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Vor etwas über zehn Jahren beschrieb der inzwischen verstorbenen Harvard-Zoologe und nicht ganz unbekannte Altmeister der Soziobiologie Edward O. Wilson den „idealen Wissenschaftler“ in einem NPR-Interview folgendermaßen:

„Der ideale Wissenschaftler denkt wie ein Dichter und arbeitet wie ein Buchhalter.

Es ist der Teil des Dichters, die poetischen Aspekte der Wissenschaft, über die nur selten gesprochen wird. Aber ich war immer der Meinung, dass Wissenschaftler genauso phantasieren und träumen, genauso Metaphern und phantastische Bilder hervorbringen wie jeder Dichter, wie jeder […] in den kreativen Künsten.

Der Unterschied besteht darin, dass der Wissenschaftler an einem bestimmten Punkt seine Träume mit der realen Welt in Verbindung bringen muss – und dann beginnt die Zeit des Buchhalters. Leider haben zu viele angehende Wissenschaftler und Studenten, die sich für die Wissenschaft interessieren, nur die Zeit des Buchhalters im Blick, die manchmal zu Monaten oder Jahren harter Arbeit führt – und nicht die kreative Zeit.“

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Optimierien, Optimieren, Optimieren, ...

Meine eigene Doktorarbeit ist nunmehr über dreißig Jahre her. Die „poetische Phase“ ließ sich in dieser Zeit auf ein paar wenige Tage runterbrechen. Die Alge in meinem Röhrchen konnte zum Licht schwimmen, musste also einen Photorezeptor haben – und der saß in einer ganz bestimmten Membran. Ein Assay für den Photorezeptor war schnell etabliert, also stand damals logischerweise die Anreicherung und Reinigung des Photorezeptor-Proteins an.

Da in den frühen Neunzigern jedoch vieles noch nicht ging, was heute geht, folgten drei Jahre reinen „Buchhaltertums“: Optimieren der Aufzucht, Optimieren von Ernte und Präparation, Optimieren der Solubilisierungs-Bedingungen, Optimieren des Stabilisierungspuffers, Optimieren von Anreicherungssäule Nummer eins, Optimieren der Affinitätssäule, … Ohne auf die vielen Details einzugehen: Das war damals alles nicht trivial und dauerte eben die drei Jahre – bis endlich eine ausreichend fette Bande des Membranproteins in einer ausreichend sauberen Gelspur zu sehen war.

Poetisches Mutanten-Screening?

Von „Poesie“ hatte ich in dieser Zeit nur wenig gespürt, und das „Buchhalten“ wurde schnell frustrierend langweilig. Also wechselte ich für den Postdok das Projekt: Ich entwickelte einen Assay, um aus mutagenisierten Reis-Linien welche herauszufischen, die Defekte in einer bestimmten physiologischen Reaktion zeigten. Kann man das „poetische Phase“ nennen? Und dann folgten Aussähen, Screenen, Aussähen, Screenen, Aussähen, … Monatelang.

Ganz am Ende hatte ich drei offensichtlich interessante Mutanten gefunden. Doch mit denen mussten andere weiterarbeiten. Ich hatte keinen Folgeantrag mehr gestellt – und wandte mich einer anderen, tatsächlich „poetischeren“ Form der Beschäftigung mit Wissenschaft zu. Der Alltag der praktischen Laborforschung war mir persönlich dann tatsächlich viel zu „buchhalterisch“.

Ralf Neumann

(Foto: Generiert mit Adobe Firefly)

 

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Letzte Änderungen: 07.03.2024