Editorial

Sanfter Pinselstrich oder Todeskuss - Micro-kiss

Julia Hansen


(24.04.2024) Um Substanzen punktgenau auf der Zelloberfläche deponieren zu können, benötigt man nicht viel mehr als zwei geschickt geformte Mikropipetten.

Kleiner, genauer, besser – während Forschende vor einigen Jahrzehnten noch kaum eine Chance hatten, Prozesse in einzelnen Zellen im Detail zu verfolgen, gehören konfokale Mikroskopie, In-situ-Massenspektrometrie sowie Elektronenmikroskopie heute zu den Standardmethoden biologischer Labore. Auch der Transport einzelner Proteine innerhalb einer Zelle lässt sich mit vielen Verfahren analysieren. Doch wie können Biowissenschaftlerinnen und Biowissenschaftler in einer Einzelzelle untersuchen, wie ein Signal, das zum Beispiel von einem Pathogen, Liganden oder Wirkstoff herrührt, verarbeitet und weitergeleitet wird? Zwar existieren ausgefeilte Technologien, um einzelne Zellen sowie Proteine mikroskopisch zu beobachten, doch die Optionen zur Auslösung eines Signals sind begrenzt. Für Letzteres benötigt man eine möglichst einfache Methode, mit der man definierte Substanzmengen in die unmittelbare Nähe einer Zelle befördern oder sogar direkt auf der Zelle ablegen kann.

µkiss-Technik
Mit der von Vahid Sandoghdars Gruppe am Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin in Erlangen ausgetüftelten µkiss-Technik können Forschende winzige mit Reagenzien, Farbstoffen oder anderen Nanopartikeln versehene Tropfen auf ausgewählte Regionen der Zelloberfäche absetzen und dort ganz ähnlich wie mit einem Pinselstrich verteilen. Illustr.: Richard Taylor

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Zu aufwendig und ungenau

Bisher verwendeten Forschende hierfür beispielsweise die Rasterkraftmikroskopie. Bei dieser wird Material mit einer Nanometer-feinen Nadel auf der Zelloberfläche deponiert oder von ihr entfernt. Andere Ansätze nutzen elektromagnetische Strahlung oder Druck. Via Elektroporation oder Mikroinjektion können auch Substanzen ins Zellinnere übertragen werden. Diese invasiven Techniken sind aber aufwendig und können die Zelle beschädigen. Auch ihre Präzision lässt meist zu wünschen übrig – die zugegebenen Moleküle diffundieren oft unkontrolliert in der Zelle und wirken nicht mehr punktgenau.

Die von Vahid Sandoghdars Team am Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin in Erlangen erfundene Micro-Kiss (µkiss)-Technik umgeht diese Schwierigkeiten (Nat. Methods 21: 512-20). Die Forschenden nutzen für µkiss zwei Mikropipetten mit hauchdünnen Öffnungen. Eine dient als Injektionspipette zum Einleiten von Substanzen, die andere als Vakuumpipette zum Absaugen. Durch die hydrodynamischen Kräfte der entstehenden Strömung formt sich eine Flüssigkeitshülle, mit der sich Moleküle präzise und in exakt definierten Mengen in die unmittelbare Nähe einer Zelle schleusen lassen. „Das ist wie ein Kuss, harmlos und sanft zu den Zellen“, erklärt Sandoghdars Doktorandin Cornelia Holler.

Die Idee für µkiss entstand aus einem spontanen Vorschlag, der eine andere Methode der Gruppe verbessern sollte. Eigentlich wollten Cornelia Holler und ihr Kollege Richard W. Taylor die Proteinverfolgung mit der Interferometrischen Streumikroskopie (iSCAT) optimieren (Nat. Photonics 13: 480-87). Dazu mussten sie einzelne Zellrezeptoren mit Goldpartikeln markieren. Die Zeit, bis die Partikel die Zellen nach der Zugabe ins Medium erreicht hatten, war aber viel zu lang. Mit einer einfachen Injektionspipette konnten die zwei das Verfahren zwar beschleunigen. Die Injektion markierte aber beinahe alle Zellen in der näheren Umgebung der anvisierten Zelle und löste eine Alles-oder-Nichts-Reaktion aus. An einem Freitagabend hatten Holler und Taylor den Einfall, zwei Pipetten zu kombinieren: eine zur Injektion, die andere zum Absaugen. Richteten sie die Pipetten entsprechend aus, konnten sie die Zugabe durch hydrodynamische Strömungsbegrenzung so einstellen, dass die Substanzen ohne Streuung ins Zellmedium transportiert wurden.

„Die Pipetten müssen sich nahezu treffen und im richtigen Winkel zueinander positioniert werden“, erklärt Holler. „Das zu optimieren, war ein langwieriger Prozess.“ Das Herumfriemeln hat sich jedoch gelohnt – mit der perfektionierten Methode konnten die Forschenden einzelne Zellen gezielt manipulieren. Die nötigen Kapillaren mit einem inneren Durchmesser von ein bis zwei Mikrometern und einer Spitzenlänge von etwa sechs Millimetern fertigte das Team, zu dem auch Alexandra Schambony und Leonhard Möckl gehörten, mit einem speziellen Mikropipetten-Zieher selbst. Für Kapillaren mit sechs Mikrometern Innendurchmesser verwendeten die Forschenden Standard-Mikropipetten. Anschließend bogen sie die hauchdünn ausgezogenen Kapillaren mithilfe eines CO2-Lasers am Übergang zum dickeren Teil der Mikropipette in einem Winkel von 25 Grad, um sie unter dem Objektiv eines Konfokalmikroskops montieren zu können.

Tropfen zwischen Hokey-Sticks

Ähnliche, kommerziell erhältliche Systeme hätten nicht zu dem Konfokalmikroskop der Gruppe mit Wasserimmersions-Objektiv gepasst. „Mit zwei individuellen Pipetten ging das deutlich leichter“, erläutert Holler. Die wie Hockeyschläger an den Enden abgeknickten Mikropipetten richtete das Team in einem Winkel von 35 Grad zueinander aus. Alle Parameter sind perfekt darauf abgestimmt, das aus der Injektions-Kapillare austretende Tröpfchen zu stabilisieren. „Die zwei Mikropipetten werden jeweils einzeln von einem Mikromanipulator gesteuert, der präzise ausgerichtet sein muss. Sonst können die zugegebenen Substanzen ins umliegende Medium diffundieren. Vom Beladen der Mikropipette bis zur Ausrichtung und dem Einstellen des Fokus vergehen etwa drei bis vier Minuten“, beschreibt Holler den Versuchsablauf.

Und wofür kann man die µkiss-Technik einsetzen? Um zu zeigen, wie präzise das Verfahren ist, deponierte die Gruppe fluoreszierende Partikel so auf einem Objektträger, dass sie die Initialen „MPZPM“ des Max-Planck-Zentrums für Physik und Medizin formten.

Danach ging es an die Arbeit mit Zellen. Das Team verwendete µkiss zunächst für das sogenannte Fluorescence Recovery After Photobleaching (FRAP), mit dem man die Diffusionsgeschwindigkeiten von individuellen Teilchen in Membranen misst. Bei FRAP wird eine Fluoreszenz-gelabelte Membran in ausgewählten Arealen mit einem Laserstrahl gebleicht. Anschließend beobachtet man, wie lange es dauert, bis das Fluoreszenzsignal wieder auftaucht, weil fluoreszierende Moleküle zur gebleichten Stelle der Membran diffundieren. Das Erlanger Team untersuchte mit FRAP die Diffusion des Membranlipids GM1 in einer synthetischen Membran. Dazu labelte es GM1 mithilfe der µkiss-Technik mit einem Fluoreszenzfarbstoff.

Manipuliertes Zytoskelett

In einem weiteren Experiment setzten die Forschenden mit µkiss die antagonistische Substanz Demecolcin an der Zellmembran frei, die das feine Netzwerk aus Mikrotubili in Zellen aufbricht. Stoppten sie die Zugabe von Demecolcin, bildete sich das Zytoskelett nach wenigen Minuten wieder neu.

Danach analysierte die Gruppe mit der Methode den zeitkritischen Schritt bei der Rezeptorbindung und die darauffolgende Signalaktivierung. Als Beispiel wählte sie die Interaktion von Clathrin-Molekülen mit Transferrin-Rezeptoren. Holler und Co. trugen das markierte Transferrin mit µkiss so präzise auf, dass sie das Experiment in verschiedenen Zielregionen der gleichen Zelle und sogar mehrfach in der identischen Region wiederholen konnten – durch die kurzen Zeitfenster wurden die Rezeptoren nicht gesättigt.

In einem multizellulären Modell beobachteten die Forschenden mit der Technik schließlich den Effekt des Toxins Latrunculin A auf Aktinfilamente. „Die anvisierte Zelle zog sich wie ein Spinnennetz zusammen und man konnte sehen, wie ein gewisser Zug auf die Nachbarzellen wirkte. Die umliegenden Zellen schienen weiterhin gesund und lebensfähig zu bleiben – im Gegensatz zum Target“, schildert Holler die Auswirkungen des „Todeskusses“ auf die Zelle.

Noch etwas Luft nach oben

µkiss-Experimente sind einfach umzusetzen und kostengünstig. Zudem ist die Methode mit der konventionellen Probenvorbereitung an einer offenen Zellkulturschale kompatibel und sollte in den meisten biologischen Laboren einfach zu etablieren sein. Dennoch ist noch Raum für Verbesserungen: „Der nächste Schritt ist natürlich, dass man beide Kanäle in einer Pipette verankert, um den Ausrichtungsprozess zu vereinfachen“, verrät Holler. Der erste Ansatz in diese Richtung ist die Verknüpfung der beiden Mikromanipulatoren, sodass beide Pipetten nach der initialen Ausrichtung gemeinsam steuerbar sind. Längerfristig will die Gruppe versuchen, die beiden Kapillaren im richtigen Winkel aneinander zu fixieren.

Da die Methode sowohl innerhalb als auch außerhalb des Instituts auf reges Interesse stieß, plant das Team sie zu kommerzialisieren. Holler und Co. wollen Prototypen entwickeln, die Kollaborationspartner testen sollen, um möglichst viele Anwendungen abzudecken. Die Erlanger haben schon eine Liste mit interessierten Forschenden zusammengetragen, die µkiss einsetzen möchten, sind aber jederzeit auch für weitere Anfragen offen. „Wir profitieren davon, wenn Leute unser System für verschiedenste Anwendungen nutzen und neuartige Forschung damit betreiben“, betont Holler und führt weiter aus: „Gerade in der quantitativen Virologie könnte man die Entwicklung noch vorantreiben, um beispielsweise nachzuverfolgen, wie ein Viruspartikel eine Zelle infiziert und wie sich die Infektion von dort aus weiter in umliegende Zellen ausbreitet.“

Bisher ist µkiss noch nicht für S2-Labore geeignet, weshalb die Gruppe das Verfahren noch nicht mit infektiösen Viren getestet hat. Auch medizinische Anwendungen wären denkbar, meint Holler: „Eine Möglichkeit wäre, Medikamente lokal auf einzelne Zellen zu geben, was beispielsweise bei der Behandlung komplexer Krankheiten interessant sein könnte.“

µkiss eröffnet neue Wege, um kleine Moleküle in der unmittelbaren Umgebung einzelner lebender Zellen freizusetzen. Ein bisschen erinnert das Verfahren an das Malen eines Bildes, die Gruppe bezeichnet die Mikropipetten daher auch als Pinsel: „Man kann sich die Technik so vorstellen, dass die Zelle eine Leinwand ist, auf die man mit einem Pinsel Farbe aufbringt“, veranschaulicht Holler.