Editorial

Die ewige Assistentin

Ralf Neumann


Rätsel

(09.11.2022) Frauen hatten einen großen Anteil an der Etablierung der Genetik als Forschungsdisziplin in Deutschland. Unsere Gesuchte gehörte dazu.

Vor fünf Jahren schrieb eine Wissenschaftshistorikerin folgende Zeilen über die Anfangsjahre der Genetik in Deutschland: „Wie sieht es mit den Frauen aus innerhalb der ersten beiden Generationen der Genetik? In der Zeit, in der sie ihre ersten Geschichten schrieb, herrschte generell die Einstellung vor, dass Frauen im wissenschaftlichen Betrieb bestenfalls eine unterstützende Rolle spielten. Dementsprechend wurden Frauen in ihren Heldenerzählungen nur selten – und wenn, dann nur flüchtig – erwähnt.“

Umso erstaunlicher wirkt vor diesem Hintergrund das vorweggenommene Fazit am Beginn ihrer Abhandlung:

„In dieser Zeit entwickelte sich die Genetik von einem neuen und verletzlichen Forschungsgebiet zu einer etablierten und akzeptierten Disziplin in Deutschland. Für diese Entwicklung waren vor allem Wissenschaftlerinnen verantwortlich.“

Wie das?

Editorial

1914 wurde als Teil einer spezialisierten Hochschule das erste deutsche Institut gegründet, das sich systematisch der genetischen Forschung widmete. Als wissenschaftliche Assistenten für das neue Institut rekrutierte dessen Gründungsdirektor in den ersten Jahren einen Mann – und fünf Frauen. Bis auf eine, die früh verstarb, blieben die übrigen vier Assistentinnen zwischen 17 und 25 Jahre an dem Pionier-Insitut – beziehungsweise ab 1923 an dessen Nachfolge-Institut, das schnell weltweiten Rang und Namen erlangen sollte. Unsere Gesuchte brachte es auf 21 Jahre.

Dazu erklärt die erwähnte Historikerin:

„In den traditionellen Disziplinen blieben für Frauen nur ‚unattraktive‘ Stellen. [...] Eine Möglichkeit, überhaupt eine akademische Stelle zu finden, bestand daher in der Suche nach einer Arbeit in einem neuen Gebiet. Neu gegründete Felder hatten keine etablierten Positionen zu bieten, und ihr Prestige war oft geringer als das etablierter Disziplinen – weshalb sie von ambitionierteren Wissenschaftlern häufig gemieden wurden. Im Gegenzug jedoch profitierten diese neuen Disziplinen oftmals von dem ausgewiesenen Eifer der neuen Akademikerinnen, ihre Beiträge zu leisten.“

Dennoch wurden die Pionier-Arbeiten, die dem Eifer der vier Assistentinnen entsprangen, kaum honoriert. So lehnte etwa zu Beginn der Nazi-Zeit, als es bereits um die Nachfolge des verstorbenen Gründungsdirektors ging, einer der Kandidaten mit der herablassenden Bemerkung ab, er wolle doch keinem „Damenstift“ vorstehen.

Trotz ihrer Forschungserfolge mussten die vier Assistentinnen folglich hart und lange um Anerkennung und berufliches Weiterkommen kämpfen. Zudem wurden sie über die meiste Zeit – gemessen an vergleichbaren Positionen von Männern in anderen Instituten – deutlich unterbezahlt.

Wenn überhaupt! Über unsere Gesuchte etwa offenbart die Historikerin in ihrem Artikel, dass sie in ihrem Forschungsprogramm die meiste Zeit als „freiwillige Assistentin“ komplett ohne Förderung arbeitete. Eine Ausbeutung, die nur funktionierte, da sie aus einer reichen Düsseldorfer Industriellenfamilie stammte und daher finanziell weitgehend unabhängig war.

Bereits zuvor war es ihr daher auch möglich gewesen, nach dem Abschluss an einer Gartenbauschule mit einer Freundin für neun Monate auf botanische Studienreise zu gehen – mit Stationen in Ägypten, Ceylon und Java sowie Japan und Sibirien. Erst danach studierte sie in Zürich, Tübingen und Heidelberg – und promovierte schließlich 34-jährig in Jena mit einer Arbeit über den Gasaustausch von Pflanzenblättern.

Dann kam der Erste Weltkrieg, in dem unsere Gesuchte zunächst beim Roten Kreuz und im sozialen Hilfsdienst tätig war. Erst 1917 begann sie schließlich ihre Arbeiten an dem erwähnten genetischen Pionier-Institut. Ihr Projekt dort konzentrierte sich auf die Auswirkungen bestimmter Bestrahlungen auf Zellen und Gewebe einer Pflanze mit tierischem Namen. Damit war sie eine der Ersten überhaupt, die auf diese Weise Gewebeentartungen erzeugte und analysierte. Bereits 1921 berichtete sie auf der Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft erstmals über die tiefgreifenden Strahleneffekte, die sie mit ihren Pflanzen beobachtet hatte. Als 1927 ein später Nobelpreis-gekrönter Fliegenforscher in ihrem Institut erstmals über ganz analoge Experimente mit seinen Sechsbeinern berichtete, hatte sie selbst bereits drei größere Aufsätze veröffentlicht. Dummerweise aber erwiesen sich ihre Pflanzen in diesem Zusammenhang als weitaus schwieriger zu erforschen und zu analysieren als die Fliegentierchen – sodass sie mit den Schlussfolgerungen, wie die entartenden Effekte zustandekamen, zunächst nicht ganz richtig lag.

1940 wechselte sie – weiterhin als Assistentin – an ein großes Biologie-Institut, mit dem sie 1948 nach Tübingen weiterzog. Sechs Jahre darauf starb sie dort, die begonnene Niederschrift einer Geschichte des Instituts konnte sie nicht mehr beenden. „Der Tod hat ihr die Feder aus der Hand genommen,“ schloss eine der drei anderen „Pionier-Assistentinnen“ der deutschen Genetik ihren Nachruf auf die ehemalige Weggefährtin.

Wie heißt sie?






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„Die ewige Assistentin“ ist Emmy Stein, die 1921 anhand ihrer Löwenmäulchen-Experimente als Este berichtete, dass ionisierende Strahlen eine mutationsauslösende Wirkung auf Organismen haben.