Schafe mit Bewegungssensoren
Ihr Untersuchungsgebiet liegt in Mittelitalien zwischen Florenz und Rom rund um die Stadt Norcia – eine Region, die ab August 2016 immer wieder von schweren Beben heimgesucht wurde. Die Verhaltensforscher – spezialisiert darauf, Wanderungsbewegungen von Tieren zu erfassen – bestückten Kühe, Schafe und deren Hütehunde auf einem Bauernhof in der Nähe des Epizentrums des Norcia-Bebens mit Bewegungssensoren und zeichneten im Zeitraum von Oktober 2016 bis April 2017 ihre Aktivität auf. Bis März befanden sich die Tiere im Stall, anschließend auf der Weide. Nachdem die Wissenschaftler die normalen Aktivitätszyklen der Tiere erfasst hatten, konnten sie bestimmen, wann diese außergewöhnlich aktiv oder auch ruhiger als sonst waren.
Um den Zusammenhang mit den Erdstößen zu erfassen, analysierten die Wissenschaftler die seismische Aktivität im Versuchszeitraum und überprüften für jedes Beben, ob in einem Zeitraum von 20 Stunden zuvor ungewöhnliches tierisches Verhalten aufgezeichnet worden war. Tatsächlich konnten Wikelski und Kollegen dies nachweisen, insbesondere in der Zeit, in der sich die Tiere im Stall befanden (Ethology, 126(9): 931-41).
Anhand ihrer Daten schätzten die Forscher die Vorwarnzeit ab, also den Zeitraum, der zwischen dem auffälligen tierischen Verhalten und dem Erdbeben vergangen war. Die Tatsache, dass diese Vorwarnzeit mit der Entfernung zum Erdbeben zunahm, interpretierten sie als Hinweis, dass die Tiere ein Signal wahrnehmen müssten, das sich langsam ausbreitet – möglicherweise ionisierte Luftteilchen, deren Entstehung durch den Druck auf das Gestein bei einem Beben diskutiert wird. Wikelski et al. weisen darauf hin, dass aufgrund ihrer Beobachtungen noch keine Erdbebenwarnung möglich ist, vermuten aber, dass es mithilfe eines Systems von mindestens drei Messstationen durch Triangulation möglich sein müsste, das Epizentrum eines nahenden Erdbebens abschätzen zu können.
Exzellent, aber ...
Die Publikation ist in der Fachzeitschrift Ethology erschienen. Dort wurde nun ein Kommentar abgedruckt, für den Gert Zöller, Professor am Institut für Mathematik der Universität Potsdam, als korrespondierender Autor verantwortlich zeichnet, und der gemeinsam mit Kollegen des Geoforschungszentrums Potsdam erarbeitet wurde. Zöller et al. bewerten die Daten von Wikelski et al. als exzellent, sind aber der Meinung, dass daraus die falschen Schlüsse gezogen worden seien.
Insbesondere bemängeln die Mathematiker, dass bei der Analyse nur Ereignisse einbezogen wurden, bei denen auf verändertes tierisches Verhalten tatsächlich ein Erdbeben folgte. Ereignisse, bei denen das nicht der Fall war, oder Erdbeben, denen kein verändertes tierisches Verhalten vorausging, wurden dagegen außer Acht gelassen.
Die Potsdamer Wissenschaftler haben dies nun nachgeholt und zur statistischen Auswertung sogenannte Molchan-Diagramme erstellt. „Mit Molchan-Diagrammen kann man auf einfache Weise die Güte von Vorhersagen beurteilen, d. h. gibt es einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen einem Vorläuferphänomen (hier: ungewöhnliches Tierverhalten) und dem Phänomen, das man vorhersagen möchte (hier: große Erdbeben). Dazu muss man drei Aspekte beleuchten: Erstens: Wie viele Erdbeben wurden ‚vorhergesagt‘? (Erdbeben mit Vorläufer); zweitens, wie viele Fehlalarme gab es (Vorläufer ohne Erdbeben)? und drittens, wie viele Erdbeben wurden nicht erkannt (Erdbeben ohne Vorläufer)?“, erklärt Zöller. „Weiter muss man festlegen, wie lang ein Alarm (Beobachtung auffälliges Tierverhalten) aktiv bleibt. Wählt man diese Zeit sehr groß, wird man jedes Erdbeben ‚vorhersagen‘, wählt man sie sehr klein, wird man keins vorhersagen. In Molchan-Diagrammen werden diese Aspekte zusammengefasst: Links unten hat man kurze Alarmzeiten und wenig verpasste Erdbeben, d. h. eine hohe Vorhersagequalität. In der Nähe der Diagonalen hat man ‚Zufallsvorhersagen‘, die man – statistisch gesehen – einfach durch beliebiges Raten erhalten würde.“
Zur Veranschaulichung haben die Mathematiker solche Zufallsvorhersagen in ihr Diagramm aufgenommen. Die Daten von Wikelski et al. liegen innerhalb der dadurch erzeugten Punktwolke, woraus die Mathematiker den Schluss ziehen, dass die Signale der Tiere keinerlei Aussagekraft aufweisen. Zöller und Kollegen bemängeln außerdem, dass die Verhaltensforscher zwar viele Datenpunkte gemessen haben, die den Zusammenhang zwischen Vorwarnzeit und Abstand vom Epizentrum belegen sollen, diese aber sehr eng beieinander liegen, so dass man effektiv nur wenige Datenpunkte hat. Der Grund dafür ist einfach: Erdbeben treten in der Regel gehäuft auf (in sogenannten „Clustern“), weil ein Erdstoß weitere nach sich zieht. Auch dieser behauptete Zusammenhang löse sich deshalb im statistischen Rauschen auf.
Studienziel missverstanden?
Als Antwort auf diese Kritik haben Martin Wikelski und Mitarbeiter ebenfalls einen Kommentar geschrieben, der gleichzeitig mit dem Kommentar von Zöller et al. in Ethology hätte abgedruckt werden sollen. Dass die Kritik einseitig vor-veröffentlicht wurde, habe ihn doch etwas enttäuscht, so Wikelski.
In manchen Aspekten geben die Verhaltensforscher den Mathematikern Recht, doch in erster Linie sind sie der Meinung, dass das Ziel ihrer Arbeit missverstanden wurde. Denn dabei wäre es nie darum gegangen, Erdbeben vorherzusagen, wofür die Datenlage tatsächlich noch nicht ausreichend sei. So gäbe es viele Gründe, warum die untersuchten Tiere auffälliges Verhalten zeigten, und auch Beben und Nachbeben hätten in der Analyse nicht getrennt werden können, was ein starkes Hintergrundrauschen erzeugen würde.
Das eigentliche Ziel der Studie, so Wikelski et al., sei es gewesen, herauszufinden, ob es überhaupt Anzeichen dafür gäbe, dass Tiere Erdbeben im Vorfeld spüren könnten und darauf reagieren würden. „Dies wurde durch die Studie in der Tat bestätigt.“ Die lange Vorwarnzeit von 20 Stunden wäre gewählt worden, um diese Anzeichen aufzuspüren – für eine tatsächliche Vorhersage müsste man sie dagegen anders auswählen. Die Kritik an der niedrigen Signifikanz für den Zusammenhang zwischen Vorwarnzeit und Abstand vom Epizentrum teilten die Verhaltensforscher. Hier müssten weitere Studien und zusätzliche Daten, unter Einbezug des geclusterten Auftretens von Erdbeben, die Analysen verbessern.
Hoffnung auf gemeinsame Studien
Zöller et al. legen Wert darauf, dass ihre Arbeit keine kausalen Zusammenhänge zwischen Tierverhalten und Erdbeben kommentiert, sondern sich vielmehr dem statistischen Zusammenhang widmet. „In der Arbeit von Wikelski et al. sind einige Analysen unvollständig, irreführend und spekulativ, d. h. es werden Vermutungen und Hoffnungen artikuliert, ohne Belege dafür zu liefern“, so Erstautor Zöller. „Unser Resultat lautet, dass es basierend auf konsequenter Anwendung mathematischer Statistik in den vorliegenden Daten keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Tierverhalten und Erdbeben gibt.“
Die Verhaltensforscher kontern am Ende ihres (noch unveröffentlichten) Kommentars, dass zuerst Daten vorliegen müssen, die gut genug für eine Vorhersage von Erdbeben sind. Diese Daten könnten dann von einer Auswertung mit Hilfe von Molchan-Diagrammen profitieren, wie von Zöller et al. gefordert. „Wir schlagen vor, dass gemeinsame Studien von Erdbebenforschern und Verhaltensforschern uns wirklich weiterbringen können, wenn sie die biologischen Methoden verwenden, die wir in unserer Publikation vorgestellt haben, und diese mit den analytischen Werkzeugen kombinieren, die Zöller et. al vorstellen“, fasst Wikelski zusammen. „Gemeinsam können wir unser Verständnis davon verbessern, ob und wie kollektives Tierverhalten helfen könnte, Erdbeben vorherzusagen.“ Gemessen an den wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die schwere Erdbeben mit sich bringen, wäre diese Forschungskooperation wohl auf jeden Fall die Mühe wert.
Larissa Tetsch
Bild: Pixabay/Peggy_Marco