Systemmedizin – Buzzword oder neue Ära?
(19.11.2019) Richtige und falsche Medizin-Konzepte, Repurposing und einiges mehr – darüber sprachen wir mit Pharmakologe Harald H.H.W. Schmidt.
Laborjournal: Was ist Systemmedizin?
Harald Schmidt: In der Medizin sind wir zu sehr und vor allem falsch spezialisiert. Für jedes Organ gibt es eine eigene Klinik, einen eigenen Facharzt. Wir meinen, wir könnten Krankheiten ausreichend verstehen und therapieren, wenn wir ganz genau auf das jeweils betroffene Organ schauen. Aber im Grunde verstehen wir von so gut wie keiner Erkrankung die zugrunde liegenden Mechanismen – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie mendelisch vererbte, monogenetische Erkrankungen oder Infektionskrankheiten.
Wenn es so einfach wäre, die molekularen Mechanismen von Krankheiten zu identifizieren, wäre das bestimmt schon passiert. Was wollen Sie anders machen?
Schmidt: Wir schauen uns nicht einzelne Erkrankungen oder Symptome, sondern das Netzwerk aller humanen Erkrankungen an.
Wie macht man das?
Schmidt: Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann beispielsweise unter sämtlichen Risiko-Genen, die jemals bei einer bestimmten Erkrankung identifiziert wurden, jene Gene finden, die auch bei anderen Erkrankungen als Risiko-Gene definiert wurden. Gemeinsame Risiko-Gene beschreiben dann einen molekularen Zusammenhang zwischen diesen Erkrankungen, oder – wie ich sagen würde – eine Verbindung dieser Symptome. Wenn ich dies für alle Risiko-Gene und alle Erkrankungen mache, erhalte ich ein Netzwerk. In diesem Netzwerk sind einige Erkrankungen stärker miteinander verbunden als andere, weil sie – in dem Beispiel – viele gemeinsame Risiko-Gene haben. Solche Gruppen nennen wir Cluster. Perfekt ist so ein genetisches Netzwerk natürlich noch nicht. Schließlich sind wir mehr als unsere Gene.
Welche Auswirkung hat die Kenntnis gemeinsamer Signalwege auf eine Therapie?
Schmidt: Wir haben zunächst in einem Schlaganfallmodel die Wirkung von zwei zugelassenen Arzneimitteln getestet, die bisher bei ganz anderen Erkrankungen innerhalb unseres Clusters eingesetzt wurden. Schlaganfall deshalb, weil es hierfür bislang keine neuroprotektive Therapie gibt. Dieses Vorgehen nennt man Repurposing und hat den Vorteil, dass man im positiven Fall ohne lange Entwicklung direkt in eine klinische Studie gehen kann. In der Tat waren die Substanzen auch in verschiedenen Tiermodellen und Spezies wirksam, sodass wir für 2020 eine klinische Studie vorbereiten.
Repurposing scheint gerade hip zu sein. Es gibt sogar schon ein eigenes Journal zu diesem Thema.
Schmidt: Stimmt. Die Systemmedizin sagt ja, dass ein Arzneimittel, welches bei einer Erkrankung eines mechanistisch definierten Clusters von Erkrankungen/Symptomen wirkt, auch bei den anderen Mitgliedern des Clusters funktionieren sollte. Ob das generell stimmt, wird die Zukunft zeigen. Bisher ist dies der Fall. Tatsächlich gibt es so viele Arzneimittel auf dem Markt, dass wir wohl für die meisten Signalwege schon ein passendes Mittel haben...
… Ohne es zu wissen.
Schmidt: Genau. Hier ist die Diagnostik das Nadelöhr und wirklich entscheidend. Wir brauchen hier eine völlig neue Art von Diagnostik wie auch die neue molekulare Pathologie. Bisher schauen Ärzte ja vor allem den klinischen Phänotyp an. Wenn man aber den fehlgeleiteten Signalweg, der zur Erkrankung führt, wieder auf den rechten Weg führen will, muss man die Signalstörung in dem jeweiligen Patienten präzise nachweisen – also Phänotyp und Mechanismus zur Deckung bringen. Nur dann werden wir präziser in unserer Diagnostik und Therapie. Wir gehen davon aus, dass bei jeder gegenwärtigen Erkrankungsbezeichnung nicht alle Patienten eine Störung in demselben Signalweg haben, sondern in verschiedenen, die eben nur zu ähnlichen Symptomen führen. Deshalb muss man die Störung im Signalweg vor der Therapie unbedingt nachweisen.
Wenn man die Systemmedizin zu Ende denkt, wird klar, dass wir die Medizin komplett umstrukturieren müssen.
Schmidt: Wenn wir das Diseasome noch an einigen anderen Stellen, also als Konzept, klinisch bewiesen haben, ist die Antwort definitiv: Ja! Das käme dann ohne Übertreibung einer Revolution in der Medizin und der biomedizinischen Forschung gleich. Das Organ-Spezialistentum ist unseres Erachtens völlig antiquiert. Hier wird mit Technologien des 21. Jahrhunderts und Krankheitsdefinitionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert gearbeitet. Wir machen Genetik und Multiomics im Rahmen von zweihundert Jahre alten Krankheitsdefinitionen wie zum Beispiel Alzheimer – einer Erkrankung, die nach dem Namen eines Arztes benannt ist.
Aber die Medizin gilt in weiten Kreisen als ziemlich konservative Disziplin.
Schmidt: Schon. Mediziner werden sich – völlig zu Recht – erst dann auf neue Methoden einlassen und umschwenken, wenn wir den klinischen Beweis erbracht haben, dass die Systemmedizin der bessere Ansatz ist. Im Moment ist er von den Hypothesenbildungen, der Bioinformatik und den Datenauswertungen her offensichtlich richtig, aber die klinischen Beweise stehen noch aus. Daran arbeiten wir mit Hochdruck, etwa mit der Schlaganfallstudie. Diese wird hoffentlich 2021 beendet sein. Aber natürlich sind auch andere Gruppen weltweit bemüht, möglichst schnell klinische Validierung zu erhalten.
Das klingt ja alles super logisch. Aber versprechen Sie nicht zu viel?
Schmidt: Wir wissen um die Risiken, die jede neue Hypothese in sich birgt. Man kann leicht übermütig werden und schnell zu viel versprechen. Und es hat ja tatsächlich viele Hypes in der Medizin gegeben, auf die dann nicht viel folgte. Aber mal ehrlich: Wenn man in Ruhe nachdenkt, ist es total logisch, dass man Krankheiten mechanistisch erklären muss, um sie wirklich erfolgreich behandeln zu können. Darum bin ich nun sehr gespannt auf die ersten Validierungen des Konzepts an Patienten und fokussiere mich auf die klinischen Studien. Wenn man auf der Basis der Systemmedizin therapeutische Erfolge hat, dann ist das Konzept validiert – und man kann sicher sein, keinem Hype erlegen zu sein.
Die Fragen stellte Karin Hollricher
Das Interview wurde für die Webseite stark gekürzt. Das komplette Interview mit Harald H.H.W. Schmidt können Sie in der aktuellen Ausgabe von Laborjournal (11-2019) lesen.