Träume werden wahr
(20.08.2020) Vom Krebsmedikament zum potenten Antibiotikum. Pharmafirma Merck belohnt diese Kreativität mit 1 Million Euro und dem Future Insight Prize.
Unternehmen zu gründen, wie es immer wieder gefordert und auch gefördert wird, ist ein recht risikoreiches Unterfangen. Schon nach durchschnittlich 8 bis 10 Jahren, so Rostocker Wirtschaftsmathematiker, ist Schluss, die Firma insolvent. Familienunternehmen halten sich etwas länger, nämlich rund 24 Jahre.
„Uns gibt es seit mehr als 350 Jahren“, verkündet hingegen stolz das Chemie- und Pharmaunternehmen Merck. Noch heute seien mehrheitlich Nachkommen von Friderich Jacob Merck im Besitz der Firma.
1668 hatte Friderich Jacob das heutige Großunternehmen als kleine Apotheke in Darmstadt gegründet. Am 26. August jenes Jahres hatte er von Landgraf Ludwig VI. für die übernommene Apotheke am Schlossgraben das Privileg zum Betrieb erhalten. Dort verkaufte er unter anderem Vegetabilia (z. B. Heilkräuter, aber auch exotische Pflanzen wie „Muscath Blumen“ oder Aloe), Mineralia wie Schwefel oder Goldverbindungen und Animalia, Substanzen aus Tier oder Mensch. Ein Verkaufsschlager waren hier auch Stücke aus ägyptischen Mumien „zur Lebensverlängerung“. Noch bis 1923 war Mumia vera aegyptiaca im Merck‘schen Sortiment.
Heute hat das Unternehmen einen jährlichen Umsatz von 16,2 Milliarden Euro und 57.000 Mitarbeiter weltweit. Zum Gewinn tragen auch prominente Zukäufe im Life-Science-Sektor bei: Millipore (2010 für 5,3 Mrd. Euro) und Sigma-Aldrich (2015 für 13,1 Mrd. Euro).
Ambitionierte Traumprodukte
Um den Erfolg weiterzugeben, entschied sich die Konzernspitze anlässlich des 350. Betriebsjubiläums 2018, einen Preis zu spendieren: den mit bis zu einer Million Euro dotierten Future Insight Prize. Um „Anreize zu schaffen für innovative Lösungen, die einige der größten Probleme der Menschheit lösen und um Träume wahr werden zu lassen für ein besseres Morgen“. Oder kurz: man honoriert „ambitionierte Traumprodukte globaler Wichtigkeit für die Menschheit“.
Mit der Auswahl der jährlichen Preiskategorien bewies man tatsächlich einen gewissen „Future Insight“. Denn letztes Jahr hieß das Thema „Pandemie-Schutz“. Fast schon prophetisch heißt es in der Preisbeschreibung: „das Aufkommen einer neuen, potentiell tödlichen Infektion, die leicht von Person zu Person übertragbar ist, gehört zu den größten Bedrohungen der Menschheit“. In der Tat.
Zugesprochen bekamen den ersten „Future Insight Prize“ die Bioinformatikerin Pardis Sabeti (Harvard University) und Virus-Immunologe James Crowe (Vanderbilt University Medical Center). Erst im Mai berichteten wir Online über einen von Sabeti entwickelten Cas13-basierten Assay, der 169 verschiedene humane Viren-Spezies, darunter SARS-CoV-2, unterscheiden und selektiv nachweisen kann (siehe „Bunte Virus-Detektion“ vom 06.05.2020).
Bakterien-Bezwinger
In diesem Jahr war das Thema „Antibiotika-Resistenz“. Der Preisträger arbeitet an der TU München und heißt Stephan Sieber. Das Traumprodukt ist eine neuartige antibakterielle Substanz, die „jegliche bakterielle Infektion bezwingen kann, ohne dass dabei Resistenzen entstehen“. Konkret geht es um eine Substanz mit dem „vielsagenden“ Namen PK150.
Drauf gestoßen ist Siebers Team, als es bereits existierende Medikamente auf ihre antibakteriellen Fähigkeiten hin screente. Gewinner war Sorafenib (Handelsname; Nexavar, von Bayer), ein Multi-Kinase-Hemmer, der zur Behandlung von Leberzell-, Schilddrüsen- und Nierenkrebs zugelassen ist. Dieser verlangsamt nicht nur über die Inhibierung der Raf-Kinase das Wachstum der Krebszellen, er eliminiert auch effektiv beispielsweise Methicillin-resistente Staphylococcus aureus.
Allerdings modifizierten die Münchner Chemiker den Wirkstoff etwas und machten ihn so noch effektiver gegen prokaryotische Pathogene (Nat Chem, 12:145–58). Eine weitere Besonderheit: PK150 zielt auf mehrere, unterschiedliche Stellen, fernab klassischer Antibiotika-Targets wie die DNA-Replikation. „Unser Antibiotikum hat mehr als ein Angriffsziel, wodurch Resistenz-Entwicklungen unwahrscheinlich sind. Durch Proteom-Analysen konnten wir zeigen, dass es den Energie-Stoffwechsel [durch Hemmung der Demethylmenachinon-Methyltransferase] und die Proteinsekretion [durch Aktivitätsänderung der Signalpeptidase IB] der Bakterienzelle beeinflusst“, erzählte uns Sieber im November, anlässlich der Verleihung des m4 Awards des Biotechnologie-Netzwerks BioM (siehe „Preis für heiße Themen“ vom 28.11.2019).
Nur bakterielle Ziele
Letztlich platzen die Bakterienzellen auf und können keinen Schaden mehr anrichten. „Durch die chemischen Veränderungen an dem Molekül bindet PK150 auch nicht mehr an die menschlichen Kinasen, sondern wirkt sehr spezifisch gegen bakterielle Ziele“, erläutert Sieber in einer Pressemeldung.
Hinzu kommen günstige pharmakologische Eigenschaften (der Wirkstoff kann in Tablettenform gegeben werden und bleibt im Körper über mehrere Stunden stabil), gute Wirksamkeit gegen Bakterien in Biofilmen und auch eine erfolgreiche Proof-of-Concept-Studie im Mausmodell. Resistenzen hat man zu keinem Zeitpunkt beobachtet.
Mit dem Merck‘schen Geldsegen will Sieber zunächst weitere Bakterienarten wie Mycobakterien und Gramnegative untersuchen. In ein bis zwei Jahren könnten für den „Resistance Breaker“ die ersten klinischen Studien anstehen.
Übrigens hält der Preis noch ein zusätzliches "Bonbon" für Sieber bereit: Wie die Preisträger zuvor rückt er damit ebenfalls in Mercks Preis-Jury auf, welche die künftigen Future-Insight-Preisträger auswählt. Und dort wird er mit nicht ganz unbekannten Kollegen über die entsprechenden Kandidaten diskutieren – darunter etwa Ernst-Ludwig Winnacker, Hans-Dieter Klenk, Otmar Wiestler, Ruedi Aebersold, Peter Piot sowie die beiden Nobelpreisträger Thomas Südhof und William Moerner.
Kathleen Gransalke
(In einer früheren Version schrieben wir im letzten Absatz, dass Sieber und alle anderen Preisträger bereits zuvor in der Preis-Jury des Future Science Prize saßen. Das ist falsch: Sie werden erst mit dem Preis in die Jury aufgenommen – so wie es jetzt im korrigierten letzten Absatz steht.)
Bild: Merck & A. Eckert/TUM