Simulierte Reparatur
(30.08.2021) Axolotl sind Meister der Regeneration. Wie genau sie nach einer Amputation ihr Rückenmark neu bilden, das untersuchten Forscher in Theorie und Praxis.
Schwanzlurche – also Salamander und Molche – können abgetrennte Körperteile regenerieren. Besonders bei Jungtieren ist diese Fähigkeit ausgeprägt. Ein Spezialfall ist der Axolotl – eine Salamander-Art, die lebenslang im Larvenstadium verbleibt, aber trotzdem geschlechtsreif wird. Man spricht von „Neotenie“, wenn ein Tier jugendliche Merkmale beibehält, sich aber dennoch fortpflanzen kann.
Die 20 bis 30 Zentimeter riesigen „Salamander-Larven“ sind in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet um Mexiko-Stadt herum fast ausgestorben. Da sie sich leicht in Gefangenschaft halten und nachzüchten lassen, sind sie aber weltweit in Aquarien verbreitet und auch bei Entwicklungsbiologen beliebt. Ein fünfköpfiges internationales Forscherteam hat sich die Regeneration des Rückenmarks nach einer Amputation des Schwanzendes angeschaut. Das Autorenteam stellt dazu ein Modell vor, das beschreibt, wie ein hypothetisches Signal den Zellzyklus der Stammzellen nahe der Verletzung beschleunigt und synchronisiert.
Aus Glia- werden Stammzellen
Eine Schlüsselrolle für die neuronale Regeneration bei Salamandern spielen die Ependymzellen. Diese Gliazellen kleiden im zentralen Nervensystem die Oberfläche des Ventrikelsystems aus; sie bilden ein Epithel, das den Liquor vom Nervengewebe trennt. Kommt es beim Axolotl zu einer Verletzung am Rückenmark, so dienen die Ependymzellen als neuronale Stammzellen: Sie können sich teilen und zu neuen Nervenzellen differenzieren.
In einem jungen Axolotl ohne Verletzung teilen sich die Ependymzellen etwa einmal in 14 Tagen. Aus vergangenen Arbeiten wussten die Autoren bereits, dass der Zellzyklus sich nach einer Amputation des Schwanzendes in der Nähe der Amputationswunde auf etwa fünf Tage reduziert und sich die Zellvermehrung somit beschleunigt. Die Zeit im Zellzyklus wird eingespart durch Verkürzen der Phasen S und G1. Mit diesen Daten im Hinterkopf modellierte die Gruppe nun, wie die Stammzellen nach der Amputation rekrutiert werden.
Eindimensionales Rückenmark
An den Simulationen federführend beteiligt war Osvaldo Chara, der zwischen der Universität La Plata in Argentinien und der TU Dresden pendelt. Ein Computermodell soll natürlich nicht den kompletten Axolotl nachbilden, sondern dabei helfen, einen ausgewählten Prozess besser zu verstehen; in diesem Fall also, was nach der Amputation mit den neuronalen Stammzellen geschieht. „Wir haben uns gefragt: Was sind denn hier überhaupt die relevanten Dimensionen?“, blickt Chara zurück. Und das sei eben die anterior-posteriore Körperachse. Charas Team tat so, als seien die Ependymzellen linear in einer Reihe angeordnet und reduzierte das Modell so auf eine einzige räumliche Dimension. „Aus Faulheit“, scherzt Chara. Tatsächlich aber, so erklärt der Biophysiker, haben er und seine Kollegen vier Jahre lang herumgetüftelt, bis die Simulation sich mit den bereits bekannten experimentellen Daten deckte.
So entsteht beim Axolotl bis zum vierten Tag nach der Amputation eine knapp ein Millimeter lange Zone von der Wunde beginnend in Richtung Kopf. In dieser Zone teilen sich die Zellen schneller und sorgen für die Regeneration des Rückenmarks. Ependymzellen in der Nähe der Verletzung müssen also mitbekommen, dass der Schwanz amputiert ist. Dies könne ein Morphogen, also eine diffundierende chemische Verbindung sein, oder auch ein mechanisches oder elektrisches Signal, so Chara.
In der simulierten Version des Axolotl-Rückenmarks liegen die Ependymzellen in einer Reihe hintereinander und bilden so das stark vereinfachte „In-silico-Rückenmark“. Ist das Rückenmark intakt, so befindet sich jede Zelle an einem zufälligen Zeitpunkt irgendwo im Zellzyklus. Die Zellen teilen sich asynchron und langsam mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Eine Tochterzelle wird in der Reihe nach hinten gedrückt und schiebt damit auch alle anderen posterior gelegenen Zellen weiter. Die Autoren sprechen von einem „Cell-Pushing-Mechanismus“.
Mitose im Schnelldurchlauf
Mit der Amputation breitet sich vom posterioren Ende her das hypothetische Signal nach vorn hin aus, dem die Modellierer eine konstante Geschwindigkeit zuweisen. Eine Zelle, die das Signal registriert, überspringt fortan einen Großteil der G1-Phase und durchläuft die S-Phase schneller. Diese Eigenschaften vererbt sie nach der Teilung an die Tochterzellen. Dass in der S-Phase kein Prozess ausgelassen werden kann, begründet Chara mit der DNA-Replikation: „Da kann man sich schwer vorstellen, dass ein Schritt einfach übersprungen wird.“
Auch alle Tochterzellen der rekrutierten Zellen durchlaufen nun die beschleunigte Mitose mit einer gestauchten S-Phase und einer verkürzten G1-Phase. Per „Cell Pushing“ rücken nun vermehrt Zellen zum Schwanzende hin vor und über die Verletzung hinaus; sie regenerieren so den amputierten Teil. Das Signal, das sich vom Ort der Amputation nach vorn hin ausbreitet, ist aber nur eine begrenzte Zeit lang wirksam. Somit ist also auch die räumliche Zone, innerhalb derer Ependymzellen in den schnelleren Zyklus wechseln, begrenzt. Sie wandert dadurch mit dem sich regenerierenden Schwanz nach hinten. Durch die Beschleunigung der S-Phase und die „Sprungmarke“ in G1 kommt es außerdem zu einer Synchronisation der Zellteilungen.
Bunte Axolotl
Um nun zu überprüfen, ob man diese Synchronisation tatsächlich auch im lebenden Axolotl sieht, kam eine österreichische Gruppe ins Spiel: Das Team um Elly Tanaka am IMP des Vienna BioCenters. Dort stellen die Forscher auch transgene Axolotl her und haben für die aktuelle Studie ein Reportersystem für den Zellzyklus verwendet. Dabei kam die „Fluorescent Ubiquitination-based Cell Cycle Indicator“-Technologie (FUCCI) zum Einsatz, die auch für andere Modell-Organismen wie Maus, Fisch und Drosophila verfügbar ist. Man macht sich zunutze, dass im Zellzyklus je nach Zeitpunkt zwei unterschiedliche Ubiquitin-Ligasen synthetisiert werden: SCFSkp2 während S und G2 und APC/CCdh1 während der Kernteilung ab der Mitte von M bis zu G1. SCFSkp2 markiert Cdt1 für den proteolytischen Abbau, entsprechend zielt APC/CCdh1 auf Geminin. Fügt man nun transgene Konstrukte ins Genom ein, die ein Targeting-Motiv für Cdt1 oder Geminin enthalten und fügt die Sequenz eines Fluoreszenz-Proteins hinzu, so hat man jeweils einen Marker für einen bestimmten Abschnitt im Zellzyklus. Hier ist die Cdt1-Zielsequenz an grün fluoreszierendes Venus und Geminin an magentafarben fluoreszierendes mCherry gekoppelt.
Kurz gesagt: Zellen im Axolotl leuchten in G0 und G1 grün, allerdings wird das grüne Venus-Protein ab dem Ende der G1-Phase abgebaut. In S und G2 leuchten die Zellen magenta, kurz danach wird das mCherry-Protein abgebaut. In den Übergängen zwischen den Abschnitten sind jeweils beide Wellenlängen präsent. So lässt sich also auf die Dynamik der Zellteilung rückschließen. Ependymzellen der transgenen AxFUCCI-Axolotl leuchten vor der Amputation überwiegend grün und stecken somit in G0 oder G1. Nach der Amputation leuchten mehr und mehr Zellen magenta. Wie vom Modell vorausgesagt breitet sich diese Zone mitotisch besonders aktiver Zellen innerhalb der ersten fünf Tage rund 800 µm weit aus, beginnend vom Ort der Amputation.
Abweichung von der Theorie
Auch eine Synchronisation der Zellzyklen leiten die Autoren aus den experimentellen Daten ab. Allerdings finden die Forscher auch Abweichungen vom Modell: Im Grundzustand waren weniger Zellen als erwartet in den Phasen S bis G2. Das Team diskutiert hier verschiedene Gründe: Die älteren Daten, die dem mathematischen Modell als Grundlage dienten, kamen aus etwa drei Zentimeter großen Tieren, die Axolotl in den aktuellen Experimenten waren bereits rund 5 Zentimeter groß. Außerdem fanden die jüngsten Experimente wegen COVID-19 unter Einschränkungen statt, sodass die Versuchstiere weniger oft gefüttert werden konnten.
Trotzdem freut sich Chara über die Ergebnisse der Experimente. Denn vier bis fünf Tage nach Amputation decken sich die Beobachtungen wieder sehr gut mit den Voraussagen der Simulation. Chara sieht darin einen konservierten Prozess, der während der Regeneration abläuft. „Sobald man ein Gewebe amputiert, verhalten sich diese verschiedenen Axolotl wieder absolut gleich“, kommentiert er das Verhalten der Zellen innerhalb der Regenerationszone.
Nun sind Axolotl als neotene Salamander schon unter den Schwanzlurchen ein Sonderfall (auch wenn Neotenie noch bei einigen anderen Schwanzlurch-Arten vorkommt). Hat man in diesen Versuchen also wirklich ein Prinzip der Regeneration entdeckt, oder einen Mechanismus, der nur in einem Embryo oder einer Larve aktivierbar ist? Und ist dieses Muster der Zellrekrutierung überhaupt auf andere Organismen übertragbar? „Ehrlicherweise kenne ich die Antwort auf diese Frage nicht – wir wissen noch nicht, wie grundlegend dieser Mechanismus ist“, stellt Chara klar. Deshalb will er nun auch in anderen Organismen wie dem Zebrafisch nach Übereinstimmungen und Unterschieden zu den Vorhersagen suchen. „In meiner Gruppe arbeiten wir sehr gern mit experimentellen Biologen zusammen“, freut er sich auf neue Projekte.
Mario Rembold
Costa E. et al. (2021): Spatiotemporal control of cell cycle acceleration during axolotl spinal cord regeneration. eLife, 10:e55665
Bild: Osvaldo Chara
Weitere Artikel aus der aktuellen Forschung
- Gutes aus der Sonnenblume
Sie können mehr als schön aussehen. Sonnenblumen liefern die Grundlage für Speiseöle, Treibstoff und potente Schmerzmittel ohne schwere Nebenwirkungen.
- Der Teufel im Detail
Krebsforscher entdecken einen biologisch distinkten Typ des Neuroblastoms, was weitreichende Konsequenzen für dessen Diagnose und Behandlung hat.
- Gen-(iale) Werkzeuge
Ganze Genome zu sequenzieren, ist inzwischen Standard. Doch das heißt noch lange nicht, dass man alle genetischen Varianten bei der Auswertung auch entdeckt. Neue Analysemethoden kommen aus der Düsseldorfer Universitätsmedizin.