Editorial

Machst du noch Experimente
oder schon Wissenschaft?

(08.07.2022) Könnte eine Quelle für die Reproduzierbarkeitskrise sein, dass nicht mehr hinreichend gelehrt wird, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert? 
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Der Forschung ging es schon mal besser. Nehmen wir etwa die Reproduzierbarkeitskrise. Diese ist sicherlich nicht nur, aber auch ein Resultat von zunehmend schlampiger Forschung – ganz zu schweigen von der ebenfalls stetig wachsenden Zahl an nachgewiesenen Datenfälschungen. Ein trauriges Wachstum, das durch die rapide Zunahme massiv korrigierter und zurückgezogener Veröffentlichungen nur allzu klar bezeugt wird.

Doch wie ist es zu dem vermeintlichen „Qualitätsverlust“ gekommen? Statt einer Antwort landet man gerne bei einer weiteren Frage: Bringen wir den Studenten vielleicht nicht eindringlich genug bei, wie redliche Wissenschaft wirklich funktioniert?

Was die wissenschaftliche Redlichkeit betrifft, so antwortete der US-Bioethiker Arthur Caplan vor einiger Zeit in einem Interview von Clinical Chemistry (65(2): 230-5): „Die größte Bedrohung für die Forschungsintegrität ist das Versagen, Nachwuchsforscher an die Verantwortung ihres Tuns heranzuführen. Laborleiter und Professoren müssen ihnen genug Wertebewusstsein einflößen, um dem kommerziellen Druck, den Einflüssen von außen wie auch den Herausforderungen der eigenen Karriere standzuhalten.“

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Womit er zugleich klarmacht, dass dies offenbar nicht in ausreichendem Maße der Fall ist.

Aber funktioniert wenigstens das Lehren von Wissenschaft an sich?

Zumindest der US-Evolutionsbiologin Stephanie Spielman kamen Zweifel, als Studenten sie zuletzt in einem Laborkurs fragten: „Werden wir den Kurs nicht bestehen, wenn unsere Ergebnisse nicht zur Hypothese passen?“ Wie sie in einem Twitter-Thread beschreibt, kam Frau Spielman daraufhin ins Grübeln: „Tatsächlich bringen wir unseren Studenten fast nur experimentelle Techniken bei – und benoten sie danach, wie gut sie diese anwenden. Aber ist das Wissenschaft? Mit den Werkzeugen und Methoden fängt doch Wissenschaft gerade erst an – erst dann kommt man dazu, konkrete Fragen zu stellen, Daten zu interpretieren, Schlussfolgerungen zu ziehen, Hypothesen anzupassen, Folgeexperimente zu entwerfen et cetera.“ Und ihr Fazit: „Studenten müssen den Unterschied lernen zwischen Wissenschaft machen und wissenschaftliche Techniken anwenden. Das jedoch wird ihnen leider kaum vermittelt.“

In der Tat könnte dies eine wichtige Rolle beim aktuellen Qualitätsproblem der Forschung spielen.

Ralf Neumann

("Forscher Ernst" wird gezeichnet von Rafael Flores. Hier gibt's alle seine Cartoons.)

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Letzte Änderungen: 06.07.2022