Spuren aus grauer Vorzeit
In den letzten Jahren mehren sich allerdings vor allem die Hinweise darauf, dass HERV an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sein können – ein Grund für viele Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, sich das mal genauer anzuschauen. Zu ihnen gehört Patrick Küry, Universitätsprofessor für Neuroregeneration und Forschungsgruppenleiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Als Zellbiologe forscht er über die Mechanismen der Neuroregeneration und ist dabei eher zufällig mit den mysteriösen viralen Sequenzen in Kontakt gekommen. „Wir erforschen, wieso das Gehirn nach einer Verletzung nicht mehr regenerieren kann“, erzählt er. „Eine Modellerkrankung, mit der wir arbeiten, ist die Multiple Sklerose (MS), bei der mit jedem Krankheitsschub die neurologischen Ausfälle zunehmen.“ Bereits im Jahr 1997 zeigte der französische Virologe Hervé Perron, dass bei der Entstehung der MS auch HERV eine Rolle spielen.
„Die meisten HERV sind schon viele Millionen Jahre alt“, sagt Küry. „Es handelt sich um stabil ins Genom integrierte virale Kassetten, die transkriptionell weitgehend stillgelegt sind.“ Letzteres wird vor allem durch epigenetische Mechanismen wie DNA-Methylierung und Histonmodifikation sichergestellt. „Viele HERV haben in der langen Zeit ihrer Existenz aber auch Insertionen und Deletionen angehäuft, sodass sie gar nicht mehr funktionsfähig sind“, fügt Küry hinzu. Ohne diese Inaktivierung würden sich HERV als Untergruppe der Retrotransposons ständig durch einen Copy-and-Paste-Mechanismus vermehren – Chaos im Genom wäre programmiert!
„Es darf nicht sein“
Manche von ihnen ticken aber im Genom tatsächlich wie kleine Zeitbomben: Längst nicht nur bei MS ist eine Beteiligung von HERV nachgewiesen. Sondern beispielsweise auch bei der Schizophrenie (PNAS, 98(8):4634-9) und der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Zunächst sei der Gegenwind gegen das Konzept sehr hoch gewesen, erinnert sich Küry. „Es durfte nicht sein, dass etwas aus unserem eigenen Genom sich derart gegen uns wendet und uns letztlich krank macht.“ Der Zellbiologe selbst ist davon überzeugt, dass aktivierte HERV eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der MS spielen – nicht zuletzt, weil er selbst mit seinem Team wichtige Forschungsbeiträge in dieser Richtung geleistet hat. „Den eindeutigen Beweis zu erbringen, ist aber schwierig, weil die für den Menschen spezifischen endogenen Retroviren im Mausmodell nun mal nur schlecht untersucht werden können.“ Oft müssen sich die Forscher deshalb auf Korrelationen verlassen, die allerdings sehr stark sein können.
Als Auslöser für die Aktivierung von HERV werden unter anderem UV-Licht und verschiedene Infektionskrankheiten wie eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) diskutiert. Im Falle der Multiplen Sklerose ist eine vorangegangene Infektion mit EBV ein wichtiger Risikofaktor. Häufig erfolgt sie asymptomatisch, schwere Verläufe wie das Pfeiffersche Drüsenfieber sind selten.
Aus dem Dornröschenschlaf erwacht
Genauso vielfältig wie die Auslöser einer HERV-Aktivierung sind die möglichen Folgen. So können HERV-Sequenzen als Promotoren oder Enhancer dienen und somit die Expression anderer Gene verändern, wenn sie im Zuge ihrer Vermehrung in deren Nähe ins Genom integriert werden. Auf ähnliche Weise können sie alternative Spleiß- oder Polyadenylierungsstellen erzeugen und dadurch Genprodukte verändern.
In manchen Fällen werden nach einer HERV-Aktivierung sogar virale Proteine gebildet. Dass diese über pathogenes Potenzial verfügen, haben Küry und sein Team für die MS gezeigt (PNAS, 116(30): 15216-25). Hier ist der Übeltäter ein retrovirales Hüllprotein, das Entzündungsprozesse und Neurodegeneration fördert und zudem intrinsische Regenerationsprozesse erschwert. „Die Hüllproteine werden in den Mikrogliazellen gebildet, gelangen wie ihre Pendants in Retroviren an die Oberfläche und werden dort abgestreift“, beschreibt Küry. Im Zellzwischenraum bilden sich daraus Multimere, die kaum noch abbaubar sind und an verschiedene Oberflächenrezeptoren von Mikrogliazellen andocken. Die daraufhin angeschalteten Signalwege scheinen die Immunzellen aggressiver werden zu lassen. Ihre Attacken richten sich vor allem gegen die Myelin-produzierenden Oligodendrozyten.
Der endgültige Beweis
Trotz aller aufregenden Erkenntnisse der letzten Jahre muss man festhalten, dass die HERV-Forschung gerade erst in Fahrt kommt und viele Zusammenhänge noch kaum verstanden sind. Die größte Herausforderung besteht für Küry darin, endlich einen direkten Beweis, jenseits von Korrelationen, für die Pathogenität der HERV zu erbringen. Auch Überlegungen, wie sich die pathogenen Viruskomponenten inaktivieren lassen könnten, werden seiner Meinung nach in den nächsten Jahren im Vordergrund stehen.
Und dann ist letztlich die Frage zu klären, ob auch andere Krankheiten mit der Aktivierung von HERV einhergehen. „Aktive HERV sind oft nicht leicht nachzuweisen, weil sie nur schwach abgelesen werden“, weiß der Zellbiologe. Die Suche könnte aber damit belohnt werden, eine Erklärung für bisher unverstandene Krankheiten zu finden und damit die Möglichkeit, sie endlich wirksam zu behandeln.
Larissa Tetsch
Bild: AdobeStock/kras99
Dieser gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 12/2022. Darin berichtet Larissa Tetsch auch über die Forschung von Martin S. Staege, der am Uniklinikum Halle an der Saale HERV-Sequenzen identifiziert, die bei Krebs- oder Autoimmunerkrankungen exprimiert werden.
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