Editorial

Die Spitze des Eisbergs

(06.01.2023) Was bedeutet es, wenn schon kleine Forschungsfelder über auffällig viele Artikel klagen, die aufgrund unsauberer Publikationspraktiken zurückgezogen werden?
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Ein Jahr ist es her, da begingen Stefan Bielack von der Kinderonkologie des Klinikums Stuttgart und seine italienische Kollegin Emanuela Palmerini ein trauriges Jubiläum: In einem Editorial in ESMO Open – Cancer Horizons, dem Hausjournal der European Society for Medical Oncology (ESMO), „feierten“ sie den hundertsten Fall einer Veröffentlichung zum Thema Osteosarkom, die aufgrund wissenschaftlichen Fehlverhaltens zurückgezogen wurde. So viele waren jedenfalls übrig geblieben, nachdem sie PubMed nach allen Artikeln durchsucht hatten, die die Wörter „Osteosarkom“ und „Retraction“ enthielten, und aus der resultierenden Liste die reinen Osteosarkom-Artikel „per Hand“ herausgefiltert hatten.

Editorial

Paper Mills am Werk

Zur Motivation ihres Tuns schrieb das Duo: „In den letzten Jahren mussten wir mehr Retraktionen beobachten, als wir es bis dahin gewohnt waren. Überdies schien dieser Anstieg bei Osteosarkom-Arbeiten keineswegs einem zufälligen Muster zu folgen.“ Was sie damit unter anderem meinen: „Sechsundneunzig der zurückgezogenen Veröffentlichungen stammten aus vier asiatischen Ländern (83, 10, 2 und 1 Artikel), drei aus einem nordamerikanischen Land und eine aus Europa.“

Zwar nennen Bielack und Palmerini die Namen der Länder nicht, aber man braucht nicht viel Hintergrundwissen, um festzuhalten, dass der Löwenanteil der zurückgezogenen Paper aus China kam. Auch hier lassen offenbar die Fälschungswerkstätten der berüchtigten chinesischen Paper Mills grüßen (siehe LJ 7-8/2021: 32-35).

Weiter schreiben Bielak und Palmerini: „Die Zahl der zurückgezogenen Manuskripte nahm zuletzt deutlich zu: Vor der Jahrtausendwende erschienen nur fünf, danach 95.“ Und sie folgern: „Unsere Beobachtung, dass die Zahl der Retractions bei Osteosarkomen fast exponentiell ansteigt, spiegelt damit die allgemeine Situation in den Gesundheitswissenschaften.“

Hohe "Dunkelziffer"

Dazu muss man wissen, dass das Osteosarkom ein sehr seltener Tumor ist, und deswegen in der Onkologie vergleichsweise wenig dazu veröffentlicht wird. Ebenso muss man wissen, dass nach Schätzungen von Experten nur jeder zehnte von all denjenigen Artikeln zurückgezogen wird, die es normalerweise klar verdient hätten.

Auch ohne komplizierte Mathematik dürfte das wahre Ausmaß des gesamten Problems damit bereits klar sein.

Ralf Neumann

(Illustr.: iStock / Turn around around)

 

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Letzte Änderungen: 06.01.2023