Editorial

SARS-CoV-2 lässt Immunsystem entgleisen

(10.01.2023) Die überbordende Immunreaktion bei manchen COVID-19-Patienten erinnert an Autoimmun­erkrankungen. Beteiligt sind lösliche Immunkomplexe.
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Je mehr Immunkomplexe im Blut zirkulieren, desto schwerer verläuft COVID-19.

Ein gut funktionierendes Immunsystem trägt dazu bei, SARS-CoV-2 in Schach zu halten. Doch manchmal funktioniert irgendetwas nicht, die Betroffenen werden sehr schwer krank. Im ersten Pandemiejahr, also bevor es Impfungen oder Therapie­empfehlungen gab, landeten viele solcher Patienten im Krankenhaus – oft auf der Intensiv­station. Schnell stellte sich heraus, dass in diesen Fällen das Immunsystem pathologisch aktiv und die von der Infektion ausgelösten Entzündungs­reaktionen viel zu heftig waren.

Auch an der Universitäts­klinik Freiburg im Breisgau lagen Anfang 2020 Infizierte mit genau solchen Symptomen auf der Intensiv­station. Für die Betroffenen war das ein schweres Schicksal, viele verstarben. Für die Forschung aber bot sich eine einzigartige Gelegenheit. „Wir konnten nämlich von dem Zeitpunkt an, da diese Menschen in die Klinik kamen, also einige Tage nach Symptom­beginn, bis zu ihrer Entlassung beziehungsweise ihrem Versterben den Status ihres Immunsystems verfolgen”, berichtet Valeria Falcone vom Institut für Virologie der Uniklinik Freiburg.

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Eine Frage der Balance

Normalerweise wird bei einer Infektion das Immunsystem durch aktivierende und inhibitorische Prozesse sehr genau kontrolliert. Zu den wichtigsten Molekülen, die die Aktivität der Abwehr in der Waage halten, gehören Fc-gamma-Rezeptoren (FcγR). Sie sitzen auf der Oberfläche von Immunzellen, binden die konstanten Fc-Regionen von Antikörpern und modulieren dadurch die Abwehr­reaktion. Zu dieser Gruppe von Rezeptoren gehört FcγRIII, auch als CD16A bekannt. FcγR aktivieren die Immun­antwort, wenn sie zellgebundene und lösliche Immun­komplexe (soluble immune complex, sIC) binden können. Solche löslichen Komplexe bestehen aus mehreren IgGs, die an einzelne Antigene gebunden sind. Man kann sie bei Patienten mit Autoimmun- oder Virus­erkrankungen finden, beispielsweise solchen mit HIV- oder Hepatitis-C-Infektionen. Aufgrund korrelativer Befunde vermutet man außerdem, dass voran­gegangene Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder Cyto­megalie­viren Autoimmun­erkrankungen sowie das chronische Erschöpfungs­syndrom auslösen können.

Um die durch diese Rezeptoren vermittelte Aktivierung von Immunzellen während einer Autoimmun­erkrankung qualitativ und quantitativ bestimmen zu können, hatten Forscher und Forscherinnen der Universität Freiburg ein zellbasiertes Testsystem entwickelt (EMBO Mol Med, 14(1):e14182). „Unser Test ist ein Reporter­zellsystem”, erklärt Philipp Kolb. „Er misst die Reaktion von Immunzellen über die Fc-Rezeptoren in Abhängigkeit von der Menge der Immun­komplexe in der Blutprobe. Da die Rezeptoren die Immunantwort amplifizieren, ist unser Test eintausendmal empfindlicher als kommerzielle Tests, die lediglich die Präsenz von Immun­komplexen messen. Wir stellen also nicht nur fest, ob Immun­komplexe vorhanden sind, sondern auch, ob und wie stark sie die Immunzellen tatsächlich aktivieren.”

Als die Rheumatologen der Freiburger Uniklinik berichteten, dass die bei schweren COVID-19-Fällen beobachtete Hyper­inflammation der systemischen Entzündung einiger Autoimmun­krankheiten ähnelt, wurden die Virologen hellhörig. Sie begannen daraufhin, das Blut von COVID-19-Patienten systematisch nach löslichen Immun­komplexen zu durchforsten, die wie erwähnt auch bei Autoimmun­krankeiten eine zentrale Rolle in der Pathogenese spielen (Nat Commun, 13(1):5654).

Maß für die Erkrankungsschwere

Die Freiburger COVID-19-Kohorte bestand aus 27 kritisch, 14 schwer und 28 mild Erkrankten sowie 30 gesunden Blutspendern. „Im Blut der sehr kranken Personen zirkulierten viel mehr reaktive Immun­komplexe als im Blut von Gesunden oder von Patienten mit milden Symptomen”, fasst Sebastian Giese das Ergebnis der Untersuchungen zusammen, die er mit Jakob Ankerhold vornahm. Von den 35 Personen mit einer hohen Zahl an Immun­komplexen verstarb etwa die Hälfte; von den 21 Patienten, bei denen keine oder wenig sICs im Blut zirkulierten, waren es nur zehn Prozent. „Wir konnten damit zeigen, dass die Schwere der Erkrankung mit der Menge an löslichen Immun­komplexen korreliert”, so Giese. „Dieses Muster fanden wir übrigens auch bei Patienten mit systemischem Lupus.”

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Virologen-Team bei Patienten mit anderen respira­torischen Erkrankungen, beispielsweise Influenza, keine Immun­komplexe nachweisen konnte. Da fragt man sich: Warum aktiviert ausgerechnet SARS-CoV-2 die Immunantwort in einer derart schädlichen Weise? Kann man dies vielleicht über die Art der Antikörper in den Immun­komplexen erklären? „Wir fanden keine IgGs gegen SARS-CoV-2-Bestandteile in diesen Immun­komplexen”, sagt Falcone. „Tatsächlich konnten wir die Immun­komplexe teilweise schon vor dem Auftreten virus­spezifischer Antikörper nachweisen. Die Infektion selbst scheint also die heftige Immunreaktion mit der Bildung von Immun­komplexen auszulösen, erst daraufhin bilden sich Antikörper gegen das Virus. Deshalb nehmen wir an, dass Autoantikörper in den Komplexen stecken. Wir wissen aber noch nicht, welche es sind.”

Erwachte Autoimmunität

Diese Annahme wird von Befunden anderer Arbeits­gruppen gestützt, die im Blut von COVID-19-Patienten freie Autoantikörper gegen verschiedene Cytokine wie etwa Platelet-Faktoren und Interferone sowie gegen Komplement-Moleküle, G-Protein-gekoppelte Rezeptoren sowie gegen Bestandteile des Zellkerns fanden. Gerade Letztere, sogenannte anti-nukleäre Antikörper (ANA) und anti-ENA (extrahierbare nukleäre Antigene), sind typisch für rheumatische Autoimmun­erkrankungen. Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen einem pathologisch aktiven Immunsystem, SARS-CoV-2 und Symptomen, die auch bei Personen mit Autoimmun­erkrankungen auftreten.

Warum aber „überdreht” das Immunsystem nicht bei allen mit SARS-CoV-2 infizierten Personen, sondern nur bei einigen? Auch dazu haben die Freiburger eine Theorie. Vermutlich bildet jeder Mensch im Verlauf seines Lebens Autoantikörper. Normalerweise entfernen Fresszellen diese pathologischen Gebilde. Manchmal kann das aber zum Ausbruch einer Autoimmun­erkrankung führen, die kann sich aber auch wieder zurückbilden. Das kennt man beispielsweise von Personen mit Alopecia – einer Form von Haarausfall, die von Entzündungs­reaktionen ausgelöst wird. Typischerweise fallen die Haare kreisrund aus, in vielen Fällen wachsen die Haare aber wieder nach. Giese: „Wir nehmen an, dass eine SARS-CoV-2-Infektion – aus welchen Gründen auch immer – bei prädisponierten Personen diese latente, schlafende Autoimmunität über eine Barriere hebt und deren Immunsystem dann so heftig reagiert, wie wir es beobachten.”

Das Team entdeckte außerdem, dass das hyperaktive Immun­geschehen auch die Antikörper gegen virale N- und S-Antigene verändert: Sie verlieren den Zucker Fucose. Diese Afuco­sylierung ist eine für schwere, entzündliche Reaktionen typische Signatur an Antikörpern. Kolb: „Durch die Afuco­sylierung wird das Immunsystem noch stärker aktiviert. Als Folge werden noch mehr Gefäße und Gewebe geschädigt, was wiederum die Entzündungs­reaktion verstärkt. So entsteht ein Teufelskreis, den man medikamentös unterbrechen muss.” Dies gelingt teilweise mit Cortico­steroiden – weswegen hospitalisierte COVID-19-Patienten heute standardmäßig damit behandelt werden.

Die Untersuchungen hatte das Team zu Beginn der Pandemie vorgenommen. Falcone: „Auch jetzt machen wir Analysen, wenn auch nicht systematisch. Dabei beobachten wir, dass der Anteil der Personen mit Immun­komplexen sinkt. Am Anfang der Pandemie hatten 80 Prozent der schwer Erkrankten auf der Intensivstation lösliche Immunkomplexe im Blut, inzwischen sind es nur noch halb so viele. Woher das kommt, ob es ein Resultat von bereits eingeleiteten Therapien, der neuen Varianten oder gar der Impfungen ist, wissen wir allerdings noch nicht.”

Einen sehr wichtigen Befund hinsichtlich der Impfungen will die Biologin an dieser Stelle allerdings noch hervorheben: „Bei Impflingen haben wir keine Immun­komplexe gefunden. Sie bilden sich also tatsächlich als Reaktion auf eine echte Infektion, nicht auf eine Impfung.” Warum sie das betont? Menschen mit dem Post-Vakzine-Syndrom haben ähnliche Symptome wie solche mit Long-COVID-Syndrom. „Weil eine Impfung die Vermehrung des Virus bei einer nachfolgenden Infektion bremsen kann, entstehen weniger Schäden an Zellen und Organen. Es könnte sein, dass somit eine ‚schlafende’ Autoimmunität erst gar nicht geweckt wird.” Folglich scheint insbesondere ein gut ausbalanciertes Immunsystem der Schlüssel dafür, eine COVID-19-Erkrankung gut zu überstehen.

Karin Hollricher

Bild: LJ

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 12/2022.


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Letzte Änderungen: 10.01.2023