Editorial

Eine Art Vererbung
von Algorithmen

(18.04.2023) Evolutionsbiologe Paul Rainey warnt in einem aktuellen Paper, dass Mensch und KI bald wie ein Individuum Spielball der Evolution werden könnten.
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Können Menschen und KI-Systeme gemeinsam einen evolutionären Übergang durchlaufen, bei dem eine neue Art der Individualität entsteht? Über diese Möglichkeit schreibt Paul Rainey, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutions­biologie in Plön. Erschienen ist Raineys Artikel Anfang des Jahres in der Zeitschrift Philosophical Transactions of the Royal Society B (378(1872): 20210408).

Sie arbeiten im Labor mit – wie Sie es beschreiben – „experimentellen Populationen“ aus Mikro­organismen, um Prinzipien der Evolution zu verstehen. Dabei geht es auch um große evolutionäre Übergänge.
Paul Rainey: Wir verwenden Mikroben, weil wir die Evolution sozusagen in Echtzeit verfolgen können. Die Populationen sind sehr groß und die Genera­tionszeiten sehr kurz. Wir nutzen mikrobielle Populationen also als Werkzeuge, um grundlegenden Fragen der Evolutions­biologie auf den Grund zu gehen.
Insbesondere der Ursprung des vielzelligen Lebens geht auf solch einen großen evolutionären Übergang zurück. Ein weiterer Übergang fand statt, als zwei Bakterien-ähnliche Organismen aufeinander­trafen, was zur Entstehung der eukaryotischen Zelle führte: Aus einem Eubakterium wurde das Mitochondrium, aus dem Archae„bakterium“ der Zellkern.
Diese großen evolutionären Übergänge gehen also von einer niedrigeren Ebene replizierender Strukturen aus, und wenn der Übergang abgeschlossen ist, sind diese Strukturen Teil einer höheren Ebene mit selbst­replizierender Eigenschaft und in diese eingebettet.

Editorial

Richard Dawkins hat die Metapher vom „egoistischen Gen“ geprägt. Gene als kleinste Einheit der vererbbaren Information müssen also für sich selbst vorteilhafte Information codieren, um erhalten zu bleiben. Es gebe demnach keinen Altruismus zum Wohle der Spezies. Ich glaube, man kann das Konzept großer evolutionärer Übergänge leicht missverstehen. Können Sie erläutern, wie das mit Dawkins’ Sichtweise zusammenpasst?
Rainey: Dawkins hat komplett recht, wenn er sagt, dass sich Arten oder Individuen nicht zum Wohle der Gruppe entwickeln. Aber Selektion kann auf Organi­sations­ebenen wirken, die jenseits des Individuums liegen. Dazu bedarf es besonderer Bedingungen, die in der Geschichte des Lebens immer wieder erfüllt waren. Das sehen wir an der hierarchischen Struktur des Lebens. Es ist nicht immer leicht ersichtlich, wie Einheiten gemeinsam auf einem übergeordneten Level am Prozess der natürlichen Selektion teilnehmen können. Nehmen wir das Experiment mit den roten und grünen Bakterien, das im Paper erwähnt ist.

Ja, das ist eine sehr einfache, aber zugleich eindrucksvolle Idee: Man hat einen Bakterien­stamm, der das grün fluores­zierende Protein (GFP) exprimiert, ein anderer Stamm trägt rot fluoreszierendes RFP. Die Idee ist nun, dass man im Labor­experiment auf eine gemischte Gemeinschaft hin selektiert, die dann durch die additive Farbmischung gelb fluoresziert.
Rainey: Dieses Experiment basiert auf einer noch tiefer gehenden theoretischen Arbeit, die wir 2020 in eLife veröffentlicht haben (9:e53433). Wir haben also eine Mischung grüner und roter Zellen in einer Flasche oder einem Tube. Abgesehen von ihrer Farbe sind die Bakterien gleich. Nun vermehren wir die Probe, sagen wir, indem wir einen Teil davon alle 24 Stunden in ein frisches Medium geben, dort wieder wachsen lassen und so weiter. Die roten und grünen Zellen nehmen an einem darwinistischen Selektions­prozess teil. Es kommt zu Mutationen, und der Fort­pflanzungs­prozess stellt sicher, dass Nachkommen ihre Elterntypen repräsentieren. Es wird Unterschiede geben in der Fitness, und so kommt es zu einer evolutionären Entwicklung. Das Ergebnis davon ist Anpassung.
Wir haben dieses Experiment gemacht, und was wir dann wie erwartet gesehen haben: Früher oder später treten vorteilhafte Mutationen auf, entweder zuerst in einer grünen oder zuerst in einer roten Zelle. Eine vorteilhafte Mutation wird in der Community häufiger werden, somit wird die eine Farbe ebenfalls häufiger und die andere Farbe aussterben. Im Labor­experiment setzt sich normalerweise Grün durch, weil diese Bakterien einen leichten Wachstums­vorteil haben. Der Grund dafür ist, dass die Selektion an der individuellen Zelle ansetzt. Wichtig dabei ist aber, dass sich Selektion nicht direkt auf ein Gen richtet, sondern immer auf einen Phänotyp.

In Ihrem aktuellen Paper sagen Sie: Der Mensch könnte gemeinsam mit KI-Geräten eine neue Individualität bilden, an dem die darwinistische Evolution ansetzen kann. Damit ist nicht gemeint, dass wir einfach nur kulturell immer mehr an die Technik gewöhnt sind, sondern dass wirklich die menschliche DNA und die codierten Algorithmen der KI-Systeme emergente Phänotypen codieren und deren Information auch weitervererbt wird.
Rainey: Das stimmt, und es ist eine direkte Analogie zum Rot-Grün-Experiment. Dann entspricht der Mensch vielleicht der grünen Zelle und die KI der roten Zelle. Falls die Selektion übergeordnet zum individuellen Menschen ansetzt, der mit einem KI-Device verbunden sein muss, dann braucht es Variation auf Ebene des Menschen zusammen mit der KI, und die beiden müssen sich gemeinsam reproduzieren. Der Nachkomme muss die elterlichen Eigenschaften dann widerspiegeln. Das mag derzeit unrealistisch erscheinen, aber zu einem gewissen Grad sehen wir ja schon eine Tendenz dorthin. Eltern geben ihre alten Smartphones an die Kinder weiter. Und dort sind vielleicht noch Apps drauf oder Abos für Zeitschriften oder Dienste. Wir sehen also schon eine Art Vererbung von Algorithmen, auch wenn man das derzeit noch als kulturelle Transmission sehen würde.

Der wesentliche Punkt dabei sind nicht die eigentlichen Geräte, sondern dass die Software und die Arbeitsweise einer KI über einen binären Quellcode definiert sind, der sowohl mutierbar als auch replizierbar ist.
Rainey: Das KI-Device verändert sich, während es individuell auf unser Verhalten reagiert. Diese Interaktionen gibt es schon heute. Nun stellen Sie sich vor, jedes Mal, wenn Sie Nachkommen zeugen, würden Sie auch Inhalte Ihres Mobilgeräts reproduzieren – die Algorithmen, die während der Interaktion mit Ihnen evolviert sind. Die geben Sie weiter an Ihr Kind. Durch eine einzelne Regel schaffen Sie ein Scaffolding, das sicherstellt, dass Mensch und KI eine Einheit der Selektion sind. Genau wie bei den roten und grünen Bakterien haben Sie eine vererbbare Fitness, ganz einfach indem Sie sicherstellen, dass die Inhalte Ihrer Geräte an die Kinder weitergegeben werden.

Es geht also nicht um das konkrete Gerät, sondern um die zugrunde liegende Information. Aber haben Sie auch ein konkretes Beispiel, wie ein Selektions­vorteil im Zusammenspiel mit KI entstehen könnte?
Rainey: Ich nehme mal ein etwas absurdes Beispiel, was sich aber sicher auf andere Situationen übertragen lässt, weil Machine Learning immer cleverer wird. Stellen Sie sich vor, ich hätte eine genetische Disposition, durch einen Verkehrsunfall zu sterben, bevor ich mich fortpflanzen kann. Ich neige vielleicht besonders stark dazu, unvorsichtig im Straßenverkehr zu sein und überfahren zu werden. Mein KI-Device gibt mir aber immer einen Alarm, bevor ich in eine riskante Situation gerate. Meine Neigung, im Straßenverkehr umzukommen, vererbe ich an meine Kinder. Aber ich vererbe auch den Algorithmus, der diesen Nachteil ausgleicht. Diese Abhängigkeit könnte mit der Zeit immer weiter steigen, zumal die Algorithmen immer smarter werden. Irgendwann können Sie das Gerät vielleicht nicht mehr einfach wegnehmen.

Immerhin sind wir Menschen aber diejenigen, die die KIs entwickeln.
Rainey: Die Algorithmen lernen aber oft in einer Weise, die wir nicht verstehen und gar nicht mehr nachvollziehen können. Außerdem sehe ich die Gefahr der Manipulation. Stellen Sie sich vor, jemand wie Kim Jong-un könnte den Inhalt der Devices kontrollieren, auf die die Menschen angewiesen sind. Die eine Gesellschaft möchte vielleicht, dass die Menschen netter zueinander sind, eine andere Gesellschaft möchte womöglich aggressivere Bürger.
Wir wissen schon heute, dass die Interaktion mit dem Smartphone sowohl unsere Stimmung als auch unsere Entscheidungs­prozesse beeinflussen kann. Und das könnte auf eine höhere Ebene gelangen, bei der Mensch und KI als Einheit, als Individuum funktionieren und mehr sind als die Summe ihrer Teile. Alles, was es dazu braucht, ist eine rechtliche oder gesellschaftliche Struktur, die Interaktion mit den Algorithmen und Weitergabe an die Nachkommen sicherstellt.
Ich bin mir recht sicher, dass es gar nicht allzu lange brauchen würde, bis sich solch eine Abhängigkeit einstellt. Ich habe einfach die Sorge, dass diese Technik furchtbar missbraucht werden könnte. Daher wünsche ich mir, dass wir jetzt erkennen, was prinzipiell möglich ist.

Das Gespräch führte Mario Rembold

Bild: AG Rainey

Dieses hier gekürzte Interview erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 4/2023.


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Letzte Änderungen: 18.04.2023