Editorial

Vom Nutzen der Roten Königin

(16.06.2023) Theorien müssen in der Wissenschaft weniger wahr als vielmehr nützlich sein. Als besonders nützliche Theorie erweist sich seit über 50 Jahren die Red-Queen-Hypothese.
editorial_bild

Ist eine Theorie wahr, wenn sie Prognosen liefert, die sich als korrekt erweisen? Die Wissenschaft kennt diese Art Wahrheit nicht. Das Problem: Theorien basieren auf allgemeinen Aussagen – und diese lassen sich nicht durch Einzelbeispiele verifizieren. Egal auf wie viele Einzelbeobachtungen man allgemeine Aussagen stützt, Gewissheit erlangt man nie. Schließlich könnten weiterhin jederzeit Gegenbeispiele auftauchen – und damit wäre die der Theorie zugrundeliegende Aussage eben keine allgemeine mehr.

Solch ein inhärenter Mangel an „Wahrheit“ würde uns im Alltag eher verunsichern – die Wissenschaft juckt das jedoch weniger. Was vor allem daran liegt, dass der Begriff „Theorie“ in der Wissenschaft anders genutzt wird als im allgemeinen Gebrauch. In der Wissenschaft zielen Theorien nicht auf Wahrheiten ab – viel wichtiger ist, dass sie nützlich sind. Bietet demnach eine Theorie einen robusten Leitfaden, nach dem man bestimmte Probleme konkret erforschen kann – dann ist sie gut, sprich nützlich. Tut sie das nicht, ist sie schlecht.

Editorial

Jeder will besser werden

Sehr gut illustriert wird dieses Nützlichkeitsprinzip von der sogenannten Red-Queen-Hypothese. Trotz der „Hypothese“ im Namen stellt sie eigentlich eine Theorie dar und basiert auf der Beobachtung, dass das Leben – evolutionär betrachtet – ein fortwährendes Wettrennen ist. Kontinuierlich muss man sich als Lebewesen gegen Nahrungskonkurrenten durchsetzen, gefräßigen Räubern entwischen – oder Winzlinge abwehren, die den eigenen Körper zu ihrem Vorteil besiedeln wollen. Die Interaktionen mit den anderen Mitbewohnern des jeweiligen Lebensraums sind daher selten harmonisch – oder wenigstens derart ausbalanciert, dass keiner der Teilnehmer einen Nachteil davon hat.

Sicher, man findet zwischen symbiotischen oder kommensalischen Partnern durchaus halbwegs ausgewogene Beziehungen. Doch das sind Momentaufnahmen. Auf Dauer wird jeder Partner weiterhin versuchen, dem anderen ein Schnippchen zu schlagen, um am Ende noch ein wenig mehr Vorteil aus der Interaktion zu ziehen.

Was insgesamt daraus resultiert, ist das erwähnte koevolutionäre Wettrennen. Räuber werden beispielsweise versuchen, noch bessere Jagdstrategien zu entwickeln. Beutetiere werden danach streben, schneller weglaufen oder sich besser tarnen zu können – oder ungenießbarer zu werden. Potenzielle Wirtsorganismen werden immer ausgefuchstere Abwehrmechanismen gegen Parasiten entwickeln – und gleichzeitig werden letztere stets weitere Tricks austüfteln, um sich eben doch in ihnen breitmachen zu können.

Vorteil hier meint Nachteil dort

Gerade diese Beobachtungen eines stetigen Wettrennens zwischen Wirtsorganismen und Parasiten ließen den US-Biologen Leigh Van Valen in den 1970ern die Red-Queen-Hypothese formulieren – frei nach Lewis Carolls Roman „Through the Looking-Glass“, in dem die Rote Königin erklärt: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Übersetzt: Entwickelt eine Art irgendeinen Vorteil, folgt daraus in aller Regel ein Nachteil für eine andere Art – weswegen diese möglichst schnell nachziehen muss, um ihren „Beziehungsstatus“ halten zu können.

Van Valens theoretische Überlegungen haben sich bis heute als äußerst nützlich erwiesen, da sie der Forschung einen robusten Leitfaden in die Hand gaben, mit dem unzählige Beobachtungen aus dem echten Leben besser eingeordnet und verstanden werden konnten. Dies sogar, wenn die Beobachtungen sich als ziemlich skurril entpuppten – wie etwa in folgendem Beispiel: 

Wird der bakterielle Kartoffelschädling Pectobacterium atrosepticum von dem Bakteriophagen ΦTE befallen, rettet dieser ihn umgehend vor dem freiwilligen Selbstmord – dies allerdings aus komplett egoistischen Motiven. Im Rahmen des evolutionären Wettrennens mit seinem Eindringling hatte Pectobacterium zunächst eine „Selbstmord-Strategie“ entwickelt, nach der jede einzelne befallene Bakterienzelle durch die Freisetzung eines selbstproduzierten Giftmoleküls umgehend in den Freitod geht. Dadurch ersticken sie die weitere Vermehrung des Bakeriophagen im Keim – und verhindern somit die endemische Verbreitung in der Bakterienschar.

Verhinderter Selbstmord

Ganz nach „Red Queen“ schaute ΦTE den suizidalen Neigungen seines Lieblingswirts jedoch nicht lange tatenlos zu. Die Phagen kopierten kurzerhand die Bauanleitung für das Gegengift-Molekül, mit dem Pectobacterium in guten Zeiten sein eigenes Gift blockiert, aus dem Bakteriengenom in ihr eigenes. Die Folge davon: Bei Infektion wird umgehend das Gegengift-Molekül aus dem Phagengenom produziert, das sofort das gerade losgelassene Selbstmord-Gift wieder einfängt. Das selbstlose Bakterium muss also wider Willen weiterleben – und ΦTE kann sich ungehindert darin vermehren. In diesem Wettrennen muss jetzt also Pectobacterium wieder Gas geben (PLoS Genet. 8(10): e1003023).

Die „Rote Königin“ lässt sich jedoch nicht nur auf die evolutionären Wettrennen zwischen Wirt und Parasit anwenden, sondern auch auf alle übrigen – sogar auf diejenigen Wettrennen, die sich aus dem Sexual Conflict zwischen Männchen und Weibchen derselben Art ergeben. Ein besonders krasses Beispiel hierfür liefern kannibalisierende Spinnen-Arten, bei denen das vielfach größere Weibchen ihren Spinnenmann direkt nach der Paarung verspeist. Offenbar zieht dieses Männermorden keinerlei selektiven Nachteil für den Fortbestand der Art nach sich, sodass der Vorteil des relativ schlanken Futtererwerbs für die Weibchen sich in der gesamten Spinnenpopulation durchsetzen konnte. (Evolution kennt eben keine Moral, aber das ist ein anderes Thema ...)

Wettrennen mit Sprungkraft

Natürlich versuchen auch hier die Männchen, in dem evolutionären Wettrennen wieder aufzuholen und Strategien zu entwickeln, um den kräftigen Beißwerkzeugen ihrer Partnerinnen zu entkommen. So bringen einige beispielsweise zur Paarung Fressgeschenke mit ins Netz der „Auserwählten“, um sie damit während der Begattung lange genug abzulenken. Auf ganz andere Art holten hingegen die Männchen der Webspinnen-Art Philoponella prominens ihren evolutionären Rückstand wieder auf: Sie entwickelten spezielle Vorderbeingelenke, in denen sie derart viel kinetische Energie speichern können, dass sie sich direkt nach der Befruchtung blitzschnell wieder aus dem Netz des Weibchens herauskatapultieren können – und somit überleben. Um ihren alten Nahrungsvorteil wieder zu erlangen, müssen in diesem Rennen jetzt folglich die Philoponella-Weibchen wieder durchstarten (Current Biol. 32(8): PR354-R355).

Auch hier ist die Red-Queen-Hypothese also wieder sehr nützlich, um einzelne Beobachtungen richtig einordnen und damit das übergeordnete Bild verstehen zu können. Eine universell gültige Wahrheit drückt sie dennoch nicht aus. Braucht sie dafür aber auch gar nicht.

Ralf Neumann

(Foto: Dmitry Lobanov / Bearbeitung: LJ)

 

 

Weitere Artikel zum Thema "Evolutionäres Wettrennen":

 

Ausgefuchste Würmer

Woran erkennt man gute Hypothesen? Womöglich auch daran, dass man immer wieder auf sie zurückkommt. Eine, auf die dies zutrifft, ist die sogenannte Red-Queen-Hypothese. …

 

- Der Wasserfloh und die Rote Königin

Basler Forscher um Dieter Ebert zeigen, dass der Wasserfloh Daphnia und einer seiner bakteriellen Parasiten nach den Regeln der Red Queen-Hypothese koevolvieren ...

 

Lästige Biester und flinke Super-Wespen

Blattläuse und Schlupfwespen sind sich spinnefeind. Um sich gegenseitig auszustechen, rüsten sie mit immer neuen Geheimwaffen auf ...

 

 

 



Letzte Änderungen: 14.06.2023