Editorial

Kopflose Erinnerung

(07.07.2023) Die Regenerationsfähigkeit einiger Tiere ist enorm. Warum schneiden wir Menschen dabei so schlecht ab? Ist unsere große Komplexität das Problem?
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Hinsichtlich Regenerationsfähigkeit sind wir Menschen wahre Muffel. Fällt uns ein Zahn aus, kann uns den nur ein Spezialist mit einem Kunstprodukt wieder ersetzen. Ganz im Gegensatz etwa zu Haien, die ihre ausgebrochenen Beißer beliebig nachproduzieren können. Amphibien und Reptilien können sogar ganze Gliedmaßen zumindest teilweise wieder ersetzen, während wir zu diesem Zweck komplizierte technische Prothesen anfertigen müssen.

Der Verlust der Regenerationsfähigkeit scheint nach Meinung einiger Experten an höhere Komplexität gekoppelt – und damit an neu erworbene Qualitäten. Was offenbar zu einer klassischen evolutionären Trade-Off-Situation führt: Will ich etwa geschickte Greifglied­maßen und ein großes Hirn mit jeder Menge Denk- und Steuerkraft haben, dann werde ich damit derart kompliziert, dass gewisse andere, bereits vorhandene Qualitäten auf dem Weg dorthin offenbar nicht mehr mitkommen – und die Segel streichen müssen.

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Gesiebte Zellen

Zum Beispiel eben die Regenerationsfähigkeit. Schlicht gesagt, kann die Regenerationskapazität nicht in dem Maße und Tempo ausgebaut werden, wie sie für die immer komplexer werdenden Strukturen notwendig wäre. Weil für mich aber Hirn und Hände am Ende doch vorteilhafter sind als Zahnnachbildung, gehe ich schließlich auf den Trade-Off-Deal ein – und verzichte dafür auf optimale Körperteil-Regeneration.

Für diese Gedanken spricht, dass zumindest im Tierreich beim stetigen Hinabsteigen der „Komplexitätsleiter“ die Regenerationsfähigkeit im Mittel stetig zunimmt. Bei Pflanzen mag die Sache etwas anders liegen – Stichwort „Stecklinge“.

Man nehme nur den Süßwasserpolypen Hydra. Dessen durch einen Sieb gedrückte Zellen können wieder zum vollständigen Tier zusammenfinden. Zudem kann ein beliebig herausgetrenntes 200-stel des erwachsenen Tieres wieder zu einem neuen Individuum heranwachsen – inklusive der Bildung neuer Neuronen, auch wenn in dem Hydra-Schnipsel selbst keine mehr enthalten waren.

Der Trick sind Stammzellen

Bezüglich dieses Wertes noch übertroffen wird Hydra jedoch vom Plattwurm Planaria: Selbst Schnipsel von einem 279-stel der Masse des ursprünglichen Wurms „machen“ wieder einen neuen. Der Trick bei beiden ist vergleichsweise einfach: Sie bewahren sich einfach genug totipotente Stammzellen über den gesamten Körper verteilt auf, die dann im Fall der Fälle entsprechend durchstarten können. Womit man sich umgehend wieder fragt, warum das bei uns Menschen nicht auch so erhalten wurde ...

Planaria-Würmer können im Zuge ihrer Regeneration aber noch mehr: Gedächtnis wieder herstellen! Erst kürzlich haben zwei US-Forscher Plattwürmern in einem automatisierten Trainings-Regime beigebracht, dass sie nur Futter finden, wenn sie über eine rauhe Oberfläche kriechen statt über eine glatte – und dass sie sich auch zwei Wochen später noch daran erinnern. Dann schnitten sie ihnen die Köpfe ab. Wiederum zwei Wochen später waren die Köpfe wieder nachgewachsen – und siehe da, nach einer kurzen „Gedächtnisauffrischung“ fanden die vormals auf „rauh“ geprägten Individuen das Futter deutlich schneller als die „Glatt-Kontrollen“.

Gedächtnis mit und ohne Kopf

Jetzt wüsste man natürlich gerne, wie solch eine Gedächtnisleistung ohne Hirnzellen überhaupt funktionieren kann – aber darüber können die Autoren in ihrem Paper nur spekulieren (J. Exp. Biol. 216: 3799-810).

Und wir Regenerationsmuffel? Wir büßen unser Gedächtnis ja schon mit zunehmendem Alter ein, auch ohne dass wir den Kopf verlieren.

Ralf Neumann

(Foto: Josh Cassidy/KQED)

 

 

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Letzte Änderungen: 04.07.2023