Editorial

Neoantigene
blasen zur Attacke

(13.07.2023) Weltweit arbeiten Industrie und Forschung an Krebs-Impfstoffen. Wer auf die Vakzine anspricht, scheint aber noch ein bisschen Glückssache zu sein.
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Selbst vehemente Impfverweigerer könnten ganz schnell schwach werden. Es kommt nur auf den Impfstoff an. Denn wer würde nicht den Ärmel hochkrempeln, wenn er damit sein Krebsleiden beenden könnte?

Nirgendwo anders ist die personalisierte Medizin so umtriebig wie bei Krebs. „Personalisiert“ verspricht Treffsicherheit, bedeutet aber auch, dass ein Medikament nicht im Großmaßstab und auf Vorrat produziert werden kann. Entwicklung und Produktion von Antikörpern für die Immuntherapie erfordern neben hohen Summen einen gerade bei Krebs verdammt knappen Faktor: Zeit. Mit einer Impfung deutlich schneller agieren und das eigene Immunsystem nachhaltig zum Auslöschen von Tumoren motivieren zu können, klang vor wenigen Jahren noch nach Fiktion, ist bei den ersten glücklichen Probandinnen aber schon Realität. Sogenannte Neoantigene sind aktuell ein heißes Thema, wie exponentiell steigende Publika­tions­zahlen (gesamt 4.300) und klinische Studienzahlen (Stand Juli 2023: 245 Einträge in der Online-Datenbank ClinicalTrials.gov) zeigen.

Editorial

Ernüchternde Überlebenschancen

Ganz vorn mit dabei ist auch die Mainzer Biontech mit Cevumeran, einem „Neoantigen-Vakzin“ gegen Bauch­speichel­drüsen-Krebs. Diese Krebsart steht auf der unrühmlichen Hitliste häufigster Krebs­erkrankungen auf Platz sieben, seit einem halben Jahrhundert stagnieren die Überlebens­chancen bei ernüchternden 12 Prozent. Den Tumor heraus­zuschneiden, ist momentan die einzige Behandlungs­option und kommt nur für manche Patienten überhaupt infrage. Ihre Wirkung hält in neun von zehn Fällen nicht einmal ein Jahr lang vor, was sich selbst durch Kombination mit Chemo- oder Strahlen­therapie nur wenig steigern lässt.

Egal, um welchen Krebstyp es sich handelt, gilt für das Impfstoff-Design das gleiche Prinzip. Strukturen, in denen sich Tumor- von gesunden Körperzellen unterscheiden, müssen erkannt und das Immunsystem gegen sie scharf gemacht werden. Eine Zelle ohne markante Allein­stellungs­merkmale wäre schwer gezielt angreifbar. Der Entwicklerblick richtet sich daher auf Neoantigene. Das sind mutations­bedingte Proteine, die in Krebs-, nicht jedoch in gesunden Zellen vorkommen. In Tumoren finden sich teils hunderte davon, und jede Person hat ihr ureigenes „Mutanom“. Es umfasst Punkt­mutationen, Indels, Fusionen, eben das gesamte Mutations­spektrum. Frameshifts sind als Angriffspunkt besonders attraktiv, da hierbei völlig neue Peptide entstehen. Mitochondriale DNA ist aufgrund einer zehn- bis 20-mal höheren Mutations­rate gegenüber nukleärer DNA eine besonders üppige Kandidatenquelle.

Schärfer als Antikörper-Therapien

Der Cancer Genome Atlas (TCGA) und darauf aufbauend die Tumor-specific Neoantigen Database (TSNAdb) enthalten Sequenzen von circa einer Million identifizierter Neoantigene, von denen gerade einmal zwei Dutzend in mehr als 5 % der untersuchten Krebspatienten vorkommen. Personalisiert muss ein Neoantigen-Impfstoff also auf jeden Fall sein.

Von T-Zellen als „fremd“ erkannt, können Neoantigene Zerstörungs­prozesse in Gang setzen. Ihre völlige Abwesenheit in gesunden Zellen umgeht das Risiko von Kollateral­schäden. Verimpfte Neoantigene wirken dabei ungleich schärfer als Immun­therapien mit Antikörpern und können potenziell alle Kapitel des Immunsystems, inklusive Gedächtnis­zellen, aufschlagen. Das Neoantigen sollte Tumor-spezifisch und dennoch für die Immun­patrouille allgegenwärtig in hoher Molekülzahl präsent sein.

Für einen Impfstoff werden gleich mehrere (durchschnittlich circa 20) Neoantigene kombiniert, um die Chancen guter Immuno­genität zu steigern und das Risiko aufkommender Resistenzen (Immune Escape) im Zaum zu halten. Nachgebaute Impf-Neoantigene können dem Körper als Peptid (15-30 Aminosäuren), DNA oder mRNA serviert werden. Ob und welche Form das Rennen machen wird, steht noch in den Sternen. Forscherinnen des Dana-Faber Cancer Institute setzen mit ihrem Vakzin NeoVax (Nat Med, 27(3):515-25) beispielsweise auf Peptide; Biontech, wie zu erwarten, auf mRNA. Zu allen Formen von Neoantigen-Vakzinen laufen dutzende klinische Studien, die eine umfangreiche Palette von Krebsarten (Lungen-, Eierstock-, Haut- und Prostatakrebs, verschiedene Leukämien) abdecken. Eine aktuelle Übersicht liefert der Review „Neoantigens: promising targets for cancer therapy“ (Sig Transduct Target Ther, 8:9).

Attacke!!!

Biontechs Prinzip folgt jenem mRNA-basierter SARS-CoV-2-Impfstoffe. Statt eines Virus­hüllen­proteins codieren die mRNA-Krebs-Impfstoffe jedoch Neoantigene. In jedem Fall also eine feindliche Struktur, die das Immunsystem erkennen und gnadenlos attackieren soll. Sobald der Impfstoff in die Zellen eintritt, synthetisieren diese das entsprechende Peptid (Peptid-Impfstoffe kürzen diesen Schritt ab). Das Peptid wird von der Zelle als fehlerhaft erkannt und daraufhin proteasomal zerlegt, zum endoplas­matischen Reticulum transportiert und schließlich auf MHCI-Moleküle geladen. Peptid-MHCI-Komplexe wandern an die Zelloberfläche und werden dort von T-Zellen (CD8+) erkannt. Jetzt ist das Immunsystem scharf gemacht gegen die Neoantigen-Strukturen und damit eben auch gegen die Tumorzellen.

An Neoantigen-Kandidaten in Form mutierter Gene gelangen die Krebsforscher durch den Genom­sequenz-Vergleich von Proben gesunder Zellen, meist aus Blutproben, mit Krebszellen aus einer Tumorprobe desselben Patienten. Unter den Kandidaten wählen die Wissen­schaftlerinnen mittels RNA-Analysen dann jene, die in Tumorproben tatsächlich exprimiert werden. Bioinformatische Tools, beispielsweise NetCTLplan, können Kandidaten mit möglichst hoher Immuno­genität vorhersagen. Dank künstlicher Intelligenz gewinnen solche Prognosen an Treffsicherheit. Neoantigen-Peptide mit Ähnlichkeit zu pathogenen Proteinen gelten als besonders immunogen.

Umfangreiches Behandlungskonzept

Das Biontech-Team hatte starke Indizien dafür, dass selbst beim schwer adressierbaren Bauch­speichel­drüsen-Krebs die Neoantigen-Strategie funktionieren könnte. Unter den wenigen glücklichen, die nach konventionellem Eingriff langfristig überlebten, waren spontane T-Zell-Antworten gegen Tumor-spezifische Neoantigene verzeichnet worden. In Primär­tumoren, welche eine hohe Last immunogener Neoantigene trugen, fanden sich aktivierte CD8-positive T-Zellen in 12-facher Dichte. Anlass genug, bei der Neoantigen-Produktion ordentlich nachzuhelfen.

Biontechs individualisierte Neoantigen-spezifische Therapien, kurz „iNeST“, erhöhen die Erfolgs­chancen, indem die mRNAs bis zu 20 verschiedene, Patienten-spezifische Neoantigene präsentieren. Das Behandlungs­konzept beinhaltet Uridin-mRNA-Lipoplex-Nanopartikel, einen Checkpoint-Inhibitor und eine cytostatische Therapie. Verfolgt werden T-Zell-Antworten (Nature, 618:144–150).

Konkret erhielten in einer klinischen Phase-1-Studie 16 Patienten sechs Wochen nach chirurgischer Tumor­entfernung eine Dosis Atezolizumab (ein anti-PD-L1-Checkpoint-Inhibitor). Drei Wochen später bekamen sie über zwei Monate hinweg wöchentlich intravenös ihren personalisierten Neoantigen-Impfstoff (autogene cevumeran). Nach einem Monat Pause folgten im Abstand von je zwei Wochen ein Dutzend Anwendungen von mFOLFIRINOX (Chemotherapie aus vier Medikamenten). Eine neunte Spritze mit dem Neoantigen-Impfstoff (booster dose) beendete schließlich, 46 Wochen nach Tumor­entfernung, das Prozedere.

Schlagkräftiger Booster

Acht der 16 Personen sprachen auf die Behandlung an. Die Antwort zwischen Patienten und innerhalb desselben Patienten auf einzelne Neoantigene fiel sehr unterschiedlich aus. 25 der 106 verimpften Neoantigene lösten eine Zunahme von T-Zellen aus, und zwar ausschließlich von CD8-positiven. Responder hatten tendenziell mehr klonale Tumore und konsequent niedrigere CA19-9-Werte (Pankreaskrebs-Biomarker) als Patienten, die nicht ansprachen. Der Booster (9. Impfung nach 46 Wochen) erwies sich durchweg als schlagkräftig; Klone Neoantigen-spezifischer CD8+-Zellen re-expandierten und erreichten ihr Anfangsniveau, welches aufgrund der Chemotherapie gesunken war. Diese Zellen können bis zu 10 % der gesamten T-Zellen im Blut ausmachen. Bislang, zwei Jahre nach der Behandlung, gibt es keine Rückfälle. Alle Responder leben. Neoantigen-spezifische, expandierte T-Zellen könnten nebenher sogar Mikro­metastasen anderswo auslöschen, verschwundene Leber-Läsionen eines Patienten deuten zumindest darauf hin.

Wer auf die Therapie anspricht und wie stark, scheint eine Glückssache zu sein oder ist zumindest nicht ohne Weiteres vorhersehbar. Korrelation zur Stärke der Immunantwort gab es weder mit der Ursprungs­größe des Tumors noch mit der allgemeinen immuno­logischen Fitness, für welche dank zeitlicher Überlappung der Studie mit der Corona-Pandemie entsprechende Vergleichsdaten aus der SARS-CoV-2-Impfung vorlagen. Gemeinsam mit US-Gigant Genentech laufen derzeit weitere klinische Studien zu Cevumeran alias RO7198457, alias RG6180, alias BNT122 bei fortgeschrittenem Melanom (NCT03815058), Darm-Krebs (NCT04486378) und metastasierenden Tumoren (NCT03289962). Finale Ergebnisse werden in diesem Herbst, im Frühjahr 2024 bzw. 2027 erwartet.

Andrea Pitzschke

Bild: Pixabay/jackmac34


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Letzte Änderungen: 13.07.2023