Editorial

Behinderte Wissenschaft

(25.07.2023) Das deutsche Wissenschaftssystem propagiert Gleichstellung und Diversität. Die Behindertenquoten offenbaren jedoch einen „blinden Fleck“.
editorial_bild

Die institutionalisierte Wissenschaft nimmt gerne für sich in Anspruch, für Weltoffenheit, Diversität und Gleich­berechtigung zu stehen. Engagement für Diversität ist mittlerweile auch als ein Kriterium in der Forschungs­förderung verankert. Die auf der Mitglieder­versammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 2022 beschlossenen „Forschungsorientierten Gleichstellungs- und Diversitätsstandards“ haben einige Wellen geschlagen. Insbesondere betonen die neuen Standards, dass Diversität mehrere Dimensionen einschließen sollte, jenseits des Geschlechts etwa auch Alter, Internationalität und Behinderung.

Ob dieses mehrdimensionale Verständnis von Diversität in der Wissenschaft tatsächlich angekommen ist, bleibt jedoch zweifelhaft. Besonders die Dimension „Behinderung“ scheint ein blinder Fleck im deutschen Wissenschaftssystem zu sein. Ein Antrag der FDP-Bundestagsfraktion beleuchtete vor zwei Jahren die Situation der Schwerbehinderten an den außeruniversitären Forschungs­einrichtungen. Nicht nur verfehlten diese Einrichtungen deutlich die Mindestquote von fünf Prozent, sie blieben hinsichtlich des Anteils schwerbehinderter Beschäftigter auch spürbar hinter dem übrigen öffentlichen Dienst zurück. Schlusslicht waren hierbei die Leibniz-Gemeinschaft (2,67 Prozent) und die Fraunhofer-Gesellschaft (3,13 Prozent). Weil das nichtwissenschaftliche Personal im Geiste eines „Ablasshandels“ mit eingerechnet wird, sind die Zahlen noch erheblich geschönt. Wo, wie bei der Leibniz-Gemeinschaft, aufgeschlüsselte Daten zum wissen­schaftlichen Personal zur Verfügung standen, lag der Anteil der Behinderten beim wissen­schaftlichen Personal lediglich bei einem Prozent.

Editorial

Mit ihrem Antrag, die außeruniversitären Forschungs­einrichtungen zu einer Erhöhung des Behinderten­anteils aufzufordern, ist die FDP-Fraktion damals gescheitert. Zum einen, so die ablehnende Mehrheit im Bundestag, sei dort durchaus Engagement für Teilhabe erkennbar, zum anderen gehe die Fixierung auf die 5-Prozent-Quote aufgrund der Altersstruktur des wissenschaftlichen Personals fehl. Letzteres Argument verkennt freilich, dass ein Anteil von einem Prozent beim besten Willen keine adäquate Repräsentation darstellt, egal wie man den Anteil Schwerbehinderter und Gleichgestellter in der relevanten Kohorte (etwa unter Studierenden, siehe dazu: „Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2011“) erfasst – und selbst wenn man Unsicherheiten in der Statistik miteinbezieht. Und inwiefern das Engagement der außeruniversitären Forschungs­einrichtungen über Lippen­bekenntnisse hinausgeht, ist fraglich. Die Max-Planck-Gesellschaft teilte auf Anfrage beispielsweise offen mit, dass sie sich als privatrechtlich organisierter Verein nicht gebunden sehe, qualifizierte behinderte Bewerber zum Vorstellungs­gespräch einzuladen, wie dies für öffentliche Arbeitgeber im juristischen Sinn vorgeschrieben ist.

In meinem eigenen Fachgebiet habe ich jüngst die außeruniversitären Institute im Rat Deutscher Sternwarten angeschrieben und um eine Aufschlüsselung des Behinderten­anteils beim wissenschaftlichen Personal sowie gegebenenfalls um Auskunft über interne Zielquoten und Strategien zur aktiven Rekrutierung gebeten. Von den angeschriebenen dreizehn Adressaten kam bis dato eine einzige (!) Rückmeldung von einem staatlich finanzierten Institut. Dagegen schickte eine kleine, unabhängig finanzierte Sternwarte die erste Antwort – obwohl sie wegen ihrer geringen Mitarbeiterzahl der Behinderten­quote nicht einmal unterliegt.

Wenn das Thema aber bei den gut ausgestatteten Instituten kaum auf dem Radar ist, wie soll dann Chancengleichheit für Behinderte erreicht werden? An ausreichendem Bewusstsein scheint es jedenfalls noch zu fehlen. Ein Direktor eines Max-Planck-Instituts hatte einst gar die Chuzpe, mir im persönlichen Gespräch abzusprechen, dass meine Sehbehinderung eine Benachteiligung darstelle, und sah sich auch nach Aufklärung über die ihm augenscheinlich unbekannte rechtliche Lage in Deutschland nicht willens, sich zu korrigieren.

Fraglich ist allerdings, ob derlei Probleme auf die außeruniversitären Forschungs­einrichtungen beschränkt sind. Obgleich als öffentlicher Arbeitgeber stärker reglementiert, fallen oft auch Hochschulen im Umgang mit Behinderten – seien es Studierende, seien es Bewerber – negativ auf. Als die Hochschule Lausitz vor zehn Jahren keine Sehbehinderten zum Studiengang Physiotherapie zulassen wollte und der Behinderten­beauftragte protestierte, wurde diesem fristlos gekündigt („‚Barrierefrei‘, aber ohne Behinderte“, taz vom 23. 4. 2013). Dass der Vorgang ausgerechnet eines der traditionellen Berufsfelder dieser Gruppe betraf, macht ihn umso bestürzender.

In Bewerbungsverfahren ist es durchaus verbreitete Praxis, geeignete behinderte Bewerber zunächst pflichtgemäß einzuladen, um sie dann möglichst gründlich schlechtzumachen, damit ja nicht der Eindruck gleicher Eignung entsteht. Wohl wissend, dass im Falle eines Konkurrentenstreits entweder der abgelehnte Bewerber oder der Steuerzahler für die Kosten einsteht sowie dass Gerichte bisweilen lieber die absurdesten Falsch­behauptungen schlucken, als einen versuchten Prozessbetrug zu erkennen, ist manche Berufungs­kommission sich dabei für keine Bosheit zu schade.

Einen besonders eklatanten Fall hat der Verfasser vor einiger Zeit selbst erlebt. Dabei wurden unter anderem die Verfahrens­akten nachträglich manipuliert sowie neue Auswahlkriterien zurecht­geschneidert. Geschähe Vergleichbares mit einem Laborbuch, wäre der Skandal groß.

Auch im Bereich der Hochschulen schlägt sich eine derartige „Kultur“ in der Statistik nieder. So war in Baden-Württemberg im Jahre 2015 ausgerechnet das Wissenschaftsressort (mit den angeschlossenen Hochschulen) Schlusslicht unter den Ministerien beim Behindertenanteil – vor dem Kultusministerium und dem Rechnungshof, die ebenfalls die 5-Prozent-Quote verfehlten.

Erst mit dem kombinierten Blick auf die Statistiken und auf persönliche Erfahrungen kann man wirklich ermessen, wie sehr es im Wissenschaftsbetrieb oftmals im Umgang mit Behinderten hakt. Es ist nicht einfach zu erfassen, worin die Gründe hierfür liegen, aber einige Defizite scheinen weit verbreitet:

- Schlichte Ignoranz über die Situation Behinderter und die rechtliche Lage,
- die Hybris arrivierter „Platzhirsche“, behinderungs­bedingte Nachteile aus ihrem Tunnelblick heraus besser einschätzen zu können als die Betroffenen selbst und die zuständigen staatlichen Stellen,
- und bisweilen wohl auch der Unmut darüber, dass bei akademischen Kungeleien Vorschriften aus dem Behindertenrecht in den Weg zu kommen drohen.

Wenn in manchen Köpfen die Vorstellung herumspukt, Behinderung sei eine „weniger wichtige“ Benachteiligung, so könnte dies tatsächlich nicht weiter an der Wirklichkeit vorbeigehen. Erhellend sind etwa Zahlen zur Situation von Sehbehinderten im Vereinigten Königreich aus dem Jahre 2017 („Employment status and sight loss 2017“). Dort lag die Erwerbsquote von Sehbehinderten mit Hochschul­abschluss (!) mit 64 % noch unter der von Frauen in der Gesamtbevölkerung. Dass hier Handlungsbedarf besteht, sollte nicht bezweifelt werden.

Die von der DFG angestoßene Erweiterung des Diversitäts­begriffs in der Wissenschaft ist in dieser Hinsicht überfällig – und es bleibt zu hoffen, dass sie Früchte trägt. Allerdings ist die Initiative der DFG auch ein zweischneidiges Schwert. Denn beispielsweise birgt die Empfehlung, dass „jede Einrichtung anhand ihres eigenen, individuellen Profils Schwerpunkte setzen“ sollte, das erhebliche Risiko, dass Chancengleichheit für Behinderte in der Prioritätenliste an die letzte Stelle rutscht – in der Hoffnung, es mögen sich andere darum kümmern.

Auf verdienstvolle Initiativen wie das PROMI-Projekt („Promotion inklusive“; siehe dazu auch „Mehr als exzellente Forschung und Lehre“, Forschung & Lehre 10/2017) müsste vielmehr ein allgemeiner Kulturwandel folgen. Problematisch ist auch, dass sich eine Art „Parallelrecht“ für den Wissenschafts­betrieb etablieren könnte, welches das schon jetzt dürftig umgesetzte staatliche Schwer­behinderten­recht noch weiter aushöhlen würde. Aus Betrof­fenen­sicht wäre es möglicherweise zielführender, staatliche Kontrollmechanismen zur Einhaltung des Schwer­behinderten­rechts zu stärken. Denn seit vor fast fünfzig Jahren aus dem Schwer­beschädigten­gesetz ein allgemeines Schwer­behinderten­gesetz wurde, hatte der Wissenschaftsbetrieb genug Zeit, sich in der weitgehend eigenständigen Umsetzung zu bewähren. Eine wirkliche Verbesserung der Verhältnisse muss wohl von außen angestoßen werden.

Zur Person
Bernhard Müller ist Associate Professor an der School of Physics and Astronomy der Monash University in Melbourne, Australien.

Dieser Essay erschien zuerst in Laborjournal 7-8/2023.

Bild: Tim Teebken (Bearbeitung: U. Sillmann)


Weitere Forscher-Essays aus den vergangenen Jahren


- Schuld und Heilung: Wir müssen über das moralische Dilemma Tierversuch reden (Essay von Florian Fisch, Bern)

Rechtfertigt eine bestimmte Erkenntnis, einem fühlenden Lebewesen Leid anzutun? Diese Frage dürfen Forscherinnen und Forscher nicht für sich beantworten. Für eine Beteiligung der Gesellschaft braucht es aber radikale Transparenz.

- Entschlossen handeln gegen systematische Forschungsfälschung durch Paper Mills (Essay von Roland Seifert, Hannover)

Wenn ein Journal mit Manuskripten zu einem angesagten Forschungsthema überhäuft wird, ist Vorsicht geboten. Ein Teil der eingereichten Paper könnte von professionellen „Papiermühlen“ stammen, die für ihre Kunden gefälschte Publikationen erstellen. Das Handwerk wird man den Paper Mills nur legen können, wenn man alle manipulierbaren Elemente des wissenschaftlichen Belohnungssystems konsequent abschafft.

- Die Nordwestpassage (Essay von Claus Kremoser, Heidelberg)

Gibt es einen dritten Karriereweg für Wissenschaftler zwischen Akademia und Industrieforschung?

 




Letzte Änderungen: 25.07.2023