Editorial

Einmal weg, immer weg?

(25.08.2023) Nichts kommt zurück, was in der Evolution verloren ging – dies formulierte Louis Dollo einst als Gesetz. Doch Gesetze haben es einfach schwer in der Biologie.
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Die Evolutionstheorie lehrt vor allem eins: Dass nichts fix ist in der Biologie außer dem Wandel. Nichts bleibt, wie es ist, da das stetige Wechselspiel von Variation und Selektion biologische Systeme immer im Fluss hält.

Kann es in der Biologie bei solch wandelbarem Wesen überhaupt Gesetze geben? Universale Prinzipien, die allezeit und überall gelten? So wie in der Physik.

Der große, 2005 verstorbene Evolutionsbiologe Ernst Mayr hatte darauf eine klare Antwort: Nein! Biologische Theorien seien ihm zufolge allenfalls von Konzepten abgeleitet, die jeweils nur in einem bestimmten, abgegrenzten Kontext gelten.

Und auch die US-Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller fragte in ihrem 2007er-Essay „A Clash of Two Cultures“ (Nature 445:603), ob die Suche nach universalen Prinzipien in der Biologie überhaupt Sinn mache. Denn: „Biologische Generalisierungen können immer nur vorläufig sein – eben wegen der Evolution.“

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Verlorene Merkmale bleiben verloren, oder?

Warum geistern dann immer noch Gesetze durch die biologische Fachliteratur? In aller Regel, weil man den Begriff falsch gebraucht. Nehmen wir etwa das „Dollosche Gesetz“. Im Jahr 1893 fasste der belgische Paläontologe Louis Dollo ein vermeintlich auffälliges Muster des Evolutionsgeschehens folgendermaßen zusammen: „Ein Organismus ist nicht in der Lage, auch nur teilweise zu einem früheren Stadium zurückzukehren, das bereits auf der Ebene seiner Vorfahren realisiert worden war.“

Dollo bezog sich damit auf den Verlust von komplexen Eigenschaften im Laufe der evolutionären Entwicklung. Er mutmaßte, dass Merkmale, die in der Entwicklung einer Art verloren gegangen sind, von deren Nachkommen nicht wieder von neuem angelegt werden können. Einmal weg – immer weg, also. Dollo erschien es zu unwahrscheinlich, dass die Evolution derart präzise in ihren eigenen Fußstapfen wieder zurückwandern könne, um verschwundene Merkmale in der gleichen Linie erneut zum Leben zu erwecken.

Das klingt plausibel, schließlich findet man ja auch jede Menge Belege dafür. Paarhufer und Unpaarhufer mit ihren reduzierten Zehenzahlen haben etwa nie wieder Arten mit mehr Zehen hervorgebracht. Ebenso haben ins Wasser zurückgekehrte Säuger keine Kiemen mehr ausgebildet – und dies, obwohl jeder Säugerembryo sie in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung vorübergehend anlegt.

Glatte Schneckenhäuser winden sich erneut

Anfang der Neunzigerjahre holte der Evolutionsbiologe Stephan Jay Gould Dollos Gesetz daher anlässlich dessen hundertjährigen Jubiläums nochmals explizit ins Rampenlicht. Ganz im Sinne des Gesetzes referierte er in einem Aufsatz, wie Familien von Meeresschnecken, deren Vorfahren vor langer Zeit die Windungen ihrer Gehäuse zugunsten einer ungewundenen Schale aufgegeben haben, danach nie wieder auch nur ansatzweise Gewundenes hervorgebracht hätten.

Doch gerade dieses Beispiel widerstand nicht der Prüfung durch die moderne Hochleistungs-Genomik: Im Jahr 2003 sequenzierten zwei Forscher jeweils drei Gene aus insgesamt 94 Spezies der zumeist „ungewunden-häusigen“ Familie der Pantoffelschnecken (Calyptraeidae). Als Ergebnis des daraus abgeleiteten phylogenetischen Stammbaums hielten sie zweifelsfrei fest: Mindestens zweimal hatten die Vorfahren der heutigen Pantoffelschnecken-Vertreter ihre Schalen zig Millionen Jahre nach deren „Entwindung“ doch wieder schraubig eingedreht (Proc. R. Soc. Lond. B 270: 2551).

Re-Evolver

Und es sollte kein Einzelfall bleiben. Die neuen Methoden der molekularen Evolution offenbarten mühelos weitere Beispiele, wie in evolutionären Linien einst verloren gegangene Merkmale an einem bestimmten Punkt der weiteren Entwicklung wie Phönix aus der Asche wieder zu neuem Leben erwachten. So bildeten etwa gewisse Insekten Millionen Jahre nach dem Verzicht auf ihre Flügelpaare gleich mehrfach wieder welche aus – beispielsweise in den Abstammungslinien von Wasserläufern (Oikos 67: 433-43), Feigenwespen (Syst. Entomol. 29:140-1) oder Stabheuschrecken (Nature 421: 264-7). Ebenso entstanden Augen mehrere Male wieder neu, wo die jeweiligen Vorfahren sie schon lange „abgeschafft“ hatten – etwa bei Muschelkrebsen (Trends Ecol. Evol. 18: 623-7) oder auch in Schlangen (Trends Ecol. Evol. 15: 503-7). 

Apropos Schlangen: Sie scheinen überhaupt besonders gute „Re-Evolver“ zu sein. Vor gut zehn Jahren beschrieb ein Forscherteam der Yale University, dass die Ahnen der heutigen Riesenschlangen (Boidae) einstmals auf das Eierlegen verzichteten, um stattdessen ihren Nachwuchs lebend zu gebären. Die Vorfahren einer bestimmten Sandboa, Eryx jayakari, beließen es allerdings „nur“ 60 Millionen Jahre bei der Viviparie – und legten von da ab wieder Eier. Eine Wiedergeburt der Oviparie (Evolution 64: 207-16).

Stille Gene legen wieder los

Dass solches evolutionäres Wiederzurückschalten demnach doch öfter vorgekommen ist, als Dollo und Gould dachten, erklären die Spezialisten heute damit, dass die Gene für die Etablierung des abgelegten Merkmals über die ganze lange Zeit prinzipiell erhalten blieben – und zwar deswegen, weil sie durch leichte Modifikationen umgehend für ähnliche Aufgaben rekrutiert wurden. Folglich sollten lediglich kleine Korrekturen an den richtigen Stellen dieser Gene genügen, um ganze Entwicklungswege wieder zurück von „neu“ auf „alt“ zu steuern – also etwa von Bein zu Flügel oder von Lebendgeburt zum Eierlegen.

Welch minimale Korrekturen dafür ausreichen können, illustrieren gewisse Hühner-Mutanten. Ein Team der Uni Manchester entdeckte, dass die nicht-lebensfähigen Föten einer natürlichen Mutante Zähne entwickelt hatten, obwohl die Vorfahren sämtlicher Vögel seit über 80 Millionen Jahren keine mehr bildeten. Diese Zähne ähnelten denen heutiger Krokodile und können auch in normalen Hühnerembryonen durch Aktivieren eines einzigen Gens, welches für das Protein Beta-Catenin codiert, zum Sprießen gebracht werden (Curr. Biol. 16: 371-7).

Wachsen uns bald wieder Schwänze?

Was könnte all dies nun für uns Menschen bedeuten? Schließlich wurde anlässlich des Vergleichs der Genome von Mensch und Maus vor etwas über 15 Jahren verkündet: „Wir haben 99 Prozent unserer Gene mit der Maus gemeinsam – darunter auch die Gene, die bei korrekter Aktivierung das Schwanzwachstum steuern.“ Wachsen uns eines Tages also wieder Schwänze? Womöglich wäre das molekular- und entwicklungsbiologisch ja ähnlich einfach wie bei den Hühnerzähnen. Andererseits aber: Wozu?

Wie auch immer, auf Dollos Prinzip können wir offenbar nicht bauen, wenn wir prognostizieren wollten, ob unsere Nachfahren irgendwann wieder Schwänze haben werden oder nicht. Denn eines zeigen die obigen Beispiele ganz klar: Ein echtes „Gesetz“ ist Dollos frühe Erkenntnis sicherlich nicht. Eher eine „Regel“ oder ein „Prinzip“, wie manche sowieso schon lange sagen. Und Regeln unterscheiden sich von Gesetzen vor allem durch eines: dass es immer wieder Ausnahmen gibt. 

Ralf Neumann

(Illustration aus dem 17. Jahrhundert, gemeinfrei)

 

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Letzte Änderungen: 01.08.2023