Editorial

Wie geht disruptive
Forschung?

(22.08.2023) Bringen heutige wissenschaftliche Projekte seltener bahnbrechende Ergebnisse hervor? Welche Rolle spielt dabei Serendipity?
editorial_bild

Die Nachricht schreckte viele auf: Wissenschaft wird weniger disruptiv! Laut einer neuen Studie bringt Forschung immer seltener bahnbrechende Ergebnisse hervor (Nature, 613(7942): 138-44). Mit diesem Befund begann in der ersten Jahreshälfte 2023 eine lebhafte Diskussion darüber, ob Spitzen­forschung leidet. Falls die Diagnose stimmt: Was ist die Ursache und was die Therapie? Sollten wir Forschung anders organisieren, um die Chance auf Innovationen zu erhöhen?

Sehen wir uns die Originalstudie von Park et al. vom 4. Januar 2023 an. Die Arbeit analysiert insgesamt ~25 Millionen Publikationen im Zeitraum von 1945-2010. Dazu griff die Studie auf den sogenannten „CD-Index“ zurück, der 2017 zur Bewertung der Wirkung von Patenten eingeführt (Manag Sci, 63(3): 791-817) und später so umfunktioniert wurde, dass man anhand von Veröffent­lichungsdaten disruptive Forschungs­ergebnisse aufspüren kann (Nature, 566: 378–82).

Editorial

Gleich vorab, um Missverständnissen vorzubeugen: Nur wenige als disruptiv klassifizierte Publikationen führen zu Paradigmen­wechseln. Nach Wissenschafts­philosoph Thomas Kuhn bezeichnet das Paradigma die allgemein akzeptierte Vorgehensweise, ein Natur- oder Sozialphänomen zu untersuchen oder zu erklären (siehe „The Structure of Scientific Revolutions“). Beispiele für Paradigmen­wechsel sind die kopernikanische Wende oder die Evolutions­theorie. Die Latte liegt also hoch. Disruptive Publikationen können aber auch Weiter­entwicklungen sein, die das Feld verändern, ohne dass das Paradigma wechselt.

Der CD-Index beschreibt, ob eine Publikation eher konsolidierend oder eher disruptiv wirkt. Eine konsolidierende Publikation fügt Wissen zum aktuellen Forschungsstand hinzu und ist in einen kontinuierlichen Zitationsstrom eingebunden. Im Gegensatz dazu eröffnet eine disruptive Publikation einen alternativen Weg: Sie bündelt Zitate neu, weil nachfolgende Publikationen seltener solche Artikel zitieren, die vor der disruptiven Publikation erschienen sind. Auf einer Skala von –1 bis +1 erhalten konsolidierende oder disruptive Publikationen niedrige oder hohe CD-Werte.

Die neue Studie von Park et al. zeigt, dass der durchschnittliche CD-Index im untersuchten Zeitraum kontinuierlich abnahm. Ob Lebens-, Natur- oder Sozialwissenschaften: Der CD-Index für Forschungs­publikationen ging zwischen 1945 and 2010 deutlich zurück (Nature News, 613:225). Allerdings blieb die absolute Zahl disruptiver Publikationen pro Jahr relativ stabil. Dies bedeutet, dass die ständig wachsende Zahl an Publikationen nicht zu einer ebenso wachsenden Zahl an bahnbrechenden Ergebnissen führte. Daraus schließen die Studienautoren, dass Wissenschaft weniger disruptiv wird.

Gefühlt stellt sich das allerdings ganz anders dar: Gab es nicht gerade in Rekordzeit einen mRNA-basierten Impfstoff? Seit der Jahrtausendwende brachte die Biomedizin ständig disruptive Technologien hervor: RNA-Interferenz, die Genschere CRISPR/Cas, Krebs-Immuntherapie, Einzelzell­sequenzierung und viele mehr. Von anderen Feldern ganz zu schweigen: Das Sprachmodell ChatGPT oder Aufnahmen der Umgebung eines schwarzen Lochs. Also alles gut? Nun, die Zahlen sprechen eine andere Sprache: mehr vom Gleichen.

Die publizierten Beobachtungen könnten viele Gründe haben. So wurde vorgeschlagen, dass unerwartete Erkenntnisse heute schwerer zu erhalten sind, weil die „low-hanging fruit“ – die tief hängenden Früchte der Erkenntnis – bereits abgeerntet seien. Dieses Argument stelle ich in Frage, denn die Früchte disruptiver Forschungsarbeit waren sicher auch in früherer Zeit nicht leicht zu erreichen und damit per Definition keine low-hanging fruit. Außerdem muss man davon ausgehen, dass der Baum der Erkenntnis grundsätzlich nicht vollständig abgeerntet werden kann, denn Ideen erzeugen neue Ideen (siehe „The Science of Science“ von D. Wang und A. Barabási). Dann sollte es auch nicht an solchen Früchten mangeln, die disruptiv wirken – sie müssen nur noch reifen.

Wahrscheinlicher ist hingegen die Erklärung, dass der beschriebene Trend durch eine zunehmende Spezialisierung der Forschung zustande kommt (siehe „Science is losing its ability to disrupt“ in Financial Times). Denn große Forschungsfelder neigen zu einem verlangsamten, kanonischen Fortschritt (PNAS, 118(41): e2021636118). Das mag am Herdentrieb vieler Forschender liegen, aber auch daran, dass die wachsende Informationsflut nur schwer verarbeitet werden kann. Dies zeigt beispielsweise die Corona­forschung: In nur 3,5 Jahren sind in PubMed unter dem Stichwort „SARS-CoV-2“ über 200.000 Publikationen aufgelaufen. Solche Zuwachsraten führen unweigerlich zu Fokussierung. Deshalb können Forschende leicht in hoch spezialisierten Gebieten gefangen sein. Das große Ganze ist nicht im Blickfeld.

Es ist zudem wahrscheinlich, dass Wissen­schafts­systeme die Spezialisierung in konsolidierten Feldern fördern. So könnten Metrik-basierte Evaluationen viele Forschende weg von riskanten Themen und hinein in den Mainstream treiben, wo mehr Zitate winken (Nature Editorial, 614: 7-8). Auch überbordende Drittmittel­einwerbung könnte die Wissenschaft zunehmend zu einem wirtschaftlichen Prozess machen, der für Einzelne dann erfolgreich verläuft, wenn sie häufiger kleine Arbeiten mit wenig Daten publizieren. In solchen Systemen fehlt für Kreatives der nötige Freiraum.

Wie sollte hingegen ein Wissenschafts­system aussehen, das bahnbrechende Forschung erleichtert? Zunächst muss es Qualität statt Quantität fördern. Die Qualität der Forschung ist eine conditio sine qua non, eine notwendige Voraussetzung für Durchbrüche. Hochwertige Ergebnisse schaffen ein tragfähiges Fundament, auf dem andere aufbauen (PLoS One, 5: e13327). Zudem führt exzellente Wissenschaft auch bevorzugt zu erfolgreichen Anwendungen (Sci Adv, 5(12): eaay7323).

Zum anderen sollte Forschung mittelfristig angelegt und so organisiert sein, dass originelle Kombinationen verschiedenartigen Wissens erleichtert werden. Das ist notwendig, um einem grundsätzlichen, unvermeidbaren Dilemma zu begegnen, in das die Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts geriet: Im Prozess der Ausdifferenzierung in Disziplinen wurden Fragen, die sich nicht einfach einem Fachgebiet zuordnen ließen, seltener adressiert oder vergessen (siehe „Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen“ von R. Stichweh).

Wohl deshalb entstehen disruptive Entwicklungen oft an den Grenzen der Disziplinen. Ein historisches Beispiel ist die Entstehung der physikalischen Chemie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Thermodynamik auf chemische Reaktionen angewandt wurde (Ann Sci, 34: 287-310). Eine andere Ausprägung interdisziplinärer Forschung besteht darin, die Methoden einer Disziplin auf Problem­stellungen einer anderen zu übertragen. So entstand etwa die Biophysik durch Anwendung physikalischer Methoden auf biologische Fragen.

Es erscheint daher sinnvoll, Anreize für interdisziplinäre Forschung zu schaffen. Die Umsetzung erfordert aber Zeit und Kraft. Denn es reicht nicht, an die Wissensgrenze des eigenen Felds vorzustoßen, man muss auch in den Dialog mit anderen Disziplinen treten. Dabei gilt es, eine gemeinsam verstandene Sprache zu entwickeln, denn oft stellen schon Fachausdrücke hohe Barrieren für Fachfremde dar. Nehmen wir die moderne Verhaltensbiologie: Sie nutzt die Methoden der Astrophysik, um die Beobachtung von Tierbewegungen aus dem Weltraum zu ermöglichen (Science, 348: aaa2478). Um sie aufzubauen, mussten Physiker, Ingenieure und Biologen zusammenarbeiten.

Allerdings ist disruptive Forschung nie in Isolation, sondern nur im großen Kontext der Wissenschaft möglich. Schon Kuhn war überzeugt, dass in der „Normalwissenschaft“ durch inkrementellen Fortschritt eine Wissensbasis aufgebaut wird. Es bedarf oft einer großen Zahl an kleinen, konsolidierenden Schritten, bevor der große, disruptive Schritt erfolgen kann, der möglicherweise zu einem Paradigmen­wechsel führt. Nachhaltiger wissenschaftlicher Fortschritt benötigt inkrementelle und disruptive Entwicklungen.

Das wird am Beispiel des Algorithmus Alphafold2 deutlich. Er nutzt die Methoden des maschinellen Lernens, um dreidimensionale Protein­strukturen vorherzusagen (Nature, 596: 590-6). Über ein halbes Jahrhundert lang nutzte die weltweite Community experimentelle Methoden, um fast 200.000 Protein­strukturen strukturell aufzuklären (Protein Sci, 31: 187-208). So entstand eine Datenbasis, die eine kritische Größe erlangen musste, damit der Algorithmus erfolgreich trainiert werden konnte. Ganz klar: Das Forschungsfeld muss ausreichend bestellt sein, bevor ein bahnbrechendes Resultat geerntet werden kann, das den Erkenntnis­fortschritt dann oft weiter beschleunigt.

Zusammenfassend wird deutlich, dass erfolgreiche Wissenschaft Vielfalt benötigt. Und zwar in jeder Hinsicht – nicht nur was die Disziplinen, Methoden und Ansätze angeht. Auch die Größe der Arbeitsgruppen sollte nicht einheitlich sein. Es wurde zwar gezeigt, dass kleinere Teams kreativer sind (Nature News and Views, 566, 330-2). Doch die neuen Fragen, die kleine Teams oft auftun, benötigen zur Beantwortung meist große Teams. Vielfalt sollte sich auch auf die Arbeitsgruppen selbst erstrecken. Vieles deutet darauf hin, dass Diversität die Kreativität fördert, auch wenn hierzu unterschiedliche, vielschichtige Studien vorliegen (Appl Psychol, 71(4): 1598-1634).

Ein Forschungsraum wie Europa sollte auf beides setzen: thematisch freie, am Einzelprojekt orientierte Forschung sowie Programm­forschung. Zudem brauchen wir sowohl Grundlagen­forschung wie auch anwendungs­orientierte Forschung. So lassen sich die Chancen auf transformative Entwicklungen erhöhen: Ideen aus der Grundlagen­forschung führen zu Anwendungen. Und Hindernisse in der Translation stellen neue Fragen an die Grundlagen­forschung. Eine kategoriale Unterscheidung zwischen Grundlagen- und Anwendungs­forschung ist aber artifiziell: Es gibt nur eine Forschung, die verschiedene Facetten hat.

Da die nötigen Durchbrüche oft aus einer Ecke kommen, aus der sie keiner erwartet, kann man disruptive Forschung selten planen. Was können dann einzelne Forschende überhaupt tun, um die Chancen auf disruptive Erkenntnisse zu erhöhen? Es lohnt sich, achtsam zu sein und Serendipity zu nutzen – jenen glücklichen Umstand, der nur von solchen Menschen erkannt wird, die das Unerwartete erahnen (siehe „The Travels and Adventures of Serendipity“ von R. Merton und E. Barber). Louis Pasteur soll es einmal so formuliert haben: „La chance ne sourit qu‘aux esprits bien préparés“. Was in etwa bedeutet, dass das Glück nur denjenigen gewogen ist, die im Geiste darauf vorbereitet sind.

Auch wenn unklar bleibt, wie genau die Ergebnisse der Nature-Studie von Park et al. zu interpretieren sind, so erinnert uns die aktuelle Diskussion doch daran, wie bahnbrechende Forschungs­ergebnisse erzielt werden. Perspektiven­wechsel sind wichtig – übrigens nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre (J Teach Educ, doi.org/kgzr). Unterschätzen wir nicht den fachfremden Vortrag, ein zufällig entdecktes Paper oder das Gespräch mit einer Expertin aus einer anderen Disziplin.

Der Blick zurück zeigt: Die Wege der Wissenschaft verlaufen nicht linear; ambitionierte Forschende sind Teil eines lebendigen Netzwerks und disruptive Durchbrüche sind oft mit persönlichen Werdegängen auf schwer greifbare, fast magische Weise verknüpft. Deshalb sollten wir stets offen bleiben für Neues, Möglichkeiten zum Austausch über die Fachgrenzen hinaus nutzen und unvorhergesehene Chancen mutig ergreifen.

Ich danke C. Walch-Solimena, L. Bornmann, C. Ettl und C. Leibel (Max-Planck-Gesellschaft) sowie C. Cramer (Universität Tübingen) für wertvolle Informationen und kritische Kommentare.

Zur Person
Patrick Cramer ist seit 2014 Direktor am Göttinger MPI für biophysikalische Chemie, das 2022 mit dem MPI für experimentelle Medizin zum MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften fusionierte. Dort leitet er die Abteilung Molekularbiologie. Im Juni 2022 wurde er für die Amtsperiode bis 2029 zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft gewählt.

Bild: Tim Teebken (Bearb.: U. Sillmann)


Weitere Forscher-Essays aus dem Laborjournal-Archiv


- Aufbruch in die molekulare Systembiologie (Essay aus dem Jahr 2014 von Patrick Cramer, Göttingen)

Was bringt einen erfolgreichen Strukturbiologen dazu, sich in das Minenfeld der funktionalen Genomik zu begeben? Neugier!

- Warum Netzwerke Leben und Karriere vereinfachen (Essay von Ulrike Kaltenhauser, Martinsried)

„Beziehungen zu haben“ haftet ein schlechter Ruf an. Doch wieso eigentlich? Beziehungen sind etwas zutiefst Menschliches und zudem keine Einbahnstraße: In Netzwerken profitieren alle Akteure. Auch Sie.

- Die Sache mit dem Telefonbuch – oder ist Abstraktion in der Biologie möglich? (Essay von Petra Schwille, Martinsried)

Ein einfaches biologisches System, das die Komplexität zellulärer Vorgänge auf ein „biologisches Wasserstoffatom“ reduziert, könnte dabei helfen, das Phänomen „Leben“ besser zu verstehen.

 

 



Letzte Änderungen: 22.08.2023