Editorial

Die Entdeckung der Langsamkeit

(08.09.2023) Faultiere sind die langsamsten Säugetiere, klar. Verglichen mit gewissen Tiefsee-Bakterien sind sie jedoch wahre Raser. Jedenfalls, was ihren Stoffwechsel betrifft.
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Schnecken sind langsam, Faultiere auch. Das wird jeder Mensch so sehen, weil er sich selbst als Bezugrahmen nimmt. Und weil er von daher die Leistungen und Qualitäten anderer Lebewesen stets aus menschlicher Perspektive bewertet.

Diese anthropozentrische Sichtweise schleicht sich immer wieder auch in die Wissenschaft ein. So teilte vor kurzem beispielsweise ein brasilianisches Forscherteam neue Ergebnisse über Schneckengifte mit (Mar. Drugs 17(6): 370) – und beginnt den Artikel mit den Sätzen: „Kegelschnecken sind Meeresschnecken, die eines der stärksten Gifte der Natur besitzen. Diese Gifte, Conotoxine genannt, müssen schnell auf die Beute der Kegelschnecken wirken, da Schnecken extrem langsam sind.“

Sicher, im Vergleich zu uns sind sie das. Aber hätten ein Meeresschwamm, ein Moostierchen oder gewisse Muscheln diesen Artikel geschrieben, würden sie Schnecken sicherlich nicht als „extrem langsam“ bezeichnen.

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Langsam, aber dennoch schnell

Ebenso findet man in der wissenschaftlichen Literatur eine ganze Reihe von Artikeln, die dem Faultier eine „extrem niedrige Stoffwechselrate“ bescheinigen. Erst vor sechs Jahren ermittelten etwa US-Forscher für das Dreizehenfaultier einen Energieumsatz von 162 Kilojoule pro Tag und Kilogramm. Deren Presse-Kommentar lautete daraufhin: Dreizehenfaultiere sind die langsamsten Säugetiere der Welt.

Das mag erstmal stimmen. Aber dennoch: Treten wir einen Schritt zurück und nehmen die Gesamtheit aller Lebewesen als Bezugsrahmen, sind Faultiere – genauso wie Schnecken – vergleichsweise schnell. Sowohl hinsichtlich der rein physikalischen Bewegung wie auch, was die Geschwindigkeit ihres Stoff- und Energieumsatzes betrifft.

Jetzt werden natürlich einige kommen – und sagen: „So ein Schlaumeier! Ist doch klar, dass so gut wie alle Tiere schnell sind, wenn man die ganzen Pflanzen, Pilze und Bakterien mit in die Rechnung nimmt.“

Ähnliche Stoffwechselraten überall

Zugegeben, das trifft zu, wenn man lediglich das Ausmaß physikalischer Bewegung als Messgröße für die Geschwindigkeit nimmt. Dies – und das hat sich oben ja schon angedeutet – tut der Bioprofi jedoch nicht! Für ihn ist vielmehr die Stoffwechselrate der Parameter schlechthin für das Lebenstempo. Denn wie wir alle im Biologie-Unterricht gelernt haben, steht eine lebende Zelle in ständigem Austausch mit Stoffen und Energie. Beides muss stetig rein-, durch- und wieder rausfließen, damit die Zelle niemals von einem Fließgleichgewicht in ein stabiles thermodynamisches Gleichgewicht kippt. Passiert ihr letzteres, ist sie nämlich tot. Der ständige Fluss von Stoffen und Energie ist folglich das wesentliche Merkmal des Lebens schlechthin – und daher ganz nebenbei auch das zentrale Maß für dessen Geschwindigkeit.

Und damit haben wir jetzt die Situation, dass die praktisch bewegungslosen Pflanzen, Pilze und sogar viele Bakterien tempomäßig plötzlich gar nicht so schlecht dastehen. „Bezogen auf die Masse sind die mittleren Stoffwechselraten über sämtliche Organismenreiche hinweg auffällig ähnlich“, stellte etwa vor einigen Jahren ein großangelegter Übersichtsartikel zum Thema als Fazit fest (PNAS 105: 16994-99). Archaeen, Bakterien, Pilze, Pflanzen, Tiere – so gesehen leben also alle im Mittel gleich schnell.

Wie langsam kann Stoffwechsel laufen?

Im Mittel, wohlgemerkt! Das ist wichtig, denn die Streuung ist teilweise erheblich. Was wiederum heißt, dass sich in all diesen Organismenreichen die Bandbreite der Stoffwechselraten über mehrere Größenordnungen erstreckt. So setzt beispielsweise der Kolibri Stoffe und Energie rund hundertmal schneller um als ein Elefant. Ganz zu schweigen von der Langsamkeit des Faultiers.

Folgerichtig ging man im Rahmen dieses Konzepts weiterhin theoretisch davon aus, dass Stoff- und Energiefluss ein gewisses Minimaltempo nicht unterschreiten dürfen, damit die essentiellsten Lebensprozesse überhaupt noch ablaufen können. Dass das Faultier aus dieser Perspektive sogar eher rasant unterwegs ist, dürfte klar sein. Jedoch hätte bis vor kurzem wohl kaum jemand gedacht, dass irgendwelche Lebewesen diesen Fluss so unglaublich langsam fließen lassen könnten, wie es unlängst mikrobielle Lebensgemeinschaften in der Tiefsee offenbarten.

Die Entdeckung dieser extremen Langsamkeit fing damit an, dass ein dänisch-deutsches Team nördlich von Hawaii mehrere Sedimentsäulen aus dem Meeresgrund des Nordpazifischen Wirbels ausstach. Dieser Nordpazifische Wirbel gilt aus verschiedenen Gründen als kaum durchmischt und extrem nährstoffarm, sodass sich innerhalb von tausend Jahren weniger als ein Millimeter neues Sediment absetzt.

Unter der Messgrenze

Diese Verhältnisse haben ungewöhnliche Folgen. Findet man in normal durchmischtem Meeresgrund wegen der hohen Aktivität von Oberflächensediment-Bakterien ab wenigen Zentimetern Tiefe praktisch keinen Sauerstoff mehr, beträgt dessen Eindringtiefe im Nordpazifischen Wirbel gleich über dreißig Meter. Und wo Sauerstoff ist, kann bekanntlich Leben gedeihen.

So auch hier. Bis zu einer Sedimenttiefe von dreißig Metern spürte das besagte Forscherteam eine ganze Reihe bislang unbekannter Bakterien auf (Science 336: 922-5). In zwanzig Metern Tiefe betrug deren Dichte noch etwa tausend Zellen pro Kubikzentimeter. Gleichzeitig nahm die Sauerstoff-Respirationsrate rapide ab: von 10 Mikromol pro Liter und Jahr am Übergang von Sediment zu Wasser runter auf 0,0001 Mikromol in dreißig Metern Tiefe. Die zelluläre Respirationsrate der Bakterien betrug demnach ab einem guten Meter Sedimenttiefe abwärts stabile 0,001 Femtomol Sauerstoff pro Zelle am Tag. Das ist das Milliardstel eines Millionstel Mols. Messen kann man das nicht mehr, nur indirekt berechnen.

Mehr tot als lebendig?

Ganz klar, Stoffwechsel kann mit solchen Werten allenfalls unvorstellbar langsam laufen. Die Studienautoren gehen daher davon aus, dass diese Bakterien mit der absolut minimalsten Energiezufuhr leben, die überhaupt möglich ist. Und diese reiche womöglich nur dafür aus, dass gerade mal die allerwichtigsten Enzyme arbeiten und ein elektrisches Potenzial über die Zellmembran aufrechterhalten bleibt. Die Geißeln, die die meisten dieser Tiefseebewohner tatsächlich noch besitzen, schlagen wohl schon lange nicht mehr – das würde ein solcher Energiehaushalt nicht mal annähernd hergeben. Und wann sich das letzte Mal eine der Bakterienzellen geteilt hat, ...?

Nimmt man nun noch dazu, dass das betreffende Sediment in 20 bis 30 Metern Tiefe sich seit 86 Millionen Jahre praktisch nicht verändert hat, muss man davon ausgehen, dass dessen Bewohner schon genauso lange darin ... Ja, was eigentlich? Leben? Oder gerade so nicht sterben?

Ein langsameres Leben gibt es wohl nicht. Praktisch ohne jegliche Evolution. Und seit Millionen von Jahren stets nur knapp vom Tod getrennt.

Und jetzt sage noch einer, Schnecken oder Faultiere seien langsam.

Ralf Neumann

(Foto: Animal Planet)

 

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Letzte Änderungen: 06.09.2023