Editorial

Betrugsskandal
oder Provinzposse?

(19.09.2023) Inwieweit fördern mutmaßlich manipulierte Abbildungen die eigene Karriere, wenn sie lange unentdeckt bleiben? Eine Verdachtsberichterstattung.
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Im Western Blot von Abbildung 5A in Meissner et al. (2011) zeigt das Hintergrundrauschen an mehreren Stellen identische Muster. Sichtbar sind sie erst nach Kontrasterhöhung.

Das Internet vergisst nicht – wovon natürlich auch wissen­schaftliche Aufzeichnungen nicht ausgeschlossen sind. So wies Claire Francis Anfang Juni 2023 Laborjournal auf eine PubPeer-Diskussion potenzieller Bildmanipulationen in jahrzehnte­alten Publikationen einer Hannoveraner Wissen­schaftlerin hin.

Bei der Wissenschaftlerin handelt es sich um Privatdozentin Renate J. Scheibe. Seit ihrer Dissertation 1988 erforscht sie mit ihrer Arbeitsgruppe am Zentrum Biochemie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Fragestellungen rund um den Skelettmuskel und seiner Fasertypen. Insgesamt trug sie zu 35 wissen­schaftlichen Publikationen bei. Von 2008 bis 2020 förderte die DFG ihr Projekt zur „Funktionellen Analyse der Wirkungs­mechanismen der fasertyp­spezifischen Genregulation im Skelettmuskel“ mit einer Sachbeihilfe.

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Außerdem ist Renate J. Scheibe für das Modul „Molekulare Signal­regulation im Skelettmuskel und Herz“ des MHH-Master­studiengangs Biochemie verantwortlich. Die Hochschule zeichnete die Blockkurse der Arbeitsgruppe Scheibe jedes Jahr zwischen 2017 und 2021 mit ersten und zweiten Plätzen als beste Wahlpflicht­module der MHH aus. Eine Professur blieb der Privatdozentin bisher jedoch verwehrt.

Warum stehen gleich elf Publikationen der Hannoveraner Muskel­physiologin aus den Jahren 1996 bis 2013 auf PubPeers Prüfstand? Weil sich Auffälligkeiten in ihnen häufen: Mal erscheinen identische Banden in unterschiedlichen Northern Blots, Western Blots und Electrophoretic Mobility Shift Assays, mal findet sich das identische Hintergrund­rauschen in unterschiedlichen Spuren von Immunoblots, mal sind diese aus mehreren Experimenten zusammen­kopiert, mal scheinen Fluoreszenz­mikroskopie-Bilder aus Bildabschnitten mehrerer Aufnahmen zusammen­gesetzt. Auffällig dabei: Alle Bildanomalien erinnern an das Ergebnis von Kopier- und Klonpinseln gängiger Bild­bearbeitungs­programme.

Eine löchrige Verteidigung?

Wie reagierte Renate J. Scheibe auf die PubPeer-Nachfragen zu ihren Publikationen? Für sechs von 22 fraglichen Abbildungen präsentierte sie deren Original­aufnahmen. Teilweise überzeugten diese die Kommentatoren, teilweise warfen sie neue Fragen auf. Zu den restlichen 16 Abbildungen erklärte sie sich nicht. Auch gegenüber Laborjournal wollte sie sich nicht äußern.

An ihrer Stelle ergriff Gerolf Gros das Wort, der über 30 Jahre die Arbeitsgruppe Vegetative Physiologie an der Medizinischen Hochschule Hannover leitete. Insgesamt publizierten beide 18-mal gemeinsam. Auf PubPeer erklärte der seit 2008 emeritierte Professor, keine Abbildung sei manipuliert worden. Manche Fluoreszenz­aufnahmen seien zwar ähnlich, aber nicht identisch. Schließlich würden höchst regelmäßige Muskel­strukturen abgebildet. Lehrbücher und Reviews seien reich an derartigen Ähnlichkeiten. Als die PubPeers ihn baten, Beispiele für sich wiederholende identische Merkmale in Veröffent­lichungen anderer Labore zu nennen, reagierte er nicht mehr.

Unrecht hat er indes nicht. Natürlich können sich Banden in Immunoblots ähneln. Ebenso können Mikroskopie­aufnahmen ähnliche Zellstrukturen zeigen. Doch wie lassen sich identische Körnungsmuster im Hintergrund­rauschen von Abbildungen erklären? Könnten sich vielleicht alle Auffälligkeiten auch einfach als unglückliche Kombination von Schlampigkeit und harmlosen Artefakten infolge von beispielsweise Bildkompressionen erweisen?

Auffällige Publikationen?

Insgesamt trat Renate J. Scheibe in ihrer Forschungs­karriere sechsmal als Erstautorin in Erscheinung, 20-mal in mittlerer Position einer Autorenliste, achtmal als Letztautorin. Die auffälligen elf Publikationen aus den Jahren 1996 bis 2013 umfassen sieben ihrer acht Letztautor­schaften und zwei ihrer sechs Erstautor­schaften, aber nur eine von 20 Publikationen mit ihrem Namen in mittlerer Position. Die Auffälligkeiten scheinen also mit dem Einfluss zu korrelieren, den Scheibe auf Manuskripte hatte. Besteht ein kausaler Zusammenhang?

Drei der vier restlichen unauffälligen Erstautor­schaften publizierte Renate J. Scheibe am Anfang ihrer Forschungs­karriere 1991 und 1992. Die erste Windows-Version der vielleicht bekanntesten Bild­bearbeitungs­software des US-Software­herstellers Adobe kam Ende 1992 auf den Markt. Zuvor war Bildbearbeitung nur eingeschränkt möglich. Ist das nur Zufall?

Könnte eine andere Autorin oder ein anderer Autor vielleicht für die Bildanomalien verantwortlich sein? Scheibes häufigster Koautor war Joachim Meißner, der in seiner MHH-Arbeitsgruppe Kardiomyozyten charakterisiert. Zu acht der elf fragwürdigen Publikationen trug er bei, fünfmal als Erstautor. Keine seiner 23 anderen Publikationen steht jedoch auf PubPeer in der Kritik. Gegenüber Laborjournal wollte sich Meißner nicht äußern. Zu fünf von Scheibes elf fragwürdigen Publikationen trug zwischen 2001 und 2011 außerdem Gerolf Gros bei. Auf die umstrittenen Abbildungen in den Artikeln davor und danach hatte er keinen Einfluss. Auf vier Publikationen aus den Jahren 1996 bis 2000 findet sich der Name des seit 2005 emeritierten MHH-Professors Walter Heinz Müller. Auf die Abbildungen im Jahrzehnt danach hatte er keinen Einfluss. Neben Renate J. Scheibe gibt es also also keine Personalie, die Zugriff auf die Bilddaten aller auffälligen Publikationen gehabt haben könnte.

Seit 2013 trug Scheibe nur zu sechs Publikationen bei – als Mittelautorin. Niemals war sie seitdem federführend als Erst- oder Letztautorin beteiligt. Auch ohne Publikations­erfolge im letzten Jahrzehnt finanziert die MHH die Arbeitsgruppe von Privatdozentin Scheibe weiter – seit nunmehr durchgehend dreißig Jahren. Scheibe war nie an einem anderen Institut tätig – zumindest hat eine eventuelle Tätigkeit außerhalb der MHH keinerlei Spuren in ihrer Publikationsliste hinterlassen. Auf allen ihren Artikeln zwischen 1996 und 2016 – egal ob auf PubPeer diskutiert oder nicht – taucht erst durchgehend MHH-Professor Walter Heinz Müller, dann durchgehend MHH-Professor Gerolf Gros unter gleicher Adresse auf. Wie beeinflusste deren Patronat die offensichtliche Stellensicherheit der Privatdozentin?

Wer klärt auf?

Gros war der einzige von 37 Koautoren der elf fragwürdigen Publikationen, der sich auf PubPeer neben Scheibe zu Wort meldete. Gegenüber Laborjournal erklärte er Mitte Juni 2023: „Die PubPeer-Analysen sind bereits Gegenstand einer Ombuds­untersuchung der MHH. Bevor diese Untersuchungen abgeschlossen sind, können noch keine Aussagen dazu gemacht werden.“

Auch Beate Schwinzer, die Leiterin der Geschäftsstelle Ombudswesen der MHH, konnte aus Gründen der guten wissenschaftlichen Praxis (GWP) und des Umgangs mit Verdachtsfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens keinerlei Auskunft geben.

In der vorletzten Juniwoche 2023 teilte Schwinzer Laborjournal mit: Eine Vorprüfung von Verdachtsfällen sei gemäß § 13 der GWP-Richtlinien der MHH binnen zwölf Wochen abzuschließen. Im aktuellen Fall ergibt das Mitte September 2023. Eine sich eventuell anschließende „förmliche Untersuchung“ solle dann „möglichst zügig“ durchgeführt werden. Wie lange das dauere, sei aber „individuell sehr unterschiedlich“. Auch würde von Fall zu Fall entschieden, inwieweit die Öffentlichkeit informiert würde.

Der Vorsitzende der GWP-Kommission an der MHH ist übrigens Matthias Gaestel, der Direktor des MHH-Zentrums Biochemie – und somit Renate J. Scheibes direkter Vorgesetzter. Auf der jüngsten auf PubPeer kritisierten Publikation von Scheibe findet sich Gaestel als Koautor. Bereits der Forschungsbericht 2008 der MHH führt beide als Kooperations­partner auf.

Außer bei der MHH fragte Laborjournal auch bei den elf betroffenen Fachzeitschriften nach, inwieweit sie sich mit den auf PubPeer geäußerten Verdachtsfällen auseinandersetzen. Bis zum Redaktionsschluss reagierten nur drei von elf Verlagen. Von der PubPeer-Diskussion wusste nur eine Fachzeitschrift, nämlich The Journal of Physiology. Alle drei Journale beteuerten allerdings, jegliche geäußerten Bedenken äußerst ernst zu nehmen und den höchsten Standards der Publi­kations­ethik verpflichtet zu sein. Mit Verweis auf die Richtlinien des Committee on Publication Ethics (COPE) konnten sie jedoch keine Auskunft zu ihren Maßnahmen geben. Es bleibt also abzuwarten, wie Arbeitgeber und Fachzeitschriften Scheibes Publikationen bewerten. Muss sie sich Sorgen machen?

Hinweis: Die Zellbiologin Renate J. Scheibe an der MHH ist nicht zu verwechseln mit der Pflanzen­wissenschaftlerin Renate Scheibe von der Universität Osnabrück, die seit 2017 dem von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG) eingesetzten Gremium „Ombudsman für die Wissenschaft“ angehört.

Henrik Müller

Bild: Meissner et al.

Dieser hier leicht gekürzte Artikel erschien zuerst in Laborjournal 9/2023.


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Letzte Änderungen: 19.09.2023