Editorial

Der „Fall T.-L.“

(10.10.2023) Es ist völlig klar, dass in unserem aktuellen Wissenschaftssystem Skandale wie der rund um Marc Tessier-Lavigne zwangsläufig passieren müssen.
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Mit großer Fanfare ist im Juli dieses Jahres der Präsident der Stanford University Marc Tessier-Lavigne zurückgetreten. Die Weltpresse berichtete darüber auf den Titelseiten. Eine hochrangig besetzte externe Kommission war zu dem Schluss gekommen, dass Tessier-Lavigne zwar wohl keinen direkten Wissenschafts­betrug begangen hatte. Allerdings waren in seinem Labor und unter seiner Verantwortung über viele Jahre Daten und Bilder manipuliert, vor allem Abbildungen in Artikeln unsachgemäß kopiert, eingefügt oder geschnitten worden. Zudem wurden Ergebnisse dupliziert und als separate Experimente ausgegeben sowie Kontrollen mehrfach verwendet. Und in einigen Fällen waren Abbildungen gestreckt, gedreht und bearbeitet worden, um die experimentellen Daten gezielt zu verändern – was die Kommission letztlich als Absicht zur Verschleierung der Manipulation interpretierte. Dazu kamen noch ganz grundlegende Fehler in der Biostatistik.

Zwölf Artikel, publiziert in Journalen wie Nature, Cell und Science, hatte die Kommission untersucht. In allen fand sie jede Menge schlechte wissenschaftliche Praxis – und dazu noch einiges an offensichtlichem Wissenschaftsbetrug.

Editorial

Wer die Online-Plattform Retraction Watch verfolgt oder regelmäßig die Wissenschaftsseiten der Presse liest, den wird das nicht vom Hocker hauen. Eine fast schon gewöhnliche, ja mittlerweile langweilige Mischung von Daten- und Bildmanipulationen, mit denen Wissenschaftler spektakuläre Storys für Top-Journale stricken. Der Narr hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass all dies inzwischen zur Normalität im wissenschaftlichen Publikationswesen gehört (LJ 1-2/2023: 22-24). Aufmerksamkeit erhielt dieser Fall nur deshalb, weil an der Spitze des Skandals einer der prominentesten und mächtigsten Wissenschaftler der USA stand. Andere Personen wurden gar nicht genannt oder zur Verantwortung gezogen.

Für den Narren wird die Angelegenheit aber nicht deshalb zum Material. Vielmehr ist die Sache gerade in ihrer Gewöhnlichkeit interessant und relevant. Denn sie liefert uns eine Reihe von Lektionen über unser System Wissenschaft – insbesondere zu den Aspekten:
- Wissenschaftliche Integrität;
- Verhalten von wissenschaftlichen Institutionen und akademischen Journalen angesichts offensichtlicher Fehler in Veröffentlichungen;
- Versagen des Peer-Review-Prozesses und Stärken des Post-Publication-Peer-Reviews;
- Interessenkonflikte von Wissenschaftlern und Kommissionsmitgliedern;
- Umgang von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit ihren Fehlern;
- Rolle des Journalismus, wenn es um die „Selbstkorrektur“ der Wissenschaft geht;
- Effektivität von studentischem Aktivismus;
- Übernahme von Verantwortung für wissenschaftliche (Miss-)Erfolge;
- Leitung wissenschaftlicher Arbeitsgruppen;
- Das Prinzip „Publish or Perish“.

Zunächst aber: Was war eigentlich genau passiert? Der Star unserer Geschichte ist Marc Tessier-Lavigne, ein franko­kanadischer Neurowissenschaftler, zunächst tätig an der University of California San Francisco, dann Präsident der Rockefeller University, danach Executive Vice President for Research and Chief Scientific Officer bei Genentech, Mitglied der National Academy of Science – und seit 2016 Präsident der Stanford University. Aber er beeindruckt nicht nur als akademische Führungskraft. Vielmehr listet PubMed unter seinem Namen 283 wissenschaftliche Publikationen, ein großer Teil davon in Glam-Journalen wie Cell, Nature und Science. Google Scholar findet für seine Artikel über 80.000 Zitierungen und belohnt ihn mit einen h-Index von 152.

Ein „Academic Superhero“ also! Zitate über Tessier-Lavigne dazu aus einem „Profile“-Artikel in Nature Medicine: „Er hat diese erstaunliche Fähigkeit, das zu erledigen, was erledigt werden muss.“ ... „Die Geschichten über Marc handeln im Grunde alle davon, dass Marc perfekt ist.“ ... „Er ist einer jener Menschen, bei denen die Dinge anscheinend [sic] immer genau richtig liefen.“

Auftritt Theo Baker, Stanford-Student im zweiten Jahr und Redakteur der Studenten­zeitung Stanford Daily. Im November 2022 schreibt er einen Artikel darüber, dass es auf der Post-Publication-Review-Plattform PubPeer eine Menge negative Kommentare zu Artikeln gibt, die Tessier-Lavigne mitverfasst hat. Diese wiesen auf duplizierte, verschobene oder anderweitig manipulierte Blots sowie weitere Ungereimtheiten in den Arbeiten hin.

Baker und seine Kommilitonen recherchierten weiter, und es folgten weitere Berichte im Stanford Daily über die wachsende Liste von fragwürdigen Studien sowie möglicherweise gefälschte Ergebnisse in einer Nature-Studie von 2009. Damals war Tessier-Lavigne führender Wissenschaftler bei der Biotech-Firma Genentech. Der Artikel beschreibt, dass das Amyloid-Precursor-Protein (APP) an den Death-Receptor 6 bindet, und verkauft dies als vielversprechenden neuen Ansatz für die Alzheimer-Therapie. Schlüsselbefunde dieser Studie konnten in der Folge jedoch nicht reproduziert werden, und Genentech ruderte schließlich zurück.

Die Stanford University wollte sich der studentischen Bericht­erstattung mit einer internen Untersuchung entledigen. Anlässlich der offen einsehbaren und diskutierten Kommentare auf PubPeer war bis dato gar nichts geschehen. Damit bei der internen Untersuchung nichts anbrennt, wählte man als Ausschuss-Mitglied den Gründer einer Investmentfirma, die wiederum einen Anteil von 18 Millionen US-Dollar an einem Unternehmen besaß, das von Tessier-Lavigne gegründet worden war. Erst eine Anfrage des Stanford Daily führte dazu, dass dieser „mögliche Interessenkonflikt“ offenbart wurde.

Jetzt war die Uni also gezwungen, eine hochrangig besetzte externe Untersuchungs­kommission einzusetzen, der unter anderem auch „Digital-Image-Forensiker“ angehörten. Der fast hundert Seiten starke Kommissions­bericht wurde am 17. Juli 2023 veröffentlicht (Link hierzu, wie auch zu anderen Quellen, wie immer unter http://dirnagl.com/lj).

Die Kommission war nicht überall freundlich empfangen worden. Sie fand manch unkooperativen Co-Autor vor sowie auch frühere und jetzige Mitarbeiter von Tessier-Lavigne, die aus Furcht vor Repressionen keine Aussagen machen wollten. Fazit der Untersuchung war, dass keine Beweise für eine „direkte Datenmanipulation“ durch Tessier-Lavigne gefunden wurden. Allerdings habe er eine Umgebung gefördert, die zu einer „ungewöhnlichen Häufigkeit an Manipulation von Forschungsdaten und/oder mangelhaften wissenschaftlichen Praktiken“ in Labors an mehreren Einrichtungen geführt hatte. Als ab 2001 (!) verstärkt Bedenken hinsichtlich seiner Veröffentlichungen auftraten, habe er es zudem versäumt, Fehler im wissenschaftlichen Kontext „eindeutig und entschlossen“ zu korrigieren. Vielmehr habe er im Labor eine Kultur generiert, in der „Gewinner“ – also Postdocs, die günstige Ergebnisse erzielen konnten – belohnt wurden, und „Verlierer“ – also Postdocs, die nicht in der Lage waren oder Schwierigkeiten hatten, solche Daten zu erzeugen – marginalisiert oder abgewertet wurden.

Sehr diplomatisch formulierte die Kommission abschließend: „Die ungewöhnliche Häufigkeit der Manipulation von Forschungsdaten und/oder mangelhafter wissenschaftlicher Praktiken durch verschiedene Personen zu verschiedenen Zeiten in Labors, die von Dr. Tessier-Lavigne an verschiedenen Einrichtungen betreut wurden, deutet darauf hin, dass es möglicherweise Gelegenheiten zur Verbesserung der Labor­überwachung und des Managements gegeben haben könnte.“

Was lernen wir nun aus dieser Affäre? Zunächst einmal, dass sich meist weder Autoren noch Journals noch Institutionen proaktiv an der Aufklärung von Auffälligkeiten in Studien beteiligen, wenn solche publik gemacht werden. Seit fast zehn Jahren wurden Fehler und mögliche Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis in Tessier-Lavignes Arbeiten öffentlich diskutiert.

Oft wird im Zusammenhang mit Skandalen wie diesem darauf hingewiesen, dass gerade sie doch belegen, dass die Wissenschaft „selbst­korrigierend“ ist. Stimmt schon – nur dauert es meist über zehn Jahre, bis das passiert. Eine Schlüsselfigur und Co-Autorin im Tessier-Lavigne-Fall ist übrigens mittlerweile Professorin an einer anderen sehr prominenten US-Uni geworden – auch mithilfe der betrügerischen Artikel. Bis zur Korrektur vergeht aber nicht nur viel Zeit, vielmehr geschieht sie in der Regel auch nur in solch prominenten Fällen, bei denen sich letztlich eine Armee von Amateur- und Profi-Forensikern über die Arbeiten hermacht. Dabei stand in diesem Fall hier alles schon seit 2015 auf PubPeer. Aber solche Post-Publication-Reviews werden in der Regel nicht nur ignoriert, sondern sogar aktiv unterdrückt.

Gleichzeitig lernen wir aus der Angelegenheit, wie nützlich der Post-Publication-Peer-Review ist. Beim „normalen“, anonymen Pre-Publication-Peer-Review bekommen die Gutachter keinen akademischen Credit, und die Community sieht nicht, was diese über den Artikel zu sagen hatten. Beim Post-Publication-Peer-Review liegt stattdessen alles offen, häufig auch die Identität derer, die sich die Mühe gemacht haben, ganz genau hinzusehen. Credit hingegen gibt es auch keinen, dafür aber im schlimmsten Fall juristische Konsequenzen.

Wie gerade eben wieder geschehen: Die Autoren des Wissenschaftsblogs Data Colada – Leif Nelson, Joe Simmons und Uri Simonsohn – werden gerade von Francesca Gino auf 25 Millionen US-Dollar Schaden­ersatz verklagt. In einer Serie von vier Beiträgen hatten sie auf ihrem Blog im Rahmen eines sehr aufwendigen und kompetenten Post-Publication-Reviews aufgedeckt, dass die prominente Professorin der Harvard Business School in großem Stil Daten manipuliert hatte. Auf der Crowdfunding-Website GoFundMe versuchen Sympathisanten deshalb gerade, die vermutlich fälligen, bis zu 600.000 US-Dollar hohen Anwaltskosten für den Prozess hereinzuholen. Über 300.000 US-Dollar haben sie schon zusammen!

Der „Fall T.-L.“ birgt darüber hinaus aber auch eine Lektion über den Umgang mit Fehlern. Falls es stimmt, dass Tessier-Lavigne nicht aktiv an den Schlampigkeiten, Manipulationen und Betrügereien beteiligt war, hätte er doch lange genug Zeit gehabt, sich um deren Aufklärung zu bemühen sowie Corrections oder Retractions zu veranlassen. Doch Fehlanzeige! Denn Fehler werden in Top-Laboren schließlich nicht gemacht! Dabei wissen wir alle, dass wir Fehler machen – in der Forschung und beim Publizieren. Aus Furcht vor Sanktionen oder geschädigtem Ruf werden diese aber unter den Teppich gekehrt, abgestritten und so weiter. Und anstatt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für positive Fehlerkultur zu belohnen, überziehen wir sie mit Häme, falls doch mal was rauskommt. Mir jedenfalls ist eine ordentliche Retraction nach einem „Honest Error“ viel lieber als ein schlechtes Nature-Paper (siehe dazu den Wissenschafts­narren in LJ 1-2/2019, S. 22-23: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“).

Überdies haben wir hier auch ein schönes Beispiel dafür vor uns, dass Studentinnen und Studenten oft mehr „Power“ haben, als wir ihnen oder sie sich selbst zutrauen. Ohne die Redakteure der Studenten­zeitung würde die Angelegenheit weiterhin in PubPeer begraben liegen. Sicher half dabei, dass Theo Baker der Sohn des Chefkorrespondenten der New York Times im Weißen Haus ist. Nicht nur Professoren, sondern auch Studenten haben bisweilen potente Netzwerke.

Natürlich geht es im Umfeld von Tessier-Lavigne auch um viel Geld. Auf fast dreißig Patenten ist er laut Google Patents gelistet, und auch die finanziellen Interessen von Genentech und der Stanford University spielen mit hinein. Außerdem gibt es Firmen, die er gegründet hat oder bei denen er im Board of Directors sitzt. Ein äußerst fruchtbarer Boden für multiple Interessenkonflikte bei der Forschung – und mehr noch bei der Aufarbeitung von möglichen Verfehlungen. Dass dies nicht nur Theorie ist, hatte sich ja bei der Besetzung der Untersuchungs­kommission mit einem Geschäftspartner von Tessier-Lavigne gezeigt.

Und auf noch etwas wirft der „Fall T.-L.“ ein Schlaglicht, über das (zu) wenig gesprochen wird: Die Leitung von großen Forschergruppen durch Personen, die durch Administration oder andere Tätigkeiten eigentlich viel zu wenig Zeit haben, um sich vor Ort mit der nötigen Expertise um die Betreuung der Forschung zu kümmern. Die im Wesentlichen für die Politics, die Ressourcen und das Renommee zuständig sind, die aber so tun, als wären sie selbst noch die genialen Ideengeber und Garanten für Forschungs­qualität. Diese Fiktion wird nolens volens von den PhD-Studenten, den Postdocs und den aufstrebenden AG-Leitern vor Ort mitgetragen. Auf eine unausgesprochene Abmachung vertrauend hoffen sie nämlich, mit dem Netzwerk des Chefs in dessen Windschatten Karriere zu machen. Das wiederum klappt jedoch meist nur für die „Gewinner“, die mit ihren Ergebnissen Material für spektakuläre Storys liefern, wie das die Stanford-Kommission so schön formulierte.

Dieser Typus Chef, für den Tessier-Lavigne wohl ein Rollenmodell war, sonnt sich im Licht der Paper aus seinen Laboren und steht auch auf großen Anträgen gerne vorne – schließlich hilft das auch unbestritten bei deren Akzeptanz. Sobald es allerdings Probleme gibt und eklige Vorwürfe im Raum stehen, weisen sie jede Verantwortung von sich. Eilfertig behaupten sie dann, sie hätten von nichts gewusst und könnten doch eh nicht alles überprüfen, was da in ihrem Großbetrieb so geforscht wird. Außerdem sei Wissenschaft sowieso Vertrauens­sache, dazu waltet doch die Forschungsfreiheit.

Plötzlich wird also mit der Wahrheit argumentiert: Sie wissen ja gar nicht, was in ihren Laboren wirklich abgeht. Und diese Ausrede funktioniert sogar: Tessier-Lavigne wurde nicht für Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis gerügt, sondern für seine Schwäche als akademischer Führer. Deshalb musste er als Führer einer Uni zurücktreten. Der Wissenschaftler T.-L. kommt mit einem leichten Imageschaden davon.

Die ultimative Lehre aus dem „Fall T.-L.“ und gleichzeitig die kaum überraschende Erklärung für alles, was da passiert ist: Ein Wissen­schafts­system, das zuvorderst nicht auf einer Wissens-, sondern auf einer Reputations­ökonomie basiert, muss ganz notwendigerweise solche Skandale produzieren. Deshalb kommen sie ja auch immer wieder vor. Wir sollten uns aber nicht täuschen: Diese Skandale sind nicht das eigentliche Problem. Vielmehr ist es die tägliche Praxis, die aus dieser Reputations­ökonomie für uns alle resultiert, die wir in einem solchen System forschen. Publish or perish.

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj.


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Letzte Änderungen: 10.10.2023