Editorial

Unkultivierbar,
aber Gold wert

(16.10.2023) In Boston und Bonn arbeiten Forscher daran, unkultivierbaren Bakterien antibakterielle Substanzen zu entlocken. Das hat schon mehrfach geklappt.
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Das Bodenbakterium Eleftheria terrae produziert nicht nur Teixobactin, sondern auch Clovibactin.

Und schon sind wir wieder mittendrin, in der alljährlichen Infektionswelle. Von Oktober bis April sorgen Bronchitis, Influenza, Pneumonie und viele andere Atemwegs­infektionen für Aufregung in den Spitälern. Von den Symptomen her lässt sich nicht ohne Weiteres erkennen, ob sie viralen oder bakteriellen Ursprungs sind, und zu gern nutzen Bakterien den geschwächten Zustand für eine sekundäre Superinfektion. Im Zweifelsfall, aus Vorsorge, auf Patienten­drängen hin oder aus sonstigen unerklärlichen Gründen werden großzügig Antibiotika verschrieben (Int J Environ Res Public Health, 16(1):27). Der rote Teppich für Resistenzen ist ausgebreitet, und viele Erreger lassen sich nicht lange bitten.

Laut dem Surveillance Atlas of Infectious Diseases sind beispielsweise in Südeuropa schon 40 % der Staphylo­coccus-aureus-Isolate resistent gegen Methicillin. Sie sind bekannt unter dem gefürchteten Kürzel „MRSA“, also Methicillin-resistant Staphylo­coccus aureus. Höchste Zeit, neue Antibiotika zu finden. Die Suche sollte allerdings etwas gezielter ablaufen als einst bei Alexander Fleming.

Editorial

Neue Goldmine angezapft

Schon vor Jahrzehnten haben Forscher und Forscherinnen Mikro­organismen-Kulturen systematisch auf ihre antibakterielle Wirkung hin gescreent und so die heutigen Antibiotika aufgespürt. Diese Goldmine ist mittlerweile erschöpft, denn erneute Suchen führten mehrfach schon zu bereits entdeckten Antibiotika. Was wir brauchen, ist eine neue Goldmine. Die gute Nachricht: sie ist bereits entdeckt und angezapft – und vermutlich sogar viel ergiebiger als die erste.

Geschätzte 99 % aller Bakterien gelten als „nicht kultivierbar“. Sie oder vielmehr ihre Produkte sind daher in Screens nicht aufgeploppt. Aber was heißt schon „nicht kultivierbar“. Jedes lebende Bakterium „frisst“ und vermehrt sich, ist also potenziell kultivierbar. Die Crux besteht darin, geeignete Kultivierungs­bedingungen zu schaffen, und das nicht nur für eine Handvoll, sondern für tausende Kandidaten­stämme. Der Heuhaufen muss groß sein, und die Suche nach den Nadeln effizient. Erfolge verbuchten dabei vor allem Entwickler der iChip-Technologie (Appl Environ Microbiol, 76(8): 2445-50).

iChip steht für „isolation chip“ und ist eine Konstruktion aus hunderten winzigen Diffusions­kammern. Wochenlang lässt man Bakterien zum Wachsen Zeit, sodass auch sporenbildende und wirklich langsame Vertreter irgendwann auftauchen. Das erste auf diese Weise entdeckte Antibiotikum war Teixobactin, produziert vom Boden­bakterium Eleftheria terrae (Nature, 517: 455–9). Teixobactin stört die Zellwand­synthese, indem es Lipid II und III bindet – Vorstufen der bakteriellen Zellwand­bausteine Peptidoglycan und Teichonsäure. Die Killerstrategie von Teixobactin wirkt universell gegen Grampositive, denn besagte Lipidvorstufen sind hochkonserviert. Gramnegativen Bakterien hingegen, einschließlich E. terrae selbst, kann Teixobactin nichts anhaben.

Vielversprechender Sandbewohner

Speziell gegen Mycobakterien und dabei vor allem den Tuberkulose-Erreger Mycobacterium tuberculosis richtet sich Lassomycin. Es inhibiert die ATP-abhängige ClpP1P2C1-Protease und stammt ebenfalls aus einem iChip-Screening (Chem Biol, 21(4): 509-18). Zu neu entdeckten Waffen gegen Tuberkulose zählt auch Amycobactin, ein Protein­export-Inhibitor (mBio, 11(4):e01516-20).

Jetzt lassen die iCHIP-ler, ein internationales Team um Kim Lewis von der Northeastern University in Boston und unter Beteiligung der Arbeitsgruppe von Tanja Schneider an der Uni Bonn, erneut aufhorchen. Gemeinsam mit NMR-Spektroskopie-Spezialisten von der Universität Utrecht um Erstautorin Rhythm Shukla untersuchten sie die antibakteriellen Fähigkeiten von Eleftheria terrae ssp. carolina, einem Sandbewohner aus North Carolina. Seine enge Verwandtschaft mit dem Teixobactin-Produzenten trotz völlig unvoreingenommener Screening-Protokolle deutet auf einen heißen Kandidaten und vor allem auf E. terrae als vielversprechende Antibiotika-Quelle überhaupt hin. Eleftheria ist eine seltene Gattung innerhalb der beta-Proteo­bakterien.

Spannend gestaltete sich die Ursachensuche für die beobachtete antibakterielle Wirkung. Shukla et al. fraktionierten Extrakte von E.-terrae-ssp.-carolina-Kulturen und testeten Fraktion für Fraktion auf inhibierende Wirkung gegen verschiedene Mikro­organismen. Dabei identifizierten sie Kalimantacin, ein schon bekanntes Antibiotikum. War also alle Aufregung umsonst gewesen? Nein, denn Kalimantacin wirkt nicht gegen Bacillus subtilis, die Kulturextrakte taten dies aber sehr wohl. Sie mussten also noch ein anderes Bakterien-„Gift“ enthalten.

Unbekanntes Depsipeptid

Um die Kalimantacin-Effekte bei der Antibiotika-Suche auszublenden, knockten die Forscher und Forscherinnen entsprechende Gene kurzerhand aus. HPLC-Analysen und Bioassays brachten schließlich die gesuchte Fraktion und eine Substanz zutage, die Datenbanken bislang völlig unbekannt war. Gemäß Struktur­analysen per MS/NMR handelte es sich um ein Depsipeptid. Acht Aminosäuren sind hierbei über Amid- und Esterbindungen verbunden. Seine Entdecker tauften es „Clovibactin“ und stellten fest: Es hat eine entfernte Ähnlichkeit zu Teixobactin.

Wie aber verläuft seine Synthese? Mit dem Hintergedanken einer hocheffizienten Produktion wäre das eine essentielle Information. Genom­sequenzierung und antiSMASH (ein Portal für die Gencluster-Suche) konnten einen hypothetischen Syntheseweg aufzeigen. Dabei bewerkstelligt ein Gencluster aus vier Genen die recht komplexe Entstehung. Die Homologie zum Teixobactin-Gencluster (72 %) war erfreulich gering und die Chancen, eine Substanz mit neuem Wirkmechanismus in Händen zu halten, entsprechend groß.

Erste Anzeichen dafür kamen aus Bioassays an S. aureus. Sowohl Teixobactin als auch Clovibactin bringen den Erreger um. Während aber Teixobactin für seine Zelllyse zwingend Mitarbeit seitens S. aureus benötigt (AtlA, Autolysin), schadet Clovibactin auch AtlA-defizienten S. aureus. Die allgemeine Wirksamkeit von Clovibactin gegen das Who’s who der fiesen Erreger ist gut, jedenfalls gegen Prominente von S. aureus, S. epidermis, S. haemolyticus und eine Vielzahl anderer grampositiver Mieslinge inklusive dem Tuberkulose-Erreger. Gegen gramnegative Bakterien hingegen sieht es mau aus.

Personen statt Petrischalen

Um tatsächlich irgendwann einmal als Antibiotikum eingesetzt werden zu können, in Personen statt in Petrischalen, darf die Substanz nicht toxisch sein. Die ersten Untersuchungs­ergebnisse lassen hoffen. Säugerzellen (HIH/33, HepG2) fühlten sich selbst bei 100 µg/ml ungestört. In vivo, nämlich intravenös verabreicht an Mäuse (40 mg/kg), brachte Clovibactin ebenfalls keine Schäden hervor. Mäuse mit stillgelegtem Immunsystem überstanden eine absichtliche S.-aureus-Infektion, wenn sie Clovibactin bekommen hatten.

So stellte sich schließlich die alles entscheidende Frage: Welche Moleküle oder Synthesewege greift Clovibactin an? Eigentlich würden Analysen zur Resistenzrate hier weiterhelfen. Dabei plattiert man Abermillionen von Bakterien auf Clovibactin-haltigem Medium aus, sucht nach lebenden Kolonien und vergleicht ihr Profil mit normal kultivierten Pendants. In diesem Fall hat das aber nicht funktioniert, was eigentlich erfreulich ist. Die Resistenzrate von S. aureus gegenüber Clovibactin ist weniger als 10-10.

Zur Klärung des Mechanismus verfolgten die Forscher also Plan B: sie markierten Vorstufen der DNA-, RNA-, Protein- oder Glucosamin-Synthese und verglichen deren Einbauraten in S. aureus ohne beziehungsweise mit Clovibactin-Behandlung. Bis einschließlich Protein-Synthese verläuft alles unauffällig, doch bei der Glucosamin-Synthese schlägt Clovibactin hart zu. Einbauraten sind hier auf unter 18 % gedrosselt, noch stärker als mit Vancomycin (22%).

Seltsame Ausstülpungen

Der ziemlich eindeutige Hinweis auf eine gestörte Zellwand­synthese erhärtete sich in einem völlig unabhängigen Testsystem. B. subtilis mit Promoter-LacZ-Konstrukten diente als Reporter und wurde mit Clovibactin beziehungsweise einschlägigen Antibiotika konfrontiert. Charakterisierte Promotoren, die bei gestresster DNA-, RNA-, Protein- oder Zellwandsynthese anspringen, würden zu einem blauen Halo rund um die inhibierte Zone führen. Mit Clovibactin war dies ausschließlich beim Zellwandsynthese-Promoter der Fall. Außerdem offenbarten geplagte B. subtilis seltsame Ausstülpungen. Statt in üblicher Stäbchenform erscheinen sie unterm Mikroskop wie geschwollene Kniegelenke.

In S. aureus erschien Fluoreszenzstoff-markiertes Clovibactin (Bodipy-FL) in der Trennschicht sich gerade teilender Bakterien. Im Septum lägen demnach die Moleküle, auf die es Clovibactin abgesehen hat. Heißester Kandidat wäre Lipid II, welches gewöhnlich am Ende des Zellwand-Synthesewegs verbraucht wird. Festkörper-NMR-Spektroskopie bestätigte Lipid II als Target, unmittelbarer Kontakt ist die Pyrophosphat­gruppe. Einen Beweis, dass Clovibactin durch Wegschnappen dieser Moleküle den Bakterientod herbeiführt, gibt es auch. S.-aureus-Kulturen, die zeitgleich Clovibactin und Lipid II bekam, überlebten.

Als das internationale Forschungsteam das Konzentrations­verhältnis variierte, zeigte sich, dass ein Molekül Clovibactin mindestens zehn Moleküle Lipid II lahmlegt. Das klingt nach größeren Komplexen. Tatsächlich bilden sich flexible Fibrillen. Derart verunstaltetes Lipid II wird als Baustein für die Peptidoglycan-Synthese völlig unbrauchbar. Das Schicksal teilen weitere essenzielle Peptidoglycan-Vorstufen, etwa C55PP und Lipid IIIWTA. Clovibactin, so es denn den Einzug in die Medizin schafft, hat gute Chancen für eine langfristige Karriere. Seine Zielorganismen müssten schon mit einer wirklich gewieften Resistenz­strategie daherkommen, um ihre Zellwand­bausteine vor dem Einsperren durch Clovibactin zu schützen. „Klouvi“, griechisch für „Käfig“, war namensgebend.

Andrea Pitzschke

Shukla R. et al. (2023): A new antibiotic from an uncultured bacterium binds to an immutable target. Cell, 186(19):4059-4073.e27.

Bild: William Fowle (Northeastern University)


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Letzte Änderungen: 16.10.2023