Editorial

Künstlicher
Retina-Diagnostiker

(25.10.2023) Eine künstliche Intelligenz erkennt in Aufnahmen des Augenhintergrundes, ob sich Herz- oder Nierenkrankheiten anbahnen.
editorial_bild

Die sogenannte medizinische künstliche Intelligenz (KI) unterstützt Ärztinnen und Mediziner bei der Diagnose von Krankheiten oder bei der Forschungsarbeit. Die Ergebnisse der KI sind umso treffsicherer, je genauer ihr zugrunde liegendes Modell ist. Das Modell muss dazu mit gut charakterisierten Daten trainiert werden, etwa Lungen­röntgen­bildern oder Brust-Scans, in denen Experten einschlägige krankheits­typische Schatten oder Punkte markiert oder als nicht-pathologisch gekennzeichnet haben. Experten sind rar, und ihre Zeit erst recht. Effektiver wäre es, wenn die KI von Beginn an eigenständiger arbeiten könnte und nicht auf die Daten-Vorarbeit von Menschen angewiesen wäre. Sie müsste selbstständig definieren, worauf sie achten muss, also zum Beispiel nicht nur auf die einschlägig bekannten Merkmale, sondern auch auf subtilere Veränderungen.

Editorial

ChatGPT beim Medizin-Studium

Für dieses sogenannte selbst­überwachte Lernen (Self-Supervised Learning, SSL) ist ein Basismodell (foundation model) für maschinelles Lernen nötig, das mit riesigen Datenmengen vortrainiert wird und danach an unterschiedliche Aufgaben angepasst werden kann. SSL-Modelle erkennen in Datensätzen auch ohne Hilfe des Menschen charakteristische Eigenschaften oder Konstellationen. Beispiele hierfür sind ChatGPT und Co., die einen großen Sprach-Datensatz in Form kompletter Sätze und Texte zu einem Basismodell verarbeiten. Das Basismodell bringt sich durch Self-Supervised Learning bei, wie es Geschichten nicht nur erfinden kann, sondern bei diesen auch den passenden Tonfall trifft, etwa für eine öffentliche Rede.

Der Datensatz kann statt aus Sprache auch aus klinischen Aufnahmen bestehen. Die SSL-KI kann sich quasi selbst zum Mediziner ausbilden und übertrifft mit ihren Einschätzungen mitunter sogar ihre menschlichen Kollegen. Dass dies kein Hirngespinst ist, zeigt Pearse Keanes Artificial-Medical-Intelligence-Gruppe am University College London. Sie konzentrierte sich auf Retina-Bilder, die längst nicht nur für Augenärzte von Interesse sind. Die zwei häufigsten Aufnahmetypen in der Augenheilkunde sind Farbaufnahmen des Augenhintergrundes (Colour Fundus Photography, CFP) sowie optische Kohärenz­tomografie (Optical Coherence Tomography, OCT).

Einblick ins ZNS

Spezifische Besonderheiten in der Retina können Anzeichen für bestimmte systemische Krankheiten sein. Das Forschungsfeld, das sich damit beschäftigt, wird inzwischen auch als Oculomics bezeichnet. Der optische Nerv und die inneren Retina­schichten gewähren Einblick in das Gewebe des Zentralnervensystems, ohne Skalpell oder Nadel zücken zu müssen. Aus der Gefäßgeometrie der Retina lässt sich auf den Zustand vaskulärer Organsysteme schließen. Strukturen in der Retina oder ihr vorschnelles Altern sind zum Beispiel Ausdruck chronischer Nierenschwäche (NPJ Digit Med, 6:114). Ebenso kündigt eine geschädigte Retina Herzinfarkt oder Demenz an. Umgekehrt verändern derartige Krankheiten langfristig die Retina.

Es existieren bereits diverse KI-basierte Tools, die versuchen, aus Retina-Bildern Krankheiten abzulesen oder vor deren Entstehung zu warnen. Die dazugehörigen Modelle sind auf die Erkennung einer bestimmten Krankheit trainiert, ein universelles Modell fehlt bislang. Um diese Lücke zu schließen, hat Keanes Team das SSL-basierte Basismodell für Retina-Bilder (RETFound) mit fast 1,6 Millionen CFP- und OCT-Aufnahmen trainiert, die in den letzten zwanzig Jahren im Moorfield-Krankenhaus in London angefallen sind. Die Aufgabe der KI bestand zunächst darin, lückenhafte Darstellungen zu schließen. War nur hie und da ein Stückchen Retina abgebildet, musste die KI das Bild vervollständigen. Die Bilddaten stammten von über 350.000 Patienten, darunter 37.000 inzwischen bestätigte Diabetiker. Auch lagen Informationen zu systemischen Krankheiten aller Patienten vor, egal, wann und an welchem englischen Krankenhaus diese einst diagnostiziert wurden. Es existierten beispielsweise Zeitreihen von Augenbildern, die vor und nach einem Herzversagen aufgenommen wurden.

Auskunftsfreudiger Algorithmus

Mit ausreichend vielen Bildersets kann RETFound die Krankheits­entstehung anhand kleinster Veränderungen der Retina nachvollziehen und Prognosen zur zukünftigen Erkrankung stellen. Der Algorithmus lässt sich dabei in die Karten schauen und gewährt Einblick in die Entscheidungen, die zu seiner Diagnose führten. Kritische anatomische Strukturen oder auch ungewöhnliche Konstellationen, die für die Diagnosen als ausschlaggebend identifiziert wurden, werden in Heatmaps visualisiert. Da als Lernstoff für die KI auch Aufnahmen dienten, die über mehrere Jahre hinweg von Patienten entstanden waren, kann sie altersbedingte von krankheits­verdächtigen Veränderungen unterscheiden.

RETFounds Diagnosen sind genauso gut oder meist besser als die von etablierten Tools, die sich auf konkrete Krankheiten fokussieren. Sowohl OCT- als auch CFP-Daten sind wichtig, weil sie unterschiedliche Detail­informationen enthalten. Vom Gedanken, CFP-Aufnahmen aus dem augenärztlichen Alltag zu verbannen, weil sie teuer sind, hält die Gruppe daher nichts. CFP-Aufnahmen können beispielsweise dazu dienen, verlässlichere Herzinfarkt-Prognosen zu erstellen. Mit OCT-Aufnahmen kann die KI hingegen Parkinson schneller erkennen.

Die Entwickler stellen RETFound der Öffentlichkeit frei zur Verfügung. Sie weisen aber darauf hin, dass es ausschließlich auf britischen Patientendaten basiert und empfehlen daher RETFound mit zusätzlichen „eigenen“ Bilddaten zu kalibrieren. Ausgereizt sehen sie das Diagnose- und Prognose­potenzial von RETFound noch lange nicht. Es enthält zum Beispiel noch keine Co-Variablen, etwa die Sehschärfe, und auch die Kombination der bislang nur getrennt analysierten CFP- und OCT-Daten könnte noch wertvolle Muster zutage fördern.

Andrea Pitzschke

Zhou Y. et al. (2023): A foundation model for generalizable disease detection from retinal images. Nature, 622: 156-63.

Bild: Pixabay/SarahSever




Letzte Änderungen: 25.10.2023