Editorial

Sonderausgaben –
Fluch oder Segen?

(21.11.2023) Jedes Jahr erscheinen sechs Prozent mehr Publikationen als noch im Vorjahr. Die Verursacher sind schnell ausgemacht – doch so einfach ist es nicht.
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Werbung für eine Sonderausgabe des MDPI-Journals Batteries

MDPI spaltet. Lautstarke Stimmen in der Wissenschaftsgemeinde sehen in den derzeit 430 Fachzeitschriften des Schweizer Multi­disciplinary Digital Publishing Institute ausnahmslos Raubjournale. Sein explosives Wachstum seit der Gründung 2010 könne nur mit mangelnder Manuskriptqualität einhergehen. Leisere Wortmeldungen genießen dank MDPI indessen die Freiheit, Wissen nicht länger in starren Journalen mit einer festen Anzahl von Ausgaben organisieren zu müssen.

Ein im September 2023 erschienenes Preprint gibt eher dem Kritiker-Lager recht und gelangt zu einem wenig schmeichelhaften Urteil über MDPI. Das Manuskript (arXiv. doi.org/kx5q) bestätigte den Schiedsspruch, den Mitautor und Ökonom Paolo Crosetto bereits im April 2021 in seinem Privatblog erlassen hatte: MDPI veröffentlicht von Jahr zu Jahr überproportional mehr Artikel als andere Verlage. Mit seinem explosiven Wachstum von 1.080 Prozent zwischen 2016 und 2022 ist das Baseler Verlagshaus einer der Hauptverantwortlichen für die aktuelle Überforderung des Publikationswesens, wissenschaftliche Qualität zu sichern.

Tatsächlich besteht der größte konzeptionelle Unterschied zum Geschäftsmodell anderer Wissenschaftsverlage in MDPIs Flut an Sonderausgaben. Während andere Verlagshäuser neben ihren vier bis 24 Standardausgaben pro Jahr nur vereinzelt Special Issues verlegen, machen sie bei MDPI 88 Prozent aller Publikationen aus. Zum Vergleich: Hindawi und Frontiers veröffentlichten 2022 ganze 62 beziehungsweise 69 Prozent ihrer Manuskripte in Special Issues. Bei BMC, Nature Publishing Group, PLoS, Springer und Wiley liegt die Sonderausgaben-Quote im einstelligen bis knapp zweistelligen Prozentbereich.

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Verführerische Möglichkeiten

Was macht Sonderausgaben besonders? Ihre ursprüngliche Idee ist es, Beiträge zu einem bestimmten Forschungsthema, einer Wissenschaftspersönlichkeit oder einer Konferenz für einen begrenzten Zeitraum zu sammeln. Sie unterscheiden sich von Standardartikeln dadurch, dass sie nicht von den Autoren selbstständig eingereicht werden, sobald ihre Forschungsprojekte ein publikationswürdiges Stadium erreicht haben, sondern von Zeitschriften und deren Editoren eingeladen werden. Häufig delegieren Verlage die Verantwortung für Special Issues auch komplett an Gast-Editoren.

Eine Diskussion auf dem Mikroblogging-Dienst Mastodon machte Laborjournal auf Jochen Strube aufmerksam, den Direktor des Instituts für Thermische Verfahrens- und Prozesstechnik an der TU Clausthal und Editorial Board Member der monatlich erscheinenden MDPI-Fachzeitschrift Processes. Seit ihrer Gründung 2013 hat die Zeitschrift knapp 900 Sonderausgaben veröffentlicht. Bis Ende 2024 sollen weitere 570 Special Issues folgen. Die Arbeitsgruppe von Jochen Strube verantwortete mehrere davon.

Das Erstaunliche daran: Strube und seine Kollegen agierten nicht nur als Gast-Editoren bei drei Sonderausgaben, sondern das Institut für Thermische Verfahrens- und Prozesstechnik stellte bei 41 der 42 Publikationen auch 90 Prozent der Autoren. Überall ist Strube Letztautor. Entsprechend einig sind sich die Teilnehmer der Mastodon-Diskussion: Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hat Jochen Strube seine eigenen Manuskripte an sich selbst als Journal-Editor geschickt, Gutachten eingeholt und dann entschieden, ob die Gutachten ausreichend Qualität für eine Veröffentlichung seiner Manuskripte widerspiegeln?

Transparente Sonderausgaben

Die Website von Processes erklärt: „Processes ist ein Mitglied des Committee on Publication Ethics (COPE). Wir halten uns voll und ganz an dessen Verhaltenskodex und seine Leitlinien.“ Die COPE-Richtlinien besagen, dass Editoren kein Manuskript bearbeiten, Gutachter einladen oder an Entscheidungen beteiligt sein dürfen, wenn sie Mitautoren sind. Nur so lassen sich Interessenkonflikte vermeiden und die Integrität des Peer-Review-Prozesses bewahren.

Genau mit dieser Transparenz sei bei MDPI mit allen drei Sonderausgaben verfahren worden, sagt Strube gegenüber Laborjournal. Er sei dort nur als Organisator tätig gewesen, der Ausschreibungstexte verfasste und von dem sich der Verlag Namen von Autoren erhoffte. Für alle eingereichten Manuskripte wähle MDPI außerdem akademische Editoren aus, auf die Strube keinen Einfluss hätte und meist nicht einmal kenne.

Dass fast alle Publikationen der drei Special Issues aus Strubes eigener Arbeitsgruppe stammen, erklärt er gegenüber Laborjournal mit mangelndem Interesse anderer Arbeitsgruppen. Insofern sieht er die Flut an Sonderausgaben nicht ganz unkritisch. Von ihm angefragte Autoren betreuten laut seinen Worten meist eigene Special Issues als Gast-Editoren und mussten diese mit ähnlichen Themen füllen.

Ihre Manuskripte durchliefen mindestens zwei, meist drei, manchmal sogar vier Revisions­runden, die er alle als hart, aber konstruktiv erlebt habe, erklärt der Clausthaler gegenüber Laborjournal. Das sei der gleiche ergebnis- offene Review-Prozess mit unbekannten Gutachtern wie bei MDPIs Konkurrenz auch.

Eine Frage der Arbeitsabläufe?

Doch Strube führt zwei entscheidende Vorteile auf: Zum einen verfüge MDPI über eine riesige Peer-Review-Datenbank, die den Verlag in die Lage versetze, Gutachter in relativ kurzer Zeit zu motivieren. Das klappe bei MDPI drastisch besser als bei anderen Verlagen. MDPI hake sofort nach, wenn ein Manuskript auch nur für Stunden rumläge. Als Gutachter bekäme man dann klipp und klar gesagt, bis wann man liefern müsse – sonst würde sich der Verlag einen anderen Sachverständigen suchen. Andere Journale handhabten das nicht derart stringent, schildert Strube seine Erfahrung.

Neben dieser Veröffent­lichungs­geschwindigkeit mache für Strube auch der Preis den Unterschied. MDPI sei für ihn eine willkommene Alternative, sagt er. Bei Elsevier zum Beispiel veröffentliche er nicht, weil die TU Clausthal dessen Journale nicht bezahlen und er seine eigenen Publikationen somit gar nicht selbst lesen könne.

Solange der Interessenkonflikt kommerzieller Verlage zwischen Wissensverbreitung und Gewinnmaximierung besteht, wird sich die Wissenschaftsgemeinde mit der Grauzone zwischen seriösen und räuberischen Verlagen schwertun. Oder mangelt es den Wissenschaftlern aller Hierarchiestufen einfach an Phantasie? Können sie sich nicht von den Konventionen des letzten Jahrhunderts lösen und scheuen noch immer die Ungewissheiten des Digitalzeitalters? Hauptsache ist doch, dass ein funktionierendes Peer-Review-Verfahren gewährleistet bleibt – dann könnten die eigenen Forschungsdaten auch im Forschungsblog der Arbeitsgruppe oder des Instituts erscheinen, oder?

Hinweis: Nach Redaktionsschluss erreichte Laborjournal eine Nachricht von MDPIs Pressestelle: Ab sofort dürfen Gast-Editoren nur je einen Artikel für ihre Sonderausgabe einreichen und der Gesamtbeitrag ihrer Manuskripte wird auf 25 Prozent begrenzt.

Henrik Müller

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 11/2023.

Bild: MDPI


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Letzte Änderungen: 21.11.2023