Editorial

Woke Wissenschaft

(05.12.2023) Warum hinkt Deutschland bei der Erhöhung von Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (Diversity, Equity, Inclusion) in der Wissenschaft derart hinterher?
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Sie befinden sich mit Kollegen mitten in der internationalen Begutachtung Ihres großen, kollaborativen Forschungsantrages. Gerade läuft die gemeinsame Runde mit den Antragstellern, dem Gleichstellungsbeauftragten, dem Dekan sowie anderen Würdenträgern der Uni. Der Dekan zeigt Statistiken zum Frauenanteil bei den Antragstellern und Postdocs, zur Kinderbetreuung und zum Frauen-Mentoring. Die Gutachter aus den angelsächsischen und skandinavischen Ländern werden zunehmend unruhig – bis einer von ihnen schließlich unterbricht: „Sehr schön, das mit der Frauenförderung, aber das ist doch mittlerweile alles selbstverständlich. Wo bleibt die Förderung von Diversity, Equity und Inclusion (DEI) jenseits der Gender-Perspektive?“

Große Ratlosigkeit bei den Antragstellern. Manch einem scheint gar nicht klar, worum es dabei geht. In letzter Sekunde verweist man auf die PhD-Studentinnen und -studenten aus verschiedenen Ländern, aber die Gutachter tuscheln bereits untereinander ...

Editorial

Mehrmals war der Wissenschaftsnarr in den letzten Jahren bei Begutachtungen Zeuge eines solchen Szenarios, bei dem die Antragsteller und Uni-Leitungen schwer ins Schwitzen kamen. Im deutschen Wissenschaftssystem arbeitet man sich nämlich noch vorrangig an der Erhöhung des Frauenanteils ab, ein erweiterter Diversitätsbegriff hat sich dagegen noch nicht so recht durchgesetzt. Dabei gibt es neben Gender-Aspekten noch andere wichtige Dimensionen von Diversität („Vielfältigkeit“) – wie etwa Alter der Forschenden, Internationalität, Vielfalt der Ideen, Forschungsfelder und Herangehensweisen sowie vieles andere mehr.

Bei deutschen Wissenschaftlern ruft die Erwähnung von Diversität im Forschungskontext vielmehr häufig Stirnrunzeln hervor, wenn nicht gar unverhohlenen Hohn. So lamentierten etwa der Vizepräsident des Deutschen Hochschulverbandes sowie Ex-Dekan der Medizinischen Fakultät der Uni Frankfurt am Main, Josef Pfeilschifter, und sein professoraler Kollege Helmut Wicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „dass die ideolo­gischen/politi­schen Programme der Diversitäts- und Identitätspolitik im Kern antiaufklärerisch, totalitarismuskritisch, konstruktivistisch und vor allem machtorientiert sind.“ Und wähnten „dahinter [...] eine wissenschaftsfeindliche Ideologie.“

Sie verkennen dabei, dass die Förderung von Vielfalt im Wissenschaftssystem nicht nur wichtig ist, um im Antragsgeschäft vor internationalen Gutachtern zu punkten, sondern vor allem um die Qualität der Forschung zu steigern, Innovation voranzutreiben sowie sicherzustellen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft die Vielfalt der Gesellschaft angemessen repräsentiert und respektiert. Als Lordsiegelbewahrer des akademischen Status quo verschließen sie insbesondere die Augen davor, dass wir all dies bitter nötig haben – und das nicht nur in Deutschland.

Warum lassen sich Forschungsergebnisse, auch solche von hochrangig publizierten Studien, häufig nicht wiederholen – Stichwort „Replikationskrise“? Warum häufen sich prominente Fälle von Plagiarismus und Datenmanipulation bis hin zum Wissenschaftsbetrug? Warum nimmt trotz gigantischem Input das von uns produzierte wirklich neuartige Wissen gleichzeitig ab? „Paper und Patente werden immer weniger disruptiv“ titelte erst vor kurzem eine in Nature veröffentlichte Studie (der Wissenschaftsnarr berichtete hierzu in LJ 3/23: 22-24). Haben wir vielleicht ein ganz grundlegendes Problem bei der Auswahl von Personal und Projekten in der Wissenschaft?

Wie effektiv die Wissens­generierung ist, hängt schließlich auch von den Kriterien ab, nach denen Forschungsgelder verteilt werden. Hierfür hat sich weltweit der „Peer Review“ etabliert. Gelder werden nicht mit der Gießkanne oder per Los verteilt, sondern nach gegenseitiger Begutachtung durch Experten der wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Das klingt sehr vernünftig, nur bringt es auch Probleme mit sich. Gerade zuletzt haben sich diese aufgrund des enormen Anstiegs von Forschung und deren Resultaten massiv verschärft. Denn bewertet wird heute im Wesentlichen nach den Kriterien „Exzellenz“ und „Originalität“‘. Diese Begriffe sind soziale Konstrukte zur Verteilung von Forschungsmitteln, Ideale, die uns wenig darüber sagen, wie gut die zu beurteilende Wissenschaft tatsächlich ist – aber alles darüber, wer die Auswahl trifft.

Gutachter neigen dazu, die Forschung von Wissenschaftlern zu bevorzugen, die ihrer eigenen „ähnelt“. Da zukünftige Forscher-Generationen von den aktuellen Kollegen ausgewählt und gefördert werden und weil Individuen sowieso dazu tendieren, aufgrund bewusster und unbewusster Vorurteile Personen auszuwählen, die ihnen und ihren Überzeugungen ähneln, werden Forscherteams immer homogener. Da zudem objektive und quantifizierbare Kriterien für Exzellenz und Originalität in der Wissenschaft fehlen und die Flut der zu begutachtenden Projekte und Forschenden immer weiter anschwillt, hat sich in vielen Forschungsfeldern weltweit ein Surrogat-Kriterium für die Auswahl durchgesetzt: Das Renommee der Zeitschriften, in denen die Forscherinnen und Forscher bisher veröffentlicht haben – meist gemessen in einer einzigen Zahl: dem Impact-Faktor. Dieser sagt allerdings nichts über die Qualität und die Wichtigkeit von deren Forschung aus, sondern misst lediglich, wie häufig das betreffende Journal insgesamt zitiert wird.

Die hierauf beruhende und mittlerweile allgemein durchgesetzte Reputa­tions­ökonomie führt zu einer Fokussierung auf vergangene Leistungen und einer Betonung des Mainstreams. Das System ist dabei homophil: Bei Auswahlprozessen kommen die Mitglieder homogen zusammengesetzter Kommissionen zu ähnlichen Entscheidungen, da man die gleiche Wertematrix teilt. Mit der Folge, dass Kandidatinnen und Kandidaten mit Projekten, die vom Bekannten abweichen und deshalb risikoreicher sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit aussortiert werden. Noch dazu kommt es zur Konzentration von Ressourcen, frei nach Matthäus (Mt. 25, 29): „Wer hat, dem wird gegeben“.

Führende Wissenschaftsorganisationen und Forschungsförderer (einschließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, DFG) beklagen daher seit einiger Zeit weltweit, dass es der Wissenschaft an Diversität fehle. Die sprichwörtlichen „alten weißen Männer“ – also die arrivierten, immer noch überwiegend männlichen Professoren – entscheiden darüber, wer woran forschen darf. Man muss sich nur die Zusammensetzung der Kommissionen und Kollegien der DFG oder die Liste der Nobelpreisträger anschauen.

Diese Homogenität der Entscheidungsträger führt in der Folge zu geringer Diversität der beforschten Fragestellungen wie auch der Faktoren, die auf den Forschungsgegenstand Einfluss haben. Konkret bedeutet dies, dass Forscher insbesondere in der Biomedizin und den Verhaltens-, aber auch in vielen Geisteswissenschaften bisher fast ausschließlich einen kleinen Teil der Menschheit und deren Umwelt ins Visier genommen haben: Menschen aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, wohlhabenden und demokratischen Gesellschaften. Doch die meisten Menschen auf diesem Planeten sind gar nicht WEIRD (White/Western-Educated-Industrialized-Rich-Democratic).

Bei Diversität geht es folglich keineswegs nur um das Geschlecht. Ethnizität, Alter, Fähigkeiten, kultureller und sozio­ökonomischer Hintergrund, „atypische“ Karrierewege und so weiter spielen für Vielfalt eine mindestens ebenso große Rolle. Dabei sollte es eigentlich überraschen, dass die Wissenschaft überhaupt ein Diversitäts-Problem bei ihrem Personal hat: Wissenschaftler reisen zu Kongressen und Forschungsaufenthalten in ferne Länder, viele PhD-Studentinnen kommen aus dem Ausland zu uns und deutsche Postdocs erhalten Auslands-Forschungsstipendien.

Auch ist in den frühen Karrierephasen das Geschlechter-Verhältnis vielfach noch recht ausgeglichen. All dies ändert sich aber kontinuierlich mit zunehmendem Alter und Karrierestadium der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auf dem Level der Professoren und Abteilungs- oder Institutsdirektoren, also bei denjenigen, die im System das Sagen haben, dominieren wie oben beschrieben die deutschen Männer – mit typischer, sehr homogener Sozialisation im System. Wie eben Pfeilschifter, Wicht und der Wissenschaftsnarr. So schließt sich der Kreislauf, und es ist dafür gesorgt, dass sich nichts ändert. Und es ist daher auch gar nicht überraschend, dass häufig insbesondere diejenigen Wissenschaftler, die es im System so weit gebracht haben, ein Problem mit dem Ruf nach mehr „Diversität“ in der Forschung sowie in der Bewertung ihres Personals und dessen Produkten haben.

Dabei ist es sehr plausibel, dass Diversität Forschung innovativer und kreativer sowie robuster, origineller und globaler machen kann; dass sie Qualität und Zusammenarbeit samt der Fähigkeit zur Problemlösung erhöht; dass sie logischerweise den Zugang zu unterrepräsentierten Gemeinschaften bietet – und damit Forschungsfragen breiter und resultierende Ergebnisse insgesamt relevanter werden lässt.

Doch genau hier hob das oben erwähnte Duo Pfeilschifter/Wicht in einem Artikel im Hausblatt des Deutschen Hochschulverbandes zur Gegenrede an. Dies wohl nicht zu Unrecht in der Gewissheit, stellvertretend für den professoralen Mainstream in Deutschland zu sprechen: „Kein Mensch weiß, ob eine diverse Forschungsgruppe überhaupt diversere Ideen hat als ein gleich großer homogener Trupp. Kein Mensch weiß, ob heterogene Forschergruppen erfolgreicher sind als homogene.“

Diese Aussagen zeugen allerdings weniger von der Abwesenheit von Evidenz zum Einfluss von Diversität auf Forschungsqualität und Innovation, sondern sind viel mehr Evidenz für die Abwesenheit von Kenntnis der hierzu existierenden Studienlage (eine Auswahl davon sowie von anderen hier verwendeten Quellen wie immer unter dirnagl.com/lj). Richtig ist, dass es wenig gezielte und kontrollierte Interventionen hierzu gibt. Das ergibt sich aber aus der Problematik der Durchführung solcher Studien: Zum Beispiel müsste man verblindet in diverse und weniger diverse Teams randomisieren und dann nach vielen Jahren deren „Erfolg“ vergleichen – was immer man darunter verstehen mag. Wenn man es sich einfach machen wollte, indem man „Erfolg“ als Anzahl von Nature- und Cell-Artikeln definierte, braucht man die Studie jedenfalls gar nicht erst anzufangen. Natürlich produzieren Wissenschaftler, die schon in Cell und Nature veröffentlicht haben, auch weiterhin mehr Cell- und Nature-Papers. Das ist trivial! Wer dies als Kriterium nehmen wollte, hat schlichtweg nicht verstanden, worum es sich hier wirklich dreht.

Deshalb hier nochmals zur Klarstellung, worum es bei DEI in der Forschung geht: Die Vielfalt der Perspektiven diverser Forschungsteams kann zu innovativeren Ansätzen und Lösungen führen, da verschiedene Blickwinkel in die Forschung einfließen. Eine diverse Gruppe von Forschenden ist in einer besseren Lage, verschiedene Probleme und Herausforderungen zu identifizieren, die in monokulturellen Teams möglicherweise übersehen werden. Dies erhöht die Relevanz der Forschung.

Umgekehrt ermöglicht der Einschluss von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Studien das Erheben von repräsentativeren und aussage­kräftigeren Daten, was wiederum zu besseren Ergebnissen führt. Das ist am offensichtlichsten in der Medizin. Forschung, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt, ist meist relevanter und anwendbarer für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Dies erhöht auch die gesellschaftliche Akzeptanz und den Nutzen der Forschung.

Diversität in Forschungsteams kann überdies dazu beitragen, unbewusste Vorurteile und Verzerrungen zu minimieren – das Ergebnis ist objektivere und verlässlichere Forschung. Inklusion ermöglicht es, ein breiteres Spektrum von Talenten und Fachwissen in die Forschung einzubeziehen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Experten für spezifische Forschungsfragen beteiligt sind. Ebenso fördert eine inklusive Forschungsumgebung die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch zwischen Forschenden – was zu besser koordinierten und damit effizienteren Forschungsprojekten führen kann.

Die Erhöhung von Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion hat in allen Bereichen der Gesellschaft normativen Charakter. Das schließt selbstverständlich auch die Wissenschaft ein. DEI im Wissenschaftsbetrieb steht also keineswegs zur Diskussion, wie dies mancher deutsche Professor noch glauben mag. Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion sind Teil der Sustainable Development Goals (SDGs) der UN sowie der Open Science Standards der UNESCO, die überschrieben sind mit „Wissenschaft zugänglicher, inklusiver und gerechter gestalten – zum Nutzen aller.“ Eine durchaus fällige Diskussion zu DEI in der Wissenschaft muss sich daher nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen, ob wir sie wirklich brauchen – sondern damit, wie wir Barrieren bei der Umsetzung überwinden, wie wir sie am effektivsten gestalten und wie wir mögliche negative und unbeabsichtigte Wirkungen vermeiden können.

Neben der Identifikation von Barrieren zählen dazu Fragen wie: Welche Elemente von DEI sind besonders wichtig, um die Qualität der Forschung sicherzustellen? Welche Aspekte von DEI wirken sich besonders auf Innovation aus? Wie unterscheidet sich dies in verschiedenen Forschungskontexten und Disziplinen? Auf welchem Weg kommen wir zu diversen Forschungsteams? Inwieweit ist das gegenwärtige Verständnis von „Qualität” und „Exzellenz“ eine Barriere für mehr Diversität? Wie können wir Team-Science und Interdisziplinarität in einem System fördern, dessen Bewertungsmaßstab individuelle Leistung misst? Gibt es negative Effekte, die bedacht werden müssen? Wieso wird Diversität gefordert, aber kaum gefördert?

Wie so häufig an dieser Stelle wagt der Narr die Voraussage, dass die meisten Antworten auf diese Fragen sehr viel mit der Art und Weise zu tun haben werden, wie wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie deren Produkte bewerten und belohnen.

Ulrich Dirnagl

Zitierte und weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj.


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Letzte Änderungen: 04.12.2023