Editorial

Stabil über Jahrmillionen

(09.01.2024) Biologen entdecken bei Haien die niedrigste bekannte Keimbahn-Mutations­rate im Tierreich. Sie hat nicht nur positive Konsequenzen.
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„Wir wissen zu wenig über Fische“, sagt Manfred Schartl, Professor für Physiologische Chemie am Lehrstuhl für Entwicklungsbiochemie der Universität Würzburg. Schließlich seien fast die Hälfte der sechzig- bis siebzigtausend Wirbeltierarten Fische. Auch gäbe es keine Wirbeltiergruppe, die so viele verschiedene Formen hervorgebracht hat, erklärt er. Seine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit evolutionärer Genomik und Genetik. So hat Schartl an der Sequenzierung der Genome von Quastenflossern sowie australischen und afrikanischen Lungenfischen mitgewirkt. Auch interessiert ihn zum Beispiel die erstaunlich variable Geschlechtsdetermination bei Fischen: Neben Spezies mit männlicher (XX/XY) oder weiblicher (WZ/ZZ) Heterogametie gibt es Fischarten, die sogar drei Geschlechtschromosomen (W, Y, X) besitzen. Hauptsächlich ist Schartl jedoch in der experimentellen Krebsforschung tätig. Als Modellsysteme verwendet er Spiegelkärpflinge und Schwertträger, deren natürliche Nachkommen bei bestimmten Kreuzungen Melanome entwickeln, weil sie eine mutierte Form einer EGF-Rezeptor-Tyrosinkinase überexprimieren.

Im Gegensatz zu diesen beliebten Aquariumsfischen und auch allen anderen Knochenfischen bekommen Haie hingegen nur selten Krebs – eine Tatsache, die zu reißerischen Buchtiteln à la „Sharks don’t get cancer“ und Tausenden abgeschlachteten Tieren führte. „In den USA können Sie in jeder Apotheke Haifischknorpel-Pillen kaufen, obwohl die natürlich überhaupt nicht helfen“, berichtet Schartl, der sich zum Zeitpunkt des Interviews gerade in Texas aufhält.

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Einmalige Möglichkeiten

Ihn interessieren natürlich die biologischen Mechanismen hinter der niedrigen Tumorhäufigkeit. In der Evolutionsforschung gab es schon früh Hinweise, dass die molekulare Uhr von Haien langsam läuft. „Die Vermutung war, dass das mit ihrer Mutationsrate zu tun hat“, erklärt Schartl. Mithilfe von Next Generation Sequencing und einem internationalen Team hat er diesen Verdacht in den letzten Jahren überprüft: „Der Antrieb kam von uns aus Würzburg, und dann habe ich im Kollegenkreis die gesammelt, die man dafür braucht – und hatte die Besten, die es gibt“, freut er sich.

Peter Currie aus Melbourne zum Beispiel machte das ganze Projekt erst möglich: Seine Gruppe erforscht eigentlich die Muskelentwicklung von Zebrafischen. Um Knochen- mit Knorpelfischen zu vergleichen, hat er aber eine Haifischzucht etabliert. Die sei etwas ganz Besonderes, berichtet Schartl: „Es ist weltweit fast einmalig, dass man Fischfamilien hat, bei denen man die Eltern kennt und die Nachkommen zur Verfügung stehen.“

Die Fische in Curries Aquarien sind Epaulettenhaie (Hemiscyllium ocellatum), eine Art aus der Familie der Bambushaie, die vor der Küste Australiens in der Nähe des Great Barrier Reef vorkommt und bis zu einem Meter lang wird. Das Haifisch-Pärchen, von dem alle Daten stammen, wurde vor der Nordostküste Australiens gefangen und zunächst für zehn Monate getrennt gehalten, um Schwangerschaften durch andere Haie auszuschließen.

Mit erfolgreicher Hai-Nachzucht konnte dann der nächste Schritt starten: eine Stammbaum-Sequenzierung, die als Nebeneffekt auch Curries eigener Forschung nutzte, für die er ein hochqualitatives Referenzgenom benötigte. „Da muss bis zur letzten Base alles stimmen“, erinnert sich Schartl. Die Haiforscher isolierten also zunächst genomische DNA aus dem Blut sowohl der Elterntiere als auch aus neun ihrer Embryonen und holten dann Shawn Burgess an Bord. Burgess leitet die Abteilung für Entwicklungsgenomik am Nationalen Institut für Humangenomforschung der USA in Bethesda. Im Rahmen des internationalen Vertebrate Genomes Project koordinierte er die Sequenzierung aller Genome: Eine Arbeitsgruppe an der Rockefeller University in New York erstellte die Sequenzen der beiden Elternhaie; eine Arbeitsgruppe am MPI für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden bearbeitete die DNA der Embryonen. Noch immer ist Schartl von der „fast unfassbaren Qualität, diese fünf Gigabasen so sauber zu sequenzieren“ beeindruckt.

Mutationen? Kaum.

Der Letzte im Bunde war der Molekulargenetiker Leif Andersson von der Universität Uppsala, mit dem Schartl schon lange zusammenarbeitet und dessen Forschung er daher gut kennt: „Er hat vor vielen Jahren die Mutationsrate des Herings bestimmt und verfügt somit über alle dafür notwendigen Bioinformatik-Tools.“ Schließlich ist es keine triviale Aufgabe, Mutationsraten zu untersuchen. Sequenzierfehler können die Berechnung beeinflussen und sowohl falsch-positive als auch falsch-negative Befunde verursachen.

Insgesamt entdeckte Anderssons Arbeitsgruppe zwölf mögliche Mutationen, in denen sich die Genome von Jung- und Elterntieren unterschieden. Daraufhin kontrollierte das Sequenzierzentrum am Dresdener MPI die potenziellen Fundstellen, da es, so Schartl, „letztendlich wichtig ist, Mutationen mit klassischer Sanger-Sequenzierung zu verifizieren“. Und tatsächlich erwiesen sich sieben der zwölf Kandidatenstellen als Sequenzierfehler; nur fünf Positionen enthielten echte Mutationen.

Für eine korrekte Berechnung der Mutationsrate war außerdem noch die Falsch-negativ-Rate wichtig. Also fügten die Wissenschaftler in Uppsala artifizielle „Mutationen“ in bekannte Sequenzen ein und überprüften, wie viele von ihnen ihre Algorithmen entdeckten. Nur 3,9 Prozent übersahen sie. Damit lagen alle Daten zur Berechnung der Mutationsrate vor.

Natürlich deutete bereits die geringe Anzahl an Mutationen auf eine geringe Mutationsrate hin. Dennoch war Schartl überrascht: In der Keimbahn der Epaulettenhaie treten in zehn Milliarden Basenpaaren nur sieben Mutationen auf. Bei Knochenfischen wie dem Hering und dem Buntbarsch liegt die Mutationsrate drei- bis fünfmal höher, beim Menschen ist sie sogar 17-fach höher. Keine bekannte Spezies weist auch nur annähernd so niedrige Werte auf. „Wenn man das herunterbricht, sind es aufs gesamte Genom verteilt nur eine bis zwei Mutationen pro Nachkomme“, fasst Schartl zusammen (Nat Commun, 14(1): 6628).

Was bedeutet das für die Onkogenese bei Haien? „Untersuchungen zeigen, dass die somatische Mutationsrate mit der in der Keimbahn korreliert“, erklärt Schartl. Zwar sei die somatische Mutationsrate um bis zu einem Faktor zehn höher; eine niedrige Keimbahn-Mutationsrate deute dennoch auf eine niedrige somatische Mutationsrate hin. Krebs entsteht zwar auch durch Umwelteinflüsse, „aber die spontane Mutationsrate liefert quasi den Grundstock, die Prädisposition“, erläutert der Würzburger. Warum sie bei Haien so klein ausfällt, erklärt Schartl mit deren Metabolismus: „Eine Alterungstheorie geht davon aus, dass im Stoffwechsel freigesetzte reaktive Sauerstoffspezies die DNA der Mitochondrien schädigen. Erreicht das einen gewissen Punkt, funktioniert der Organismus nicht mehr. Reaktive Sauerstoffspezies sind auch für die Kern-DNA mutagen, und wir gehen davon aus, dass der langsame Stoffwechsel der Haie dafür sorgt, dass sich Mutationen nur langsam anhäufen.“

Die geringe Mutationsrate bringt aber auch Nachteile mit sich, so Schartl: „Für Haie bedeutet sie, dass sie sich evolutionär nur langsam anpassen können.“ In einer Welt, in der Menschen die Lebensräume von Haien durch Klimawandel und Überfischung bedrohen, ist das natürlich besonders brisant. Anhand der Nukleotiddiversität der Elterntiere und der Mutationsrate der Embryonen berechneten die Biologen deshalb die effektive Populationsgröße, um den Epaulettenhai mit hinreichender genetischer Vielfalt dauerhaft zu erhalten. Ihr Ergebnis: 710.000 Exemplare sind dafür notwendig. Für eine genauere Abschätzung ist eine weitere Studie in Arbeit, erzählt Schartl: „Zusammen mit dem Sequenzierzentrum am Dresdener MPI haben wir sechzig weitere Genome sequenziert und untersuchen jetzt die Mutationsrate auf Populationsebene.“ Bei Haiarten, die in kühleren Gewässern leben, könnte sie sogar noch geringer ausfallen, schätzt Schartl.

Der Biologe hofft, dass diese Erkenntnisse den Mythos vom Haifischknorpel als Anti-Krebs-Mittel beseitigen helfen und das sinnlose Abschlachten der Tiere beenden. Dafür sei es höchste Zeit, appelliert er: „Nimmt man den Hai als Räuber am Ende der Nahrungskette weg, passieren Dinge, die das gesamte Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen – und das hat Folgen auch für uns.“ Leider ist das Verhältnis von Menschen zu Haien zwiegespalten: „Viele Menschen sind fasziniert von Haien. Aber dann gibt es auch andere, denen nur einfällt, dass Haie ja süße kleine Seelöwenbabys und Schwimmer vor der kalifornischen Küste fressen, und dass man sie deshalb jagen und töten müsse. Das ist genau die gleiche Situation wie mit dem Wolf in Deutschland. Dagegen hilft nur Aufklärung und Erziehung“.

Schartl ist davon überzeugt, dass jede neue Erkenntnis zur Natur das Bewusstsein für ihren Schutz erweitert. Seine eigene Faszination ist den Haien jedenfalls sicher: „Dass sie einen Weg gefunden haben, sich mit langsamem Stoffwechsel und niedriger Mutationsrate an die Veränderungen ihrer Umweltbedingungen anzupassen und so lange Zeit zu überleben, macht mich ehrfürchtig. Es hat Jahrmillionen gedauert, diese Wunder der Natur hervorzubringen – und es schockiert mich immer wieder, wie schnell wir Menschen sie zerstören“.

Angela Magin

Bild: Frank J. Tulenko, Monash University

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 12/2023.


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Letzte Änderungen: 08.01.2024