Editorial

Einblick in die
dunkle Biodiversität

(22.01.2024) Auch in gut erforschten Habitaten direkt vor unserer Haustür lassen sich noch neue Arten entdecken. Und manchmal sind diese sogar erstaunlich häufig.
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Dinophyta – auch bekannt als Dino­flagellata – sind Lichtgestalten. Zumindest nutzen viele von ihnen Licht, um mittels Photosynthese Biomasse aufzubauen. In den Weltmeeren und anderen aquatischen Habitaten, in denen Dinophyten zu Hause sind, spielen sie eine wichtige Rolle als Primär­produzenten und stellen damit die unterste Stufe des Nahrungsnetzes dar. Die Photosynthese betreibenden Mikroalgen unter ihnen produzieren außerdem etwa die Hälfte des atmosphärischen Sauerstoffs.

Die eukaryotischen Einzeller sind je nach Art – und davon sind derzeit etwa 2.500 beschrieben – sehr auffällig in Gelb-, Braun- und Rottönen gefärbt. Manche Arten sind zur Biolumineszenz fähig, produzieren also selbst bläuliches Licht. Berühmt dafür ist etwa Noctiluca scintillans, die für das geheimnisvolle blaue Meeresleuchten verantwortlich ist. Warum also Dinophyten unter dem Begriff dunkle Biodiversität abhandeln?

Editorial

Die dunkle Seite der Dinophyten

Als dunkle Biodiversität bezeichnet man den noch unbeschriebenen Teil der Biodiversität, von dessen Ausmaß sich auch Experten noch kaum eine Vorstellung machen können. Noch nicht erfasste Arten erwarten wir vor allem in den unzugänglichen Regionen der Welt – den Polregionen, Wüsten, der Tiefsee oder hohen Bergen. Zwar kann man auch vor der Haustür noch Neues finden, aber meist handelt es sich dabei um sehr kleine Organismen, die zudem aufgrund komplexer Nährstoffansprüche oder anderer spezieller Bedürfnisse mit gängigen Methoden nur schwer oder gar nicht kultiviert werden können.

Auch Dinophyten sind mit einer Größe von zwischen 10 und 100 Mikrometern mikroskopisch klein, können aber in der Regel relativ problemlos angezogen werden – insbesondere wenn sie Licht als Energiequelle nutzen. Trotzdem haben Biodiversitätsforscher der Ludwig-Maximilians-Universität nun eine bislang unbekannte Dinophyten-Art aus einem bayerischen Tümpel isoliert – und später im Rahmen eines anderen Projekts sogar ganz in der Nähe des eigenen Instituts wiedergefunden.

Zufallsfund im Tümpel

Erstmals entdeckt wurde Borghiella ovum, wie die neue Art inzwischen getauft wurde, im Februar 2020 im niederbayerischen Reut (Kreis Rottach am Inn) von einem Team um Marc Gottschling vom GeoBio Center der LMU. „Unser übergeordnetes Forschungsziel ist es, die meist historischen Namen von Algen – und dabei vor allem von Dinophyten – taxonomisch zu klären. Dazu fahren wir zu Typus­lokalitäten, also solchen, von der ein Organismus erstmals beschrieben wurde“, fasst der Algenforscher zusammen. Eher als Nebenergebnis isolierten die Forscher aus einem kleinen Tümpel mit umgestürzten, toten Bäumen eine Mikroalge, die nach einer licht- und elektronenmikroskopischen Untersuchung und der Sequenzierung ihrer rRNA-Gene als neue Art erkannt wurde. Der gold-braun gefärbte Einzeller trägt einen leuchtend orangenen Augenfleck, wie er bei Dinophyten als Sinnesorganell der Phototaxis vorkommen kann. Das Epithet ovum geht auf die Eiform der Alge zurück (siehe Bild). Eine bekannte, verwandte Art ist B. pascheri, die gelegentlich den sogenannten „Blutschnee“ bildet.

Viele Dinophyten tragen einen „Panzer“ aus Cellulose-Platten, dem sie ihren deutschen Namen Panzergeißler verdanken. Diese Theka weisen charakteristische Strukturen auf, die zur Artbestimmung genutzt werden können. Arten, die wie B. ovum keinen solchen Panzer ausbilden, lassen sich dementsprechend schwerer eindeutig bestimmen und bleiben damit häufiger als Teil der dunklen Biodiversität unerkannt.

Eindeutig Winterliebhaber

Erst nach seiner Entdeckung sorgte B. ovum aber für die eigentliche Überraschung: Ein Projekt der LMU-Forscher beschäftigt sich nämlich damit, im Botanischen Garten München-Nymphenburg, dessen Biotope aufgrund eines weitgehenden Verzichts auf Pestizide und Kunstdünger sehr naturbelassen und artenreich sind, eine Art botanische Bestandserfassung durchzuführen. Dazu bestimmt das von der Elfriede-und-Franz-Jakob-Stiftung unterstützte Projekt „eintauchen“ das räumliche und zeitliche Vorkommen von Mikro­organismen mithilfe von Metabarcoding in sechs künstlich angelegten Teichen. Gänzlich unerwartet fanden die Forscher dort ihre Neuentdeckung B. ovum wieder. Und das nicht als seltenen Gast, sondern als zweit­häufigsten Panzergeißler – zumindest im Winter. Denn wöchentliche Probennahmen im Jahresverlauf zeigten, dass B. ovum nur von November bis März im Plankton der Nymphenburger Teiche nachweisbar ist.

Für viele Dinophyten ist eine Abnahme der Zellzahlen mit steigenden Wassertemperaturen im Frühling beschrieben. Auch B. ovum wächst im Freiland nur bei Temperaturen unter 6 °C und zeigt damit eine ausgeprägte Saisonalität. Allerdings begann im Botanischen Garten der Niedergang der Zellzahlen schon, bevor die Wassertemperaturen deutlich anstiegen. In gemäßigten Klimaten könnte auch die Tageslänge das Vorkommen von Dinophyten beeinflussen. Tatsächlich würde sich das Verschwinden von B. ovum damit besser erklären lassen. „Vermutlich bilden diese Dinophyten eine ökologische Nische jenseits der Planktonblüten im Sommer“, spekuliert Gottschling.

Die Neuentdeckung dieser häufigen Mikroalgen an einem so zugänglichen Fundort zeigt seiner Meinung nach deutlich, welches Ausmaß an Biodiversität es noch zu erfassen gilt. „Wenn unser Metabarcoding-Ansatz richtig läuft, lassen sich damit in kurzer Zeit ungeheuer viele Organismen gleichzeitig bestimmen und damit alle möglichen Fragestellungen sehr effizient bearbeiten“, freut sich der Biodiversitätsforscher. Auch Anwendungen hat er dabei im Blick. Denn Dinophyten sind aufgrund ihrer kurzen Generationszeit beliebte Frühwarnsysteme für sich ändernde Umweltbedingungen und eignen sich beispielsweise als Indikator-Organismen für die Wassergüte. Es lohnt sich also, Licht in die dunkle Diversität zu bringen.

Larissa Tetsch

Müller A. et al. (2023): The second most abundant dinophyte in the ponds of a botanical garden is a species new to science. J Eukaryot Microbiol, e13015.

Bild: Pixabay/Saydung89 & Müller et al. (B. ovum)


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Letzte Änderungen: 22.01.2024