Editorial

LJ-Rätsel: Die
Hirnzurechtrückerin

(30.01.2024) Zeitlebens erforschte unsere Gesuchte das Organ, das laut der Männerwelt ihrer Zeit die Unterlegenheit ihres Geschlechts verantworten sollte. Sie kam zu anderen Schlüssen.
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Durchquert man den südlichen Schwarzwald von West nach Ost auf einer seiner Hauptverkehrsachsen, kommt man, kurz bevor man eine gewaltige Talbrücke überquert, linkerhand an einem Gebäude vorbei, in dem seit 1975 eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik untergebracht ist. Dass sich darin zuvor über den Zweiten Weltkrieg hinweg ein privates Institut für Hirnforschung und allgemeine Biologie befand, wissen heute nur noch wenige – auch wenn die Klinik immer noch nach dessen Gründungs-Ehepaar benannt ist.

Zu verdanken hatten die beiden die Einrichtung ihres Schwarzwald-Instituts damals der freundschaftlichen Verbindung mit einer schwerreichen Industriellenfamilie, deren Mitglieder den Ehemann lange als Leibarzt und Psychotherapeut in Anspruch nahmen. Ohne diese einflussreiche Verbindung hätte das Hirnforscher-Paar die Zeit der Nazi-Herrschaft wahrscheinlich nicht unversehrt überstanden.

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Zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die beiden auf Befehl der Regierung von den Leitungsfunktionen an ihrem Berliner Institut entfernt. Schon vor der Jahrhundertwende hatten sie dieses als „Neurologische Zentralstation“ gegründet. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde es dann von der Vorgängerinstitution der Max-Planck-Gesellschaft übernommen, die es Ende der 1920er-Jahre zu dem weltweit größten Hirnforschungsinstitut seiner Zeit aufrüstete. Auch heute noch steht an dem Standort eines der größten medizinischen Forschungszentren Deutschlands.

Bereits kurz nach Hitlers Machtergreifung begannen jedoch gezielte Repressalien gegen das Institut, da insbesondere das Direktoren-Ehepaar sich nicht in die Nazi-Ideologie einpassen ließ. Beide wurden wiederholt als „weiße Juden“ und Kommunistenfreunde verunglimpft und mussten nach ihrer Absetzung als Direktoren das Institut schließlich „zwangsemeritiert“ verlassen.

Dass ihnen nichts Schlimmeres passierte, war zum einen den bereits erwähnten einflussreichen Verbindungen geschuldet – zum anderen aber auch der Tatsache, dass sie bereits erkleckliche Berühmtheit erlangt hatten. Den zumindest hinsichtlich der Öffentlichkeitswirksamkeit größten „Coup“ hatte der Ehemann bereits neun Jahre vor Beginn der Nazi-Herrschaft gelandet: Von einer anderen großen Nation bekam er den aufsehenerregenden Auftrag zur anatomischen Untersuchung des Gehirns eines der größten Männer der modernen Weltgeschichte. Ein Stoff, aus dem Anfang der 1990er-Jahre ein deutscher Autor schließlich einen internationalen Bestseller-Roman machte.

Doch kommen wir zu seiner Ehefrau, die hier erraten werden soll. Geboren wurde sie keine fünfzig Kilometer westlich vom „Dach Europas“. Nahezu pünktlich zur Jahrhundertwende wurde sie in der Hauptstadt ihres Heimatlandes zum Doktor der Medizin promoviert. Ein Jahr zuvor hatte sie dort einen jungen deutschen Kollegen geheiratet, mit dem sie von da an rund sechzig Jahre in Berlin und dem Schwarzwald zusammen forschen sollte.

Zeitlebens ging es den beiden vor allem darum, via anatomischer Analyse möglichst genaue Kartierungen des Gehirns und seiner einzelnen Areale darzustellen. Zu ihrer Motivation schrieb sie 1933 in einem Aufsatz: „Speziell die Hirnanatomie kann zu einer Erkenntnisquelle für kausale Einheiten der psychischen Persönlichkeit werden. Ist diese Möglichkeit gegeben, so zeigt die hirnanatomische Analyse gegenüber der psychologischen so mannigfache Vorzüge, daß sie nach Kräften ausgenutzt werden muß, obgleich wir – wie ausdrücklich betont werden soll – erst ganz am Anfang der Erkenntnis der Beziehung zwischen individuellen psychischen Besonderheiten und persönlichen Hirngestaltungen stehen.“ Die Zahl der Hirnschnitte, die sie mit ihren Teams dazu herstellte, ging in die Hunderttausende.

Ergebnisse dieser Mühen waren etwa eine Theorie zur unterschiedlichen Empfindlichkeit von Hirnregionen auf bestimmte Schädigungen, die Identifikation von Veränderungen im Corpus striatum der Großhirnrinde als Ursache für Bewegungsstörungen – und das Aufräumen mit dem hässlichen Vorurteil, dass Frauen wegen des kleineren Gehirns dem Manne geistig unterlegen seien. Dieses hatte um die Jahrhundertwende in dem Essay eines bekannten Neurologen mit dem Titel „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ gegipfelt. Nach Durchsicht ihrer unzähligen Schnitte hielt unsere Gesuchte dazu letztlich 1927 fest, dass es keine solche geistige Inferiorität gebe und man „aufgrund des heutigen Stands der Hirnforschung die Frau als solche von keinem Beruf ausschließen“ könne. Der „Überschuss an Hirnmasse beim Manne“ sei lediglich notwendig, um dessen umfangreichere Muskulatur zu innervieren.

Laut Nobelstiftung war sie dreizehn Mal für den Medizin-Nobelpreis nominiert, bekam ihn aber nie. Dafür brachte die Deutsche Bundespost vor knapp 35 Jahren eine Briefmarke mit ihrem Konterfei heraus. 27 Jahre zuvor war sie im Alter von 87 Jahren in Cambridge gestorben.

Wie heißt sie?

Die Auflösung finden Sie auf unserer Website. Der Artikel erschien zuerst in Laborjournal 12/2023.

Ralf Neumann

Bild: Pixabay/geralt (Fragezeichen)


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Letzte Änderungen: 30.01.2024