Editorial

Bis ins hohe Alter

(20.02.2024) Altern ist kein Muss. Es lässt sich hinauszögern. Und in Zukunft werden sich altersbedingte Erkrankungen auch heilen lassen. Wo steht die Forschung? Ein Streifzug.
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Alt werden ist nichts für Feiglinge, sagt ein Sprichwort. Jeder Mensch muss sich früher oder später mit dem allmählichen Nachlassen seiner physiologischen Funktionen auseinandersetzen. Trotz einer stetig steigenden Lebenserwartung von derzeit 78,3 Jahren für Männer und 83,2 Jahren für Frauen in Deutschland leiden wir laut WHO-Bericht während 16 bis 20 Prozent unseres höheren Lebensalters an einer oder mehreren Krankheiten. Da können wir noch so sehr auf einen gesunden Lebensstil achten: Altern ist und bleibt der wesentliche Risikofaktor für Krebs, für Herz-Kreislauf- und neurodegenerative Erkrankungen und für die Anfälligkeit gegenüber Infektionen.

Doch warum altern wir überhaupt? Stammesgeschichtlich tritt Alterung zwar bereits bei Prokaryoten auf. Zwingend notwendig scheint es aber nicht. Schließlich existieren Arten wie etwa der braune Süßwasserpolyp Hydra oligactis, die außergewöhnlich lange leben, deren physiologische Leistungsfähigkeit nicht altersbedingt abnimmt und die resistent gegen Alters­erkrankungen sind. Auch Jahrhunderte alte Islandmuscheln (Arctica islandica) und über 10.000 Jahre alte Riesenschwämme (Anoxycalyx joubini) beweisen, dass Langlebigkeit möglich ist. Hydrozoen der Art Turritopsis dohrnii können ihren Alterungsprozess sogar umkehren und sich wieder zum Polypen entwickeln. Und auf Invertebraten ist Langlebigkeit auch nicht beschränkt: So sind 500 Jahre alte Grönlandhaie (Somniosus microcephalus) bekannt. Ebenso übertreffen Nacktmulle (Heterocephalus glaber) mit einer Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten andere Nagetiere um ein Vielfaches.

Editorial

Zombiezellen

Das Geheimnis vieler dieser Arten: Auch sie altern – eben nur viel langsamer. Denn ihre somatischen Stammzellen erneuern sich ständig. Anders ist es beim Menschen. In seinem Gewebe vermehren sich mit zunehmendem Alter seneszente Zellen, deren Zellzyklus stillsteht. Dieser Wachstumsstopp unterscheidet sich von der Quieszenz der G0-Phase. Seneszente Zellen arretieren dauerhaft in der G1- oder eventuell G2-Phase und können nicht mehr durch Wachstumsfaktoren oder mitogene Signale zur Proliferation angeregt werden.

Klassischerweise ist die zelluläre Seneszenz eine Folge verkürzter Telomere. Darüber hinaus können weitere Veränderungen in Seneszenz resultieren, erklärt Silke Keiner, Leiterin der Arbeitsgruppe „Neurale Stammzellen und adulte Neurogenese“ am Jena Zentrum für Gesundes Altern und der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Jena: „Geschädigte Kern-DNA, mitochondriale Dysfunktionen, epigenetische Veränderungen wie beispielsweise DNA-Methylierungen und Modifikationen von Histonen durch Deacetylierungen. Ein Merkmal der Seneszenz-Induktion kann auch die gesteigerte Bildung von Sauerstoffradikalen sein oder die sogenannte parakrine Seneszenz, die von pro-inflammatorischen Faktoren einer primär seneszenten Zelle ausgelöst wird.“

Zwei Seiten der Medaille

Per se negativ ist Seneszenz indes nicht. Während der Embryonal- und Kindesentwicklung sowie bei der Wundheilung und der Tumorunterdrückung spielen seneszente Zellen Schlüsselrollen, werden aber schließlich von Makrophagen eliminiert. Während des Alterns bleiben sie hingegen bestehen und verursachen Gewebeschäden und chronische Entzündungen in den Organen, die letztendlich in medizinisch definierten Alters­erkrankungen wie Arteriosklerose und Arthrose resultieren. Werden seneszente Zellen in gesunde Mäuse transplantiert, beschleunigt sich deren Alterungsprozess. Werden sie genetisch oder pharmakologisch entfernt, stellt dies die Gewebehomöostase wieder her, mildert Alterungserscheinungen und verlängert die Lebensdauer der Mäuse.

Müssten seneszente Zellen also einfach nur entfernt werden, um die Alterungsprozesse des Menschen zu verlangsamen? Im Prinzip ja. Noch fehlt vor allem aber ein universeller und robuster Biomarker, um in vivo alle seneszenten Zellen von terminal differenzierten, ruhenden und anderen sich nicht teilenden Zellen zu unterscheiden. Denn die typische seneszente Zelle gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind Zelltypen, Oberflächenmarker, aktivierte Signalwege, Sekretionsmuster und Gewebeverteilung.

In vitro lassen sich seneszente Zellen hingegen schon recht gut aufspüren. So kann ihr Schlüsselmerkmal, der Wachstumsstopp, laut Keiner durch das Fehlen von endogenen und exogenen Proliferationsmarkern wie beispielsweise dem Protein Ki-67 oder durch Einbau von 5-Bromo-2‘-Desoxy­uridin (BrdU) in die DNA und BrdU-spezifische Antikörper nachgewiesen werden. Eine Unterscheidung zwischen ruhenden und seneszenten Zellen ist jedoch durch diese Nachweisverfahren nur unzureichend möglich. Zusätzlich müssen deshalb noch spezifische Seneszenz-assoziierte Marker überprüft werden, sagt Keiner: „So kann man beispielsweise die erhöhte β-Galacto­sidase-Aktivität und Lipofuscin-Akkumulation der meisten seneszenten Zellen nutzen, die Transkriptionssignaturen von Zellzyklus­arrest-typischen Cyclin-abhängigen Kinase-Inhibitoren (CDKI) wie p16INK4A, p21WAF1 und p53 analysieren und anti-apoptotische Signalwege sowie die Abnahme von Lamin-B1 erfassen.“

Von Zelle zu Organismus

Vom Klinikalltag ist das weit entfernt. Die Schwierigkeit: Obwohl sich seneszente Zellen in einem Wachstumsstillstand befinden, bleiben sie metabolisch aktiv. Sie sezernieren einen bisher nur unzureichend charakterisierten pro-inflammatorischen Mix aus Cytokinen, Chemokinen, Wachstums- und angiogenen Faktoren – den sogenannten Seneszenz-assoziierten Sekretions­phänotyp (SASP). „Der SASP fördert die chronischen Entzündungsprozesse im Alter“, erklärt Keiner. „Er schädigt Nachbarzellen und breitet die Seneszenz im umliegenden Gewebe aus.“ Unter anderem stört der SASP die Mikrovaskulatur der Blut-Hirn-Schranke, wodurch auch das normalerweise immunprivilegierte Gehirn anfällig für zirkulierende Entzündungsmediatoren wird. Die Folge sind Neuroinflammation und seneszente Neuroblasten, Astrozyten und Mikrogliazellen, die zu einer Beeinträchtigung der synaptischen Funktion und zu kognitivem Verfall führen. Wo jedoch seneszente Zellen zuerst entstehen und ab wann Schädigungen zellulärer Strukturen überhaupt zur Seneszenz führen, ist laut Keiner noch wenig verstanden.

Bekannt ist: Während der Alterung nimmt der neurale Stammzellpool dramatisch ab. Gleichzeitig werden Neuronen nicht nachgebildet, denn die neuralen Stammzellen teilen sich nicht länger asymmetrisch in undifferenzierte Stammzellen und differenzierende Vorläuferzellen, sondern symmetrisch in zwei Stammzellen. Möglicherweise ist das ein Kompensationsmechanismus der Stammzellabnahme, erklärt Keiner. Unterm Strich ist das Regenerationspotential des Nervengewebes somit altersbedingt stark eingeschränkt.

Welche Mechanismen dem Wechsel dieser Stammzellmodi zugrunde liegen, ist einer der Schwerpunkte der Jenaer Arbeitsgruppenleiterin: „In unserem aktuellen Projekt arbeiten wir an einem wichtigen Neurotransmitter und dessen Einfluss auf die Stammzellteilung. Modifikationen an seinem Transmittersystem erlauben uns Rückschlüsse auf die Teilungsmechanismen von Stammzellen. Wir hoffen, dieses Wissen für das Verständnis der Stammzellalterung und alters­assoziierter Erkrankungen wie dem Morbus Alzheimer nutzen zu können.“

Ungewissheit besteht ebenfalls, welche Biomarker mit gesundem Altern korrelieren. Zwar ist bekannt, dass bis zu ein Viertel der menschlichen Lebensspanne vererbbar ist. Aber Joris Deelen, seit 2020 Forschungsgruppenleiter am Kölner Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns, erklärt: „Natürlich gehen eine Reihe von Indikatoren wie etwa die Blutkonzentrationen von Glucose, Insulin und Triglyceriden mit dem Altern einher – aber vor allem, weil sie mit altersbedingten Erkrankungen wie Diabetes und kardiovaskulären Störungen zusammenhängen.“

Doch sind auch genetische Indikatoren bekannt, die für die Alterung eine Rolle spielen? „Nur ein einziger genetischer Lokus ist über Populationsstudien durchgängig mit dem Altern assoziiert – der von Apolipoprotein E (ApoE), einem Cholesterintransporter in Leber, Niere und Gehirn. Sein ε2-Allel ist mit einer erhöhten Überlebenswahrscheinlichkeit bis ins hohe Alter assoziiert, sein ε4-Allel dagegen mit früher Mortalität – und ist übrigens auch einer der stärksten genetischen Risikofaktoren für die sporadische Alzheimer-Krankheit“, sagt Deelen.

Die Herausforderung: Genetische Marker werden über genomweite Assoziationsstudien gesucht, die Einzelnukleotid-Polymorphismen mit Merkmalen des Phänotyps korrelieren. Doch sie finden nur Genloci, die relativ häufig in der Bevölkerung vorkommen. „Menschen altern aber unterschiedlich“, sagt Deelen: „Wer alt wird, verfügt wahrscheinlich über viele verschiedene Schutzmechanismen – zum Beispiel gegen Störungen in der DNA-Reparatur und im Immunsystem.“ Eine Vielzahl von Allelen beeinflusse daher unterschiedliche Teilaspekte des Alters, so der Niederländer. „Läuft dann nur ein Stoffwechselmechanismus etwas schlechter, kann das den Altersphänotyp maßgeblich beeinflussen.“

Keine Glaskugel

Derzeit übertragen Arbeitsgruppen wie die von Joris Deelen mithilfe von vergleichender Genomik identifizierte Genvarianten in Zellsysteme und in Tiermodelle, um ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensspanne zu quantifizieren. Eine kleine Anzahl seltener Allele, die das Altern verzögern, konnte so identifiziert werden, darunter solche des Rezeptors für den Insulin-ähnlichen-Wachstumsfaktor-1 (IGF1R), des Transkriptionsfaktors Forkhead-Box-Protein-O3 (FOXO3), des Repressor-Element-1-Silencing-Transkriptionsfaktors (REST), des vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGF) und der für Histon-Deacetylasen codierenden SIRT-Gene. Ihre Relevanz für den Menschen ist Teil erster klinischer Studien.

Das Alter eines Gewebes kann inzwischen geschätzt werden, und zwar mit sogenannten epigenetischen Uhren. Doch Aussagen für den ganzen Menschen sind begrenzt. Ein Universalmarker für das biologische Alter eines Menschen – also die Diskrepanz zwischen chronologischem Alter und tatsächlichem Stadium im Alterungsprozess – ist nicht in Sicht. Inwieweit sich epigenetische Assays als Hilfsmittel eignen, um Krankheitsrisiken abzuschätzen und Behandlungsoptionen in der Klinik zu erörtern, wird derzeit untersucht.

Ohne Universalmarker für die Lebens- und Gesundheitsspanne bleibt es eine Herausforderung, die Zellalterung standardisiert zu quantifizieren, geschweige denn altersbedingte Krankheiten zu verzögern. Dennoch sind bereits mehr als tausend Substanzen mit alters­hemmender Wirkung aus Modellorganismen bekannt. Als mögliche Senolytika, die selektiv die Apoptose seneszenter Zellen induzieren, dienen zum Beispiel die natürlich vorkommenden Flavonoide Quercetin und Fiscetin, das Alkaloid Piperlongumin sowie niedrige Dosen der Chemotherapeutika Dasatinib und Navitoclax.

Die Jenaer Neurogenese-Forscherin Silke Keiner erinnert jedoch an die zentrale Bedeutung der zellulären Seneszenz für die Wundheilung und als Schutzmechanismus bei der Tumorentstehung. „Seneszente Zellen sind nicht identisch, und eine gewebs- oder organspezifische Beseitigung von ihnen stellt eine Herausforderung für die medikamentöse Nutzung dar“, sagt sie. Als Alternative werden deshalb Senomorphika erforscht, die keine Zellen töten, sondern ihren Seneszenz-assoziierten Sekretionsphänotyp (SASP) abschwächen. Dazu wirken sie meist auf Transkriptionsregulatoren des SASP wie mTOR und FOXO3 ein. Zu den senomorphen Wirkstoffkandidaten gehören zum Beispiel das Immunsuppressivum Rapamycin, der Cytokinhemmer Simvastatin, das Antidiabetikum Metformin, der Blutdrucksenker Rilmenidin, der Tyrosinkinasehemmer Ruxolitinib sowie antioxidative Substanzen wie Resveratrol und N-Acetyl-L-Cystein (NAC).

Erste präklinische Daten deuten darauf hin, dass einige Senomorphika altersbedingte Leiden wie Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Stoffwechselstörungen, kognitiver Abbau und neurodegenerative Erkrankungen verzögern. Bisher sind allerdings noch keine Arzneimittel gegen Seneszenz für den Menschen zugelassen.

Natürlich bedeutet das nicht, dass Alterungserscheinungen nicht schon heute verzögert werden können. Krankheitsanfälligkeit ist schließlich in jedem Lebensalter beeinflussbar. Vorerst bleibt es aber dabei: Kalorienbeschränkung, regelmäßige moderate Bewegung, ein ebenso regelmäßiger Tag-Nacht-Zyklus, ein Verzicht auf Körpergifte wie Alkohol und Nikotin sowie ein Netzwerk sozialer Kontakte sind und bleiben das Alpha und Omega eines langen, gesunden Lebens – allerdings nur, wenn damit bereits in jungen Lebensjahren begonnen wird. Wer erst im Alter seinen Lebensstil ändert, erreicht nur noch wenig.

Henrik Müller

Bild: Playground (KI-generiert)

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 1-2/2024.


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Letzte Änderungen: 20.02.2024