Editorial

„Wir haben die Effekte
unterschätzt“

(04.03.2024) Die Corona-Maßnahmen haben Kinder und Jugendliche seelisch belastet. Für bessere Daten müsste die Forschung auch junge Menschen inkludieren, fordert Andreas Meyer-Lindenberg.
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Vor vier Jahren übernahm SARS-CoV-2 die Kontrolle über unseren Alltag. Für einen Blick zurück fragen wir, was hätte man besser machen können und was sieht man heute mit anderen Augen. Dafür haben wir mehrere Expertinnen und Experten zu Wort kommen lassen. In der demnächst erscheinenden März-Ausgabe von Laborjournal sprechen unter anderem Carsten Watzl, Ulrich Elling und Carmen Scheibenbogen über immunologische Aspekte, Virusvarianten und Long-Covid. Auf das seelische Wohlbefinden während der Pandemie schaut Andreas Meyer-Lindenberg (im Bild), und sein Resümee präsentieren wir hier an dieser Stelle. Der Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim hatte bereits vor drei Jahren, mitten in der Pandemie, im Rahmen eines „Corona-Gesprächs“ die damals aktuellen Erkenntnisse mit uns geteilt (LINK). Jetzt haben wir ihn für ein Update kontaktiert.

Editorial

Wenn wir speziell die seelischen Auswirkungen der Corona-Pandemie rückblickend betrachten: Was haben wir damals unterschätzt, und wo haben wir uns vielleicht unnötig große Sorgen gemacht?
Andreas Meyer-Lindenberg: Wir haben die Effekte auf junge Menschen unterschätzt. Die Einsamkeitsforschung hatte ihren Schwerpunkt zuvor immer auf alte Menschen gelegt; es gab entsprechende Hotlines und Unterstützungsmaßnahmen. Aber erst mit einer Latenz von Monaten haben wir in den ersten epidemiologischen Studien gesehen, dass im Wesentlichen die jungen Menschen sehr stark betroffen waren, und mussten umschwenken. Mit dem Problem kämpfen wir immer noch und sehen nach wie vor eine sehr hohe Beanspruchung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, insbesondere durch Mädchen. Das Zweite, was damals in der Form nicht absehbar war, ist Post-Covid. Überschätzt haben wir die Notwendigkeit für Schulschließungen. Da gibt es im internationalen Vergleich Länder mit weniger Schulschließungen, die jetzt viel besser dastehen bei den schulischen Leistungen. Ich denke, auch das hatte Einfluss auf die andauernden Folgen für die jungen Menschen.

Also wäre es rückblickend besser gewesen, mit den Schulschließungen zurückhaltender zu sein und mehr Infektionen in Kauf zu nehmen?
Meyer-Lindenberg: Da verlasse ich jetzt meine Kompetenz als Neurowissenschaftler. Aber ich denke, das Hauptziel lag ja im Schutz der vulnerablen Gruppen. Die Maßnahmen zum Social Distancing haben aber alle getroffen, obwohl Kinder selber nur sehr selten schwer erkranken, wie wir heute wissen.

Ich erinnere mich, dass ich in den ersten Monaten der Pandemie zwar besorgt war, mich zugleich aber auch selbstwirksam fühlte: Die Bevölkerung hielt zusammen, und indem alle mitwirkten an den Kontaktbeschränkungen, konnten wir das Infektionsrisiko und die Virusverbreitung verringern. Trotz der damals im Vergleich zu heute viel bedrohlicheren Lage hatte man also das Gefühl, irgendwie Einfluss nehmen zu können. Mein Eindruck war, dass viele Menschen dadurch auch eine innere Stabilität aufrechterhalten konnten.
Meyer-Lindenberg: Völlig korrekt, denn wir wissen aus der Resilienzforschung schon seit vielen Jahren, dass Selbstwirksamkeit ein ganz wichtiger Resilienzfaktor ist. Hinzu kommen persönlichkeitsbezogene Merkmale wie Optimismus, Neurotizismus oder auch die soziale Einbettung. All das ist evidenzgesichert. Deshalb war es wichtig, der Bevölkerung zu erklären, wie sie selber mitwirken kann, zum Beispiel beim Social Distancing. Die Kehrseite der Medaille ist, dass Schwankungen der erlebten Selbstwirksamkeit auch Schwankungen der Resilienz bedingen.
Wir verstehen ganz gut, wie Emotionsregulation, kognitive Kontrolle und Arbeitsgedächtnis neurobiologisch zusammenspielen und haben uns das Ganze in einer longitudinalen Studie über den ersten und zweiten Lockdown hinweg angeschaut – also Frühjahr 2020 und dann Herbst/Winter 2020 sowie in dem Sommer dazwischen, wo die Maßnahmen ja gelockert waren und wir raus durften (Eur Neuropsychopharmacol, 56: 13-23). In der Studie waren überwiegend junge Menschen. Wie erwartet war die Fähigkeit zur Regulation negativer Emotionen der Faktor, der vorhersagte, wie es ihnen während der Lockdowns ging. Dieser Effekt verschwand fast vollständig den Sommer über – da war dann die kognitive Fähigkeit der beste Prädiktor. Das Ganze lässt sich also auch von neurowissenschaftlicher Seite her unterfüttern. In einer anderen Studie, die jetzt gerade erst für Nature Mental Health angenommen wurde, haben wir das noch mal vertieft und sehen: Ein Faktor, der ebenfalls resilienzwirksam war, war, dass man sich nicht viel bewegen konnte (Nat Mental Health, doi.org/mg9f). Und das betraf wiederum gerade die jungen Menschen.

Ein Paper unter Ihrer Mitwirkung aus dem Jahr 2023 beleuchtet die Qualität sozialer Interaktion während der Pandemie (Sci Rep, 13(1): 3675). Gibt es da auch allgemeine Erkenntnisse, die man daraus ableiten kann, weil die Pandemie sozusagen besondere experimentelle Bedingungen geschaffen hat?
Meyer-Lindenberg: Das ist ein guter Punkt, denn die Effekte kannten wir vorher schon aus der Einsamkeitsforschung. Aber damit verbunden ist sonst das Problem, dass einsame Menschen in der Bevölkerung stigmatisiert sind, und das führt wiederum zur Selbststigmatisierung. In der Pandemie hatten wir eine Situation, die wir nie in der Forschung herstellen können: Alle wurden in den Lockdown geschickt und der Stigmatisierungseffekt entfiel. Ob wir dadurch etwas ganz Neues gelernt haben, da bin ich mir aber nicht sicher. Das größere Problem war wie schon erwähnt, dass wir uns nicht sofort auf die jungen Leute fokussiert haben.

Auch die Corona-Infektion selbst kann zu psychiatrischen Erkrankungen führen – auch im Zusammenhang mit Long- und Post-Covid. Was weiß man hierzu?
Meyer-Lindenberg: Epidemiologische Daten zeigen, dass viele virale Infektionen während der akuten Phase mit schlechterer Stimmung und Konzentrationsstörungen assoziiert sein können. Das gibt sich normalerweise wieder. Es gibt aber im relevanten Ausmaß auch Zustände nach COVID-19, die über Monate andauern. Die Mehrzahl erholt sich innerhalb eines Jahres wieder. Bei Post-Covid ist die überwiegende Anzahl der Hauptsymptome neuropsychiatrischer Natur – das sage ich ganz wertfrei. Das bedeutet nämlich nicht, dass die Ursachen psychosomatisch sind. Die Diskussion in der Community ist manchmal schwierig, weil man erstmal Verständnis dafür wecken muss, dass Körper und Seele engstens zusammenhängen, unter anderem auch über neuroimmunologische Mechanismen, die man immer besser versteht. Fakt ist aber auch: Wir haben hier eine Gruppe Erkrankter, die relativ häufig spezifisch neuropsychiatrische Therapien braucht. Beispielsweise kognitive Rehabilitation oder Psychotherapie bei Angst und Depression.

An welcher Stelle fehlten während der Pandemie oder auch danach wichtige Daten?
Meyer-Lindenberg: Ein wirkliches Problem war, dass wir im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der OECD keine verlässlichen rasch verfügbaren Daten zur psychischen Befindlichkeit der Bevölkerung hatten. Zwischenzeitlich haben wir Fortschritte gemacht unter Beteiligung etlicher Wissenschaftler und auch unseres Instituts. Das RKI hat eine Mental Health Surveillance eingerichtet. Da wissen wir jetzt mit geringer zeitlicher Verzögerung, wie es bestimmten Bevölkerungssegmenten geht und wie ihre Belastung ist. So etwas wäre zu Beginn der Pandemie wirklich wichtig gewesen. Ärgerlich und beunruhigend finde ich, dass die weitere Förderung dieses Projekts nun nicht mehr sichergestellt ist.
Wenn wir solch eine Kohortenforschung nicht haben, können wir auf ein unerwartetes Großereignis, wie es COVID-19 war, auch nicht reagieren. Wir haben ja mit der NAKO-Gesundheitsstudie eine große nationale Kohorte mit epidemiologisch valider Stichprobe. Das Problem ist aber, dass die NAKO erst mit 21 Jahren losgeht. Wenn man bedenkt, dass drei Viertel aller psychischen Erkrankungen vor dem 21. Lebensjahr beginnen, sieht man einfach einen Webfehler der NAKO. Die Kohortenforschung muss auf Kinder und Jugendliche ausgedehnt werden.

Das Gespräch führte Mario Rembold (am 19.01.2024)

Bild: Pixabay/Vilkasss (Hintergrund) & privat (Porträt)


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Letzte Änderungen: 04.03.2024