Editorial

Wie ein Schweizer
Uhrwerk

(05.03.2024) Mit der epigenetischen Uhr der Münchner Arbeitsgruppe von Frank Johannes lässt sich die Phylogenie von Pflanzen so präzise zurückverfolgen wie nie zuvor.
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Das Alter von Lebewesen oder Dingen interessiert üblicherweise bei Geburtstagen, beim Baujahr der Familienkutsche oder wenn die Frage im Raum steht, ob der Inhalt der vor einer Woche geöffneten Salami-Packung noch gut ist.

In der Wissenschaft ist das Alter eines Forschungsobjektes oft aus anderen Gründen spannend. Für Evolutionsbiologen etwa bildet das Alter von Proben die Grundlage, um stammesgeschichtliche Entwicklungen nachzuvollziehen. „Die Evolutionsbiologie interessiert sich besonders dafür, wann zwei Arten aus dem jüngsten gemeinsamen Vorfahren (most recent common ancestor) entstanden sind“, sagt Frank Johannes, Professor für Pflanzen­epigenomik an der Technischen Universität München. „Dafür muss man in die Vergangenheit zurückblicken, indem man sich Fossilien anschaut, und versuchen, diese zu datieren.“

Wenn aber keine Fossilien existieren, müssen die Forschenden etwas tiefer in die molekulare Trickkiste greifen. „In so einem Fall schauen wir uns DNA-Mutationen an und bestimmen, wie viele Mutationen die beiden Arten voneinander unterscheiden“, erklärt der Münchner. Ist die Mutationsrate der beiden Arten bekannt, lasse sich so der Zeitpunkt abschätzen, an dem sie aus einem Vorfahren entstanden sind.

„Dieser Trick funktioniert aber nicht gut, wenn man in die jüngste Evolutionsgeschichte blicken will, zum Beispiel in die letzten 100 bis 1.000 Jahre. Die Mutationsraten sind nämlich so gering, dass sich damit nur sehr große Zeiträume auflösen lassen“, schränkt Johannes ein. In Pflanzen liegt die Mutationsrate zum Beispiel bei etwa einem von einer Milliarde Nukleotiden pro Generation.

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Häufig und erblich

Um diese Limitation zu umgehen, tüftelte Johannes‘ Arbeitsgruppe an einer anderen Variante einer genetischen Uhr: „Wir haben schon seit einigen Jahren an stochastischen Veränderungen der DNA-Methy­lierungs­muster und deren Vererbung über Generationen hinweg gearbeitet. Dabei haben wir herausgefunden, dass diese Epimutationen mit einer Rate auftreten, die 10.000-mal bis 100.000-mal höher ist als die von DNA-Mutationen.“

Eine vielversprechende Ausgangslage fanden die Pflanzengenetiker und begannen ihre epigenetische Uhr zu testen. Dabei kam den Forschenden eine spezielle Eigenschaft pflanzlicher Methylierungsmuster zugute, wie Johannes erzählt: „In Säugetieren ist die DNA-Methy­lierung sehr dynamisch und trägt zum Beispiel zur Differenzierung von Geweben bei. Bei Pflanzen ist sie über die Entwicklung hinweg sehr stabil. Von größerer Bedeutung ist aber die Tatsache, dass auch im Laufe der Lebenszeit erworbene Veränderungen der DNA-Methylierung – anders als bei Säugetieren – an die nächste Generation weitergegeben werden können.“

Das Ticken der Methyle

Für ihre Uhr suchte Johannes‘ Arbeitsgruppe nach Abschnitten im Pflanzengenom, in denen sich das Methylierungsmuster konstant und ohne Umwelteinflüsse ändert. „Für eine Uhr ist es essentiell, dass sie gleichmäßig und zuverlässig tickt. Daher haben wir für unseren Zeitmesser bestimmte Bereiche in sogenannten Gene-Body-Methy­lation (gbM)-Genen genauer angeschaut.“ In diesen Genen ist der CG-Methy­lierungsgrad in der Regel hoch, und sie sind häufig stark konserviert. Die Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana verfügt zum Beispiel über 5.000 bis 6.000 derart methylierter Gene. „Meist handelt es sich dabei um Housekeeping-Gene, die in jeder Zelle aktiv sind, um die Grundfunktionen aufrechtzuerhalten“, führt Johannes aus.

Für die Erhaltung der Methylierungsmuster bei der Zellteilung sorgt eine Methyl­transferase. Hin und wieder macht das Enzym Fehler, die sich infolge der Menge zu kopierender Methylierungen bemerkbar machen und zu stochastischen Veränderungen führen. Auf die Expression der betroffenen Gene haben die Methylierungen allerdings keinerlei Einfluss, wie Versuche mit Mutanten zeigten, in denen bestimmte Methylierungssignalwege ausgeschaltet waren.

„Da bleibt natürlich die große Frage, was die DNA-Methylierung in diesen Genen überhaupt für eine Funktion hat. Das wird in der Literatur heftig diskutiert; für unsere Uhr ist es aber erstmal irrelevant“, fasst der Pflanzengenetiker zusammen. Die von Johannes‘ Arbeitsgruppe verwendeten gbM-Gene kommen in fast allen Pflanzen vor. Bei den wenigen Arten, die diese Bereiche verloren haben, rätseln die Forschenden noch, wie es zu diesem Verlust kam. Seine Ergebnisse veröffentlichte das Team kürzlich in Science (doi.org/gss28t).

Zählen für Fortgeschrittene

Um die stark methylierten Abschnitte als Uhr verwenden zu können, mussten die Münchner ihren Zeitmesser zunächst kalibrieren. „Dafür haben wir uns sogenannte Mutations-Akkumulations-Linien der Ackerschmalwand angeschaut, die über 30 Generationen nur mit sich selbst befruchtet wurden.“ Der Vorteil: Die epigenetische Uhr erhält einen Nullpunkt, nämlich die Zeit, zu der die Ursprungspflanze lebte. Im Blattmaterial der 30. Generation der Inzuchtlinien zählten die Forschenden anschließend die Unterschiede im Methylierungsmuster der gbM-Gene. Wobei das Wort „zählen“ die Komplexität der Methode nur unzureichend widerspiegelt: „Wir haben eine spezielle Sequenzierungsmethode verwendet – das Whole Genome Bisulfite Sequencing. Dafür haben wir die DNA mit Natriumbisulfit behandelt, was unmethylierte Cytosine in Uracile umwandelt.“ Die so behandelten Proben sequenzierten die Münchner dann und konnten auf das Nukleotid genau ermitteln, wo sich die Methylgruppen befanden. Aus der Anzahl der unterschiedlich methylierten Stellen konnten sie nun die Mutationsrate pro Generation berechnen.

Von Siedlern und Seegras

Abschließend verglichen sie ihre Ergebnisse mit einer Uhr, die auf DNA-Mutationen basiert. Während sich die untersuchten Pflanzen nur durch 99 Einzel­nukleotid-Poly­morphismen (SNP) unterschieden, fanden die Münchner über 46.000 abweichende Epimutationen. Aufgrund der Genauigkeit der Münchner Uhr lassen sich nun auch Pflanzen untersuchen, die erst vor kurzer Zeit aus einem gemeinsamen Vorfahren entstanden.

Für seinen Machbarkeitsbeweis wählte Johannes‘ Team die DNA-Methylome von 13 A.-thaliana-Proben, die rund um die US-amerikanische Ostküste und die Great Lakes gesammelt und von Tübinger Entwicklungsbiologen 2015 sequenziert worden waren (PLoS Genet. doi.org/f6zdrk). Da A. thaliana keine in den USA heimische Pflanze ist, lag der Verdacht nahe, dass sie durch europäische Siedler eingeschleppt wurde. Eine herkömmliche DNA-Uhr datierte den gemeinsamen Vorläufer der Pflanzen auf einen Zeitraum von 1766 bis 1792 mit Konfidenz­intervallen von jeweils etwa 60 Jahren. Mithilfe ihrer epigenetischen Uhr erhielten die Münchner ein jüngeres Datum für den Vorfahren: das Jahr 1864 ± 19 Jahre. Die unterschiedlichen Ergebnisse legen nahe, dass zum Vergleich herangezogene Herbarien nicht die ganze Vielfalt der A.-thaliana-Linien abbilden oder die Pflanzen mehrfach eingeführt wurden.

Für einen zweiten Machbarkeitsbeweis untersuchten die Münchner die Demographie von Pflanzenpopulationen. Zusammen mit Forschenden des Kieler Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung GEOMAR um Thorsten Reusch untersuchte Johannes‘ Arbeitsgruppe Klone des Seegrases Zostera marina. Die Pflanze ist von erheblicher ökologischer Bedeutung und reagiert empfindlich auf Änderungen der Meeresumgebung, wie sie im Zuge des Klimawandels immer häufiger auftreten. Mit der gängigen SNP-Analytik können Forschende jedoch nur größere Zeiträume als die letzten hundert Jahre überblicken. Um die zeitliche Auflösung ihrer epigenetischen Uhr zu testen, analysierten die Münchner deshalb Seegras-Klone, die aus dem Jahr 2004 stammten. In ihnen fanden sie nur 47 SNPs, aber über 20.000 Epimutationen. Die epigenetische Uhr kann also selbst kürzlich erworbene Änderungen in Populationen aufspüren und deren Phylogenie nachverfolgen.

Alter einzelner Individuen

Auch für Menschen existieren seit etwa zehn Jahren Angebote, bei denen DNA aus einer Blutprobe isoliert wird, um anhand von deren Methylierungsmustern das Alter des Spender­individuums zu bestimmen. „Unsere Art der Uhr hat wenig mit diesen epigenetischen Uhren zu tun. Dennoch prüfen wir gerade, ob es vielleicht doch einen Zusammenhang gibt“, stellt Johannes klar. Denn auch mit der Methode der Münchner lässt sich das Alter einzelner Individuen abschätzen. Bisher konnten die Forschenden dies für ein Exemplar einer Balsampappel (Populus trichocarpa) zeigen. Der in Oregon stehende Baum wurde vor über 300 Jahren gefällt. Aus dem Stumpf wuchsen daraufhin zwei separate neue Bäume. Von diesen nahmen Johannes‘ Mitarbeiter Blattproben, die mit zunehmender Entfernung vom Boden immer jüngeren Entstehungsdatums waren. Aus den epigenetischen Unterschieden errechneten die Münchner ein Alter von 330 Jahren, was sehr gut mit einer unabhängigen Schätzung des Baumalters übereinstimmt (Genome Biol. doi.org/gh94mv).

Derzeit sucht Johannes‘ Arbeitsgruppe nach weiteren Systemen, um ihre epigenetische Uhr zu testen. Weiterhin wollen die Münchner die Funktionsweise der Uhren aufklären: „Wir wissen, dass die epigenetischen Mutationen, die vererbt werden, in den Pflanzen somatisch entstehen. Wir gehen davon aus, dass sie zunächst in einer kleinen Stammzellpopulation auftreten und sich dann irgendwie in die Keimbahn mogeln. Wie das genau funktioniert, ist noch unbekannt“, sagt Johannes.

Da Stammzellen sehr heterogen sind, versuchen die Münchner, dem Ursprung der Methylierungen mithilfe von Einzelzell­messungen auf die Spur zu kommen. Ein nicht ganz triviales Unterfangen, wie der Pflanzengenetiker zugibt: „Sequenzierungen auf Einzel­zell­ebene funktionieren für RNA sehr gut. Um die Methylierungen zu untersuchen, brauchen wir infolge des Natrium­bisulfit-Schrittes jedoch größere Mengen an Ausgangsmaterial, was uns nur wenige Messungen pro Zelle erlaubt.“ Auch die Sequenz­abschnitte, die die Forschenden für ihre Uhren benutzen, sind noch nicht ausreichend analysiert. Es ist unklar, warum die Epimutationsrate dort so viel höher ist als im Rest des Genoms. Noch ist das Uhrwerk der epigenetischen Zeitmesser also nicht bis ins letzte Zahnrad verstanden.

Tobias Ludwig

Bild: L. Johannes

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 1-2/2024.


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Letzte Änderungen: 05.03.2024