Editorial

Zeig mir Dein Laborbuch

(12.03.2024) Warum nutzen noch so viele Papierkladden? Elektronische Laborbücher können doch viel mehr. Die Forschung selbst machen sie aber auch nicht automatisch besser.
editorial_bild

„Ich habe gefunden, dass eine messbare Zeit vergeht, während sich der Reiz, welchen ein momentaner elektrischer Strom auf das Hüftgeflecht eines Frosches ausübt, bis zum Eintritt des Schenkelnerven in den Wademuskel fortpflanzt”. So beginnt ein „Vorläufiger Bericht”, den Hermann Helmholtz, Professor der Physiologie in Königsberg, 1850 im Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin veröffentlichte. Ein fulminanter Auftakt für einen Artikel, der Wissenschaftsgeschichte schrieb, weil hier zum ersten Mal die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen wurde.

Aber auch andere Aspekte dieser Arbeit ragen heraus. Sie markiert den Beginn der modernen Neurophysiologie – und zeigt uns, wie gute Forschung geht:
» Sie stützt sich auf Vorarbeiten anderer. So hatte der Italiener Carlo Matteucci einige Jahre zuvor ähnliche Experimente gemacht, allerdings technisch weniger ausgereift.
» Der Weg zur Erkenntnis verläuft nicht linear, sondern „mäandert”. Henning Schmidgen etwa beschreibt Helmholtz‘ Vorgehen „als eine oft überraschende Reihung von Vorwärts-, Rückwärts- und Seitwärtsbewegungen” (Zitate und weiterführende Links wie immer unter http://dirnagl.com/lj).
» Sie ist methodisch innovativ, denn Helmholtz konstruierte seine eigenen Messgeräte und graphischen Schreibapparate.
» Messfehler und Störgrößen werden quantifiziert und minimiert. Beispielsweise berechnete Helmholtz die maximalen Fehler seiner Apparaturen und den Einfluss der Umgebungstemperatur.
» Der vollständige Bericht der Ergebnisse, der auf den vorläufigen folgte, ist mit 90 Seiten ausgesprochen detailreich, damit jedes Experiment von anderen Forschern verstanden und wiederholt werden können sollte.
» Die in der Arbeit berichteten Versuche hatte Helmholtz gemeinsam mit seiner Frau Olga damals lückenlos im Laborbuch dokumentiert.

Editorial

Noch heute, 174 Jahre nach ihrer Durchführung, lassen sich die Versuche anhand dieses Laborbuches rekonstruieren und nachvollziehen. Schon dies ist außergewöhnlich, und dürfte für die wenigsten heute verfassten Laborbücher gelten, die ja immerhin zehn Jahre in der Einrichtung vorzuhalten sind.

Ebenso erstaunlich scheint mir aber, dass Versuche heutzutage in fast allen universitären Einrichtungen immer noch in Papier-Laborbüchern dokumentiert werden. Und das in Zeiten, in denen – im Gegensatz zum 19. Jahrhundert – Daten nahezu ausschließlich digital anfallen.

Helmholtz übertrug damals die wenigen, visuell vom Kymographen abgelesenen Messwerte direkt ins Buch. Heute spucken Sequencer, PCR- und FACS-Maschinen, Konfokalmikroskope und so weiter Megabytes von Primärdaten aus und führen damit bereits Analysen und Statistiken durch. Auf diese verweisen wir heute mit einer ins Laborbuch gekritzelten Link-Adresse, die auf ein digitales Speichermedium verweist – oft garniert mit einer Illustration ausgewählter, ausgedruckter und dann eingeklebter oder gar eingehefteter Befunde. Der vergleichende Blick in die Laborbücher von Helmholtz und seinen Zeitgenossen sowie diejenigen heutiger Biowissenschaftler ist durchaus verstörend. Der wesentlichste Unterschied zu modernen Laborbüchern dürfte dabei sein, dass die 150 Jahre alten Bücher ordentlicher geführt wurden, die Handschrift leserlicher war – und dass die Befunde auch heute noch für jeden unmittelbar nachvollziehbar sind.

Die anhaltende Popularität atavistischer Papierkladden jedoch ist umso erstaunlicher da jede TA, jeder Student, jede Wissenschaftlerin heute entweder über einen eigenen Rechner oder Notebook verfügt – oder zumindest in allen Laboren offener Zugang hierzu besteht. Zudem existiert eine Vielzahl von kommerziellen wie auch kostenlosen Open-Source-Lösungen für elektronische Laborbücher (ELN), die allesamt so viel mehr können als ein Papierbuch.

Insbesondere können etwa die digitalen Daten mit ins „Buch” integriert werden – entweder als „harte” Links auf institutionelle, gesicherte Speichermedien, oder, wenn nicht zu umfangreich, als direkt über eine Schnittstelle zum Messgerät eingelesene Originaldaten.

Überdies können Arbeitsgruppen oder Wissenschaftler, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten, über das ELN direkt kollaborieren und Daten und Befunde tauschen, auswerten und diskutieren. Arbeitsgruppenleiter können mit ihren Mitarbeitern gemeinsam die Versuchsergebnisse besprechen, ohne physisch vor dem Buch zu sitzen – gerade in Zeiten von Homeoffice und Überlastung durch Administration und Krankenversorgung ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Oft verwendete Vorlagen und Standards – wie etwa Protokoll-Bestandteile, Standard Operating Procedures (SOPs), Beschreibungen von Assays et cetera – werden als Templates vorgehalten und müssen nicht immer wieder abgeschrieben werden.

Außerdem sind ELNs ganz einfach durchsuchbar, Jahre zurückliegende Einträge findet man in wenigen Sekunden. Haben Sie hingegen schon mal in einem Papier-Laborbuch nach einem älteren Eintrag gesucht?

Manche ELNs enthalten auch Datenbanken für Labor-Inventar, Chemikalien et cetera.

Und natürlich haben Papier-Laborbücher die Tendenz, verloren zu gehen – spätestens wenn der Student oder die Betreuerin die Einrichtung verlässt. Oder wenn der Aktenschrank entsorgt wird, in dem sie gelagert wurden. Nicht so das ELN, das zeitlich unbegrenzt und platzsparend archiviert und auch ohne große Kopieraktion beim Verlassen der Einrichtung „mitgenommen” werden kann.

Die meisten ELNs erfüllen dazu noch die Anforderungen der US Food and Drug Administration (FDA) an elektronische Aufzeichnungen und Unterschriften nach deren Richtlinie „21 CFR Title 11c”. So wie die meisten Papier-Laborbücher in unseren Instituten geführt werden, würden sie von der FDA nicht akzeptiert. Dies hat schon bei so manchen Forschenden, deren Ergebnisse bei einer Medikamentenzulassung eine Rolle spielen sollten, zum Desaster mit Ansage geführt: Die Versuche mussten wiederholt und FDA-konform dokumentiert werden.

Und zu guter Letzt sowie angesichts der Zunahme von Datenmanipulation bis hin zur Fälschung (siehe LJ 1-2/2023: 22-23) nicht ganz irrelevant: ELNs sind deutlich fälschungssicherer als ihre papierenen Verwandten.

Das ELN scheint folglich so etwas wie ein Schweizer Messer der Forschungsprozess-Dokumentation zu sein: Es kann nicht nur Dokumentation, sondern darüber hinaus auch rudimentäres Datenmanagement, Kollaboration, Prozessökonomisierung und Qualitätssicherung. Da drängt sich natürlich unmittelbar die Frage auf, warum die Verwendung eines ELN die Ausnahme und nicht die Regel ist.

Zunächst einmal ist da die Inertia der Forschenden selbst. Einmal sozialisiert mit Kladde, propagiert man die lieb gewordene Tradition. Außerdem verlangt das Ganze natürlich Einarbeitung – und im Rennen um das nächste Paper oder den nächsten Antrag ist Zeit ein knappes Gut. Zudem fallen Kosten an, wenn man ein kommerzielles ELN wählt.

Und was passiert, wenn der Anbieter die Grätsche macht oder von einer Datenkrake wie Elsevier übernommen wird? Sind die Daten dann sicher? Im Gegensatz zur Textverarbeitung (Beispiel „rtf”) oder bei der Speicherung von digitalen Bildern (Beispiel „tif”) gibt es bei ELNs keine allgemein akzeptierten Austauschformate zwischen verschiedenen Herstellern. Es droht damit bei Verwendung eines kommerziellen ELN ein „Vendor Lock-in”.

Weiterhin hat, wer es mit den Regularien in Deutschland ernst nimmt, möglicherweise noch ein paar überraschende Hürden zu überwinden, bevor es losgeht. Eventuell will der Personalrat mitentscheiden, ob das Ganze überhaupt statthaft ist – schließlich könnte das ELN ja womöglich zur Überwachung von Mitarbeitern missbraucht werden. Nicht zu vergessen die Satzungen für gute wissenschaftliche Praxis, die an allen universitären Einrichtungen existieren. Weil es zum Zeitpunkt, als diese erstellt wurden, noch gar keine ELNs gab, fordern viele Satzungen explizit die Dokumentation in einem Papier-Laborbuch.

Der Narr kennt die Vor- und Nachteile von Kladde und ELN deshalb so gut, weil er in seiner eigenen Abteilung ein ELN eingeführt hat und am Roll-out eines ELN in das Forschungsökosystem einer der größten universitären biomedizinischen Einrichtungen Europas, der Charité Universitätsmedizin Berlin, beteiligt ist. Diesen Prozess hat er mit Kollegen und Kolleginnen wissenschaftlich begleitet – und dabei hat er viel gelernt.

Zunächst einmal wurde im Laufe des Prozesses klar, dass die potenziellen Nachteile des ELN zwar ernst zu nehmen, aber alle überwindbar sind – im Gegensatz zu den Nachteilen der Kladden. Ein kostenloses Open-Source-ELN, das auf institutionellen Servern läuft, ist unvergleichlich sicherer als die Kladde, die man vielleicht in der Cafeteria liegen lässt. Und zum Thema „Ausstieg”: ELNs erlauben den Export als HTML und im PDF-Format. Das ist nicht toll, entspricht aber in etwa der Funktionalität der Papierversion. Und klar, Einarbeitung ist nötig. Aber wer nicht in der Lage ist, ein ELN zu bedienen, wird auch sonst wenig Erfolg an den Geräten im Labor und bei der Auswertung seiner Versuche haben – gehört also vielleicht gar nicht in die Wissenschaft.

Was ich jedoch auch gelernt habe – und da liegt der Hase im Pfeffer: Wer schon nicht weiß, wie man ein Papier-Laborbuch ordentlich führt, oder das Pech hat, in einer Arbeitsgruppe zu forschen, in der die Supervision nicht richtig funktioniert, wird durch den Wechsel zum ELN nichts gewinnen. Im Gegenteil, es könnte sogar schlimmer werden – insbesondere wenn dann nur noch auf Zettelchen dokumentiert wird, die im Abstand von Tagen oder Wochen abfotografiert und ins ELN „übertragen” werden. Oder wenn gar parallel analog und digital dokumentiert wird, sodass sich am Ende niemand mehr zurechtfindet.

Tatsächlich ist es nämlich ein wichtiger Indikator für die Forschungsqualität eines Wissenschaftlers beziehungsweise einer Arbeitsgruppe, wie die entsprechenden Laborbücher geführt werden – egal ob analog oder digital. Wie wird was dokumentiert? Ist die Dokumentation zuordenbar, lesbar, zeitnah, original, genau, vollständig, konsistent, beständig und verfügbar? Dies sind die Standards, um die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Daten zu gewährleisten.

Diese unter ALCOA+ zusammengefassten Prinzipien (für Attributable, Legible, Contemporaneous, Original und Accurate) werden von Aufsichtsbehörden wie der FDA in den USA oder der European Medicines Agency (EMA) in Europa gefordert. Im akademischen Kontext sind sie jedoch leider wenig oder gar nicht bekannt – und werden noch seltener erfüllt. Gut geführte Labore mit kompetentem Personal wissen vermutlich gar nicht, dass es so etwas wie ALCOA+ gibt, machen es aber intuitiv richtig. Olga und Hermann Helmholtz konnten die ALCOA+-Prinzipien noch gar nicht kennen – ihr Laborbuch erfüllte dennoch deren Kriterien.

Das Wie der Forschungsdokumentation reflektiert demnach also auch die Forschungsqualität – man kann sogar sagen, es wirkt als „Forschungskultur-Sensor”. Klar, der Austausch eines analogen gegen ein digitales Thermometer ändert nicht die Raumtemperatur; genauso wenig wird die bloße Einführung eines überlegenen technischen Werkzeuges nicht notwendigerweise die Qualität von Forschung verbessern. Allerdings werden Wissenschaftler oder Gruppen von Forschenden, die sehr gut – also ALCOA+ entsprechend – dokumentieren und deren Leitungs-, Team-, Diskussions- und Kollaborations-Kultur gut funktioniert, beim Wechsel zum ELN mit all dessen Vorteilen belohnt. In weniger optimalen Szenarien, wie sie im akademischen Forschungskontext leider häufiger vorkommen, müssen zunächst Leitung und Supervision, Methodenkompetenz, Infrastrukturen und die Arbeit im Team verbessert sowie die für gute Forschungsdokumentation notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden. Erst dann macht der Wechsel in die Wunderwelt der ELNs Sinn.

Letzteres bleibt im gegenwärtigen System natürlich närrisches Wunschdenken. Unterausgestattete Universitäten, darbende Fakultäten, nicht auskömmliche Grundausstattung der Forschenden und keine Möglichkeit, dies über Overheads der Fördergeber zu kompensieren, dazu der immense Druck zur schnellen Publikation auf dem Weg zu Promotion, Habilitation oder Professur sowie die Jagd nach noch mehr Drittmitteln – all dies ist kein guter Nährboden für professionelle Forschungsdokumentation, gar mit einem ELN.

Vielleicht liegt darin auch einer der vielen Gründe, warum Forscherpersönlichkeiten mit dem Impact eines Helmholtz heute so selten geworden sind.

Ulrich Dirnagl

Der Wissenschaftsnarr dankt Christiane Wetzel und Ina Frenzel für inspirierende Diskussionen. Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj.


Weitere Einsichten unseres Wissenschaftsnarren


- Warum klemmt’s bei Open Science und der Reform des akademischen Bewertungssystems?

Schon lange herrscht weitgehende Einigkeit: Das wissenschaftliche Bewertungssystem gehört reformiert und Open Science flächendeckend eingeführt. Befriedigend realisiert wurden bisher nur Bruchteile davon. Ein Implementierungsdefizit, das auch die Wissenschaftler selbst zu verantworten haben.

- Boost your Score! – Freiwillige Selbstinszenierung im Wettbewerb der Wissenschaftler

Wie oft beschweren wir Forscher uns darüber, dass unser Denken und Urteilen sich immer mehr an Impact-Faktoren und anderen Zahlenmetriken ausrichtet – und dass dadurch die Bewertung nach Inhalt und professionellen Standards verdrängt wird. Dabei sind wir selber schuld. Wir machen das Spiel doch freiwillig mit ...

- Bildet euch fort, ihr Etablierten!

In heutigen Zeiten des rasanten Wandels im Wissenschaftsbetrieb weiß der Nachwuchs vielfach besser über wichtige Schlüsselfertigkeiten Bescheid als die Etablierten. Daher müssen auch Letztere sich fortbilden, fordert der Wissenschaftsnarr.

 



Letzte Änderungen: 12.03.2024