Editorial

Gedämpftes Mikrobiom

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(08.12.2020) Forschung lebt von Enthusiasmus und freudiger Hoffnung auf neue Erkenntnisse. Auch Euphorie darf hin und wieder dazukommen. Aber da wird es bereits gefährlich. Schließlich gibt es Beispiele genug, wo anfängliche Euphorie über erklärtermaßen neue und grundlegende Erkenntnisse oder Technologien in einen regelrechten Hype umschlug. Dieser wiederum äußerte sich häufig derart, dass man plötzlich alle möglichen bis dato unverstandenen Phänomene mit dem neuen universellen Puzzlestück erklären und damit gleichsam jede Menge ungelöste Fragen beantworten wollte. Tatsächlich schienen zunächst auch erste, wenn auch oftmals hektisch erhobene Daten auf nahezu allen angepeilten Feldern in die richtige Richtung zu deuten. Doch wurden die entsprechenden Studien in der Folge sorgfältiger und robuster, ließen die Resultate auf so manchem Feld blanke Ernüchterung folgen. Nicht auf allen, aber oft auf vielen.

Ein leider sehr eindringliches Beispiel für einen solchen Hype-Enttäuschungs-Zyklus scheint aktuell das Darm-Mikrobiom zu liefern. Durchpflügt man die wissenschaftliche Literatur, kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass die „falsche“ Zusammensetzung unserer Darmflora das Grundübel für einen großen Teil unserer Krankheiten und Defekte ist – bis hin zu kognitiven Schwächen und psychiatrischen Störungen. Dass man bis heute nicht mal weiß, wie denn überhaupt ein „normales“ oder wenigstens „gesundes“ Mikrobiom genau zusammengesetzt ist, scheint bei den entsprechenden Schlussfolgerungen kaum zu stören. Hauptsache, im Darm der Kranken tummeln sich andere Bakterien als im Darm der Gesunden – oder sie sind wenigstens in ihren Relationen zueinander deutlich verschoben.

Klar, was soll man auch sagen, wenn etwa Mäuse nach Injektion von Fäkalproben aus Parkinson-Patienten in ihre Bakterien-gesäuberten Därme plötzlich selbst auffällige Symptome entwickeln (Cell 167:1469-80). Oder wenn Ratten, deren Darmflora gegen diejenige depressiver Menschen ausgetauscht wird, nachfolgend analoge Verhaltensänderungen zeigen (J. Psychiatr. Res. 82: 109-18). Oder wenn Mäuse-Angsthasen nach Transplantation des Darm-Mikrobioms draufgängerischer Artgenossen plötzlich zu wagemutigen Helden mutieren (Nature 574: 543-48)...

Doch halt, lassen wir an dieser Stelle ruhig ein wenig Zweifel zu – auch ohne die erwähnten Arbeiten im Detail zu kennen. Und siehe da: Wir sind nicht allein! Anfang des Jahres veröffentlichten kanadische Forscher eine Art Meta-Studie, in der sie 38 Publikationen zusammenfassten, die allesamt in Mäusen die Ausbildung eines pathologischen Phänotyps nach Übertragung des Darm-Mikrobioms von kranken Menschen beschrieben (Cell 180: 221-32). Ihr Fazit: 36 der 38 Arbeiten beschrieben einen Transfer des „kranken“ Phänotyps von Mensch zu Nagetier – und extrapolierten die Rolle des Darm-Mikrobioms sogleich zur kausalen Ursache der jeweiligen Krankheit im Menschen hoch. Diese hohe Rate von 95 Prozent halten die Autoren jedoch für hochgradig unplausibel – zumal nach ihrer Darstellung nahezu alle Studien gar nicht gezielt klärten, ob das „kranke“ Mikrobiom tatsächlich die Ursache oder lediglich eine Konsequenz der Krankheit ist. Oder ob am Ende nicht gar beides – der „kranke“ Phänotyp und das „kranke“ Mikrobiom – womöglich von einem ganz anderen, dritten Faktor verursacht werden könnte.

Das Problem, Kausalität klar von Korrelation abzugrenzen und Erstere zweifelsfrei zu etablieren, ist alles andere als neu in Wissenschaft und Medizin. Allerdings scheint es in der Mikrobiom-Forschung besonders stark ausgeprägt. Und so dürfte die obige Meta-Studie in einigen Labors den Hype-Zyklus wohl ein wenig weiter in Richtung Enttäuschung gedreht haben.

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Letzte Änderungen: 08.12.2020