Editorial

Rollenverständnis 2.0
Im Interview: Asifa Akhtar, Freiburg

Text und Interview: Henrik Müller, Laborjournal 6/2020


(08.06.2020) Die Direktorin am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik Asifa Akhtar über den Gender-Gap in der Wissenschaft und wie wir ihn überwinden können.

Der Gender-Gap ist allen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft bewusst. Ebenso bekannt sind die Vielfalt seiner wissenschaftskulturellen Ursachen sowie eine gewisse Trendwende, die zahlreiche Förderinitiativen wie etwa das Professorinnenprogramm von Bund und Ländern und die Gleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erreicht haben.

Nicht jedem bewusst ist vielleicht, welche Kluft noch immer zwischen Anspruch und Wirklichkeit herrscht. Die Datenlage des Kompetenzzentrums „Frauen in Wissenschaft und Forschung“ zeugt von einer traurigen Wahrheit (gesis.org/cews/unser-angebot/informationsangebote/statistiken). Setzen sich gegenwärtige statistische Trends fort, vergehen noch Jahrzehnte bis zu einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis in wissenschaftlichen Positionen – bei Habilitationen sind das dreißig Jahre, bei Professuren sechzig Jahre, in Hochschulleitungen und Führungspositionen von Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck- sowie Leibniz-Gesellschaft dreißig Jahre. Nachzügler unter letzteren ist die Fraunhofer-Gesellschaft, die konstant weniger als fünf Prozent ihrer Führungspositionen mit Frauen besetzt. Geschlechterparität ist in dieser Hälfte des Jahrhunderts nicht absehbar.

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Foto.: Pixabay/aitoff

Auch im europäischen Vergleich stolpern deutschsprachige Länder ihrem Anspruch hinterher. Die Anteile an Promovendinnen bis W3/C4- und vergleichbaren Professorinnen liegen in der Schweiz, Österreich und vor allem in Deutschland unter dem EU-28-Durchschnitt. Das Gleiche gilt laut Elseviers Gender-Report vom März 2020 für den Anteil an publizierenden Autorinnen und Erfinderinnen in physikalisch‐mathematischen Fächern (elsevier.com/connect/gender-report). Im internationalen Vergleich gehört Deutschland zu den Schlusslichtern.

Die nächsten Generationen deutschsprachiger Akademikerinnen brauchen also nicht auf Gleichbehandlung zu hoffen.

Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfiehlt als ersten mehrerer Lösungsansätze zur weiteren Förderung der Geschlechtergerechtigkeit: „Encourage the nomination of women to top senior positions so as to increase the number of role models for younger women“ (OECD Publishing, doi: 10.1787/9789264025387-en).

Als ein solches Vorbild dient Asifa Akhtar. Die gebürtige Pakistanerin erhielt 1993 ihren Bachelor of Science in Biologie vom University College London und untersuchte für ihre Promotion am Imperial Cancer Research Fund in London 1998 Mechanismen der Transkriptionsregulation. 2001 nahm sie den Posten einer Forschungsgruppenleiterin an, erst am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, später am Freiburger Max-Planck-Institut (MPI) für Immunbiologie und Epigenetik, wo sie Mechanismen der Dosiskompensation in der Regulation des X-Chromosoms erforscht. Seit 2013 steht sie der MPI-Abteilung für Chromatinregulierung als Direktorin vor.

Laborjournal: In 2018 stammten 41,6 Prozent aller naturwissenschaftlichen Promotionen von Frauen. Bei Habilitationen waren es nur noch 19,7 Prozent. Nur jede fünfte Spitzenposition in der Wissenschaft ist mit einer Frau besetzt. Welchen Faktor machen Sie für dieses Ungleichgewicht verantwortlich?

Asifa Akhtar » Die Geschlechtergleichstellung auf PhD-Ebene ist vielversprechend, da dies auf das Interesse der jüngeren Generation an diesem Karriereweg hindeutet. Zum späteren Ungleichgewicht tragen verschiedene Faktoren bei. Nach der Promotion ist oft die Zeit, in der Menschen eine Familie gründen. Die Kinderbetreuung übernehmen traditionell dann Frauen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass dieses Ungleichgewicht nicht nur in den Biowissenschaften auftritt und nicht nur in Deutschland. Wir müssen global auf diese Problematik aufmerksam machen.

Wie würden Sie dies angehen?

Akhtar » Das muss zu Hause beginnen. Falls beide Elternteile Karriere machen möchten, muss der erste Schritt sein, dass Partner sich die Arbeitsbelastung teilen. Zudem sollten akademische Einrichtungen praktische Lösungen und Infrastrukturen wie Kinderbetreuung implementieren, damit beide Partner überhaupt arbeiten können. Nur das würde mehr talentierten Frauen eine Wissenschaftskarriere ermöglichen. Außerdem brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel – die deutsche Öffentlichkeit muss arbeitende Mütter akzeptieren.

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Foto: Latest Thinking und Asifa Akhtar

Was genau meinen Sie damit?

Akhtar » Ich war schockiert, als ich in Deutschland ankam und hörte, dass es sogar einen Begriff für Frauen gibt, die ihre Kinder in Kindergärten geben: Rabenmütter. Bei solch einer Haltung in der Gesellschaft ist es kein Wunder, dass sich Frauen nicht trauen, Karriere zu machen. Sie müssen zu viele Erwartungen erfüllen, sowohl im Privatleben als Mütter als auch im Berufsleben, wo sie häufig in der Minderheit sind.

Sind Sie in Deutschland auf weitere Vorurteile gestoßen?

Akhtar » Eigentlich nicht, zumindest auf keine gegen mich persönlich. Höchstens auf Unterschiede auf kultureller Ebene.

Wie könnten wissenschaftliche Arbeitgeber eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für ihre Mitarbeiter gewährleisten?

Akhtar » Bewusstsein für das Problem ist der erste Schritt. Hier am Freiburger MPI versuchen wir die Work-Life-Balance unserer Mitarbeiter kontinuierlich zu verbessern. Beispielsweise erwies sich ein Kindergarten vor Ort als extrem positiv im Leben der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter unseres Instituts. Auch halten wir Institutstreffen zu familienfreundlichen Zeiten ab. In Zukunft wollen wir an maßgeschneiderten Initiativen für verschiedene Karrierephasen arbeiten, da die Menschen zu verschiedenen Zeiten verschiedene Probleme bewältigen müssen und es keine einheitliche Lösung gibt.

Wie jonglieren Sie selbst denn Ihre Rolle als Mutter zweier Kinder, die gleichzeitig Direktorin an einem MPI ist?

Akhtar » Wissenschaftlerin zu sein, ist ein großartiges Privileg. Meine Arbeit ist meine Leidenschaft. Es motiviert mich unglaublich, gemeinsam mit Studenten und Postdocs jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Aber nichts geht über eine Familie! Nur sie bringt eine ausgewogene Perspektive in mein Leben. Dafür ist es wirklich entscheidend, einen verständnisvollen Partner zu haben. Mein Rat ist es daher, persönliche Ziele nicht aufzugeben, sondern den Partner sorgfältig auszuwählen. Außerdem ist eine positive Einstellung wichtig, da Sie viele Hürden überwinden müssen. Und es ist wichtig, zu wissen, dass Sie nicht jeden Kampf gewinnen können und auch nicht jeder Sieg einen Kampf wert ist. Wählen Sie also sorgfältig aus, wo Sie Ihre Energie einsetzen und geben Sie nicht auf.

Was waren Ihre größten Erfolge?

Akhtar » Für mich persönlich: meine beiden Kinder.

Haben Sie hinsichtlich Ihrer beruflichen Verdienste das Gefühl, dass Sie Ihren Platz mehr beanspruchen mussten als Ihre männlichen Kollegen?

Akhtar » Nichts ist kostenlos. Ich musste in jeder Phase meiner Karriere hart arbeiten. Ob das im Vergleich zu anderen mehr oder weniger war, kann ich nicht sagen. Ich halte mich für lösungsorientiert und versuche, auch in schwierigen Situationen positiv zu bleiben. Denn mit dem Willen zum Erfolg sind alle Hindernisse überwindbar. Ohne meine Familie, die mich auf jedem Schritt des Weges unterstützt hat, wäre das jedoch nicht gegangen.

Plagten Sie niemals Zweifel, nicht gut genug für eine Karriere in der Forschung zu sein?

Akhtar » Das ist doch die menschliche Natur! Ich habe ständig nagende Zweifel. Aber es ist wichtig, eine momentane Verzweiflung nicht das Gesamtbild übernehmen zu lassen. Denn eine wissenschaftliche Karriere ist ein Langstreckenrennen. Daher finde ich es wichtig, Schritt für Schritt vorzugehen, zu bewerten und voranzukommen. Mein Rat ist es, ruhig zu bleiben und weiterzumachen.

Was Ihnen stets gelungen ist?

Akhtar » Nein, natürlich nicht. Niemand ist perfekt und es ist in Ordnung, manchmal zu scheitern. Nur dann weiß man Erfolg zu schätzen. Das Wichtigste ist, aus Fehlern zu lernen und sie nicht zu wiederholen.

Für ein glückliches Wissenschaftlerleben empfehlen Sie also...

Akhtar » Kreativität, Motivation und die Fähigkeit, akzeptieren zu können, dass die eigene Hypothese manchmal falsch ist.

Wie kultivieren Sie diese Fähigkeiten?

Akhtar » Zumindest für mich gilt, dass ich kreativ und motiviert bin, wenn ich glücklich bin. Der Schlüssel dazu ist ein stimulierendes und fürsorgliches Forschungsumfeld, das Diskussionen anregt. Denn nur eine offene Diskussionskultur ermutigt darin, breiter zu denken und über den Tellerrand zu schauen – und all dies wiederum als Sprungbrett für verrückte Ideen zu nutzen.

Sie haben Ihre Berufswahl also nie bereut?

Akhtar » Nein. Wissenschaftler zu sein, ist doch fantastisch. Es gab nie einen besseren Zeitpunkt, um diesen Weg einzuschlagen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft ist international, kooperativ und nimmt kreative Ideen mit offenen Armen auf.

Natürlich ist der Wettbewerb hart, aber die Belohnungen sind großartig. Zum Beispiel können Sie frei gestalten, woran Sie arbeiten und wie Sie Ihre Projekte und Ihr Leben angehen. Aufgrund all dessen rate ich jedem, es einfach zu versuchen. Mein wichtigster Rat ist jedoch, mit der Wahl zufrieden zu sein. Es ist ebenfalls ein Erfolg, dem akademischen Weg nicht zu folgen. Der Abschluss einer Promotion bereitet schließlich auf so viele spannende Karrieremöglichkeiten vor.