Editorial

Wege aus der Sackgasse

Larissa Tetsch


GIESSEN: Auch Bakterien geraten gelegentlich in eine Sackgasse. Glücklicherweise können einige ihre Flagellen dazu nutzen, sich aus dieser misslichen Lage zu befreien.

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Hat sich das Bakterium Shewanella putrefaciens im Schlamm festgefahren, befreit es sich mit einer schraubenförmigen Rotation der Flagelle. Foto: Bruno Eckhardt & Kai Thormann

Wer kennt das nicht? Längst nicht alle Wege führen zum Ziel – und so steht man plötzlich mit dem Gesicht zur Wand, ob bildlich oder buchstäblich, und muss feststellen, dass man sich in eine Sackgasse manövriert hat.

Auch Bakterien geht es manchmal so – zumindest, wenn sie sich in einer strukturierten Umgebung bewegen, die aus Sedimenten, Geweben oder Schleimschichten besteht.

Um vom Fleck zu kommen, nutzen viele Bakterien Flagellen, mit denen sie schwimmen und über Substrate kriechen können. Die Zellanhänge sind lange, in der Zellmembran verankerte Fäden (Filamente), die im Wesentlichen aus dem Protein Flagellin bestehen. Das Filament selbst ist unbeweglich und wird durch einen Motor an der Flagellenbasis angetrieben, wodurch sich die Flagelle wie ein Propeller entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn dreht. „Die bakterielle Flagelle hat die Form einer Helix, die rechts- beziehungsweise linksgängig vorliegen kann“, erklärt Kai Thormann, der mit seinem Team an der Justus-Liebig-Universität Gießen entdeckt hat, wie sich manche Bakterien aus einer Sackgasse befreien (PNAS 114: 6340-5). „Je nachdem, in welche Richtung eine solche Helix dreht, schiebt oder zieht sie die Zelle durch eine Flüssigkeit – wie eine archimedische Schraube.“

Abhängig von der Art der Flagellierung, also der Anordnung der Flagellen auf dem Zellkörper, gibt es verschiedene bakterielle Fortbewegungsweisen. Bei dem Paradebeispiel für schwimmende Bakterien, Escherichia coli, legen sich die über die Zelloberfläche verteilten, linksgängig gedrehten Flagellen bei einer Drehung gegen den Uhrzeigersinn zu einem Bündel zusammen. Dieses schiebt die Zelle vorwärts. Bei einem Wechsel der Drehrichtung verändert sich auch die Windungsrichtung der Filamente und das Flagellenbündel fällt auseinander. Als Folge davon bewegt sich das Bakterium auf der Stelle, taumelt und ändert dabei zufällig die Bewegungsrichtung. Sobald die Drehrichtung der Flagellen erneut auf „Gegen-den-Uhrzeigersinn“ umschaltet, schwimmt die Zelle wieder vorwärts, jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit in eine andere Richtung als zuvor.

Gleiche Windungsrichtung

Bei Bakterien, die nur an einem Zellpol flagelliert sind, verändert sich die Windungsrichtung der Flagelle in der Regel nicht mit der Drehrichtung. So ist es auch bei Vertretern der Gattung Shewanella, Gamma-Proteobakterien (und damit Verwandten von E. coli), die im Sediment vorkommen und schon seit Thormanns Postdoktorandenzeit zu dessen Forschungsobjekten gehören.

Da es bei Shewanella kein Flagellenbündel gibt, das auseinanderfallen kann, kommt die Richtungsänderung anders zustande: „Um die Richtung effektiv wechseln zu können, ist diesmal die Hakenstruktur instabil, die das Filament mit dem Motor verbindet. Beim Wechsel der Drehrichtung von ‚Im-Uhrzeigersinn’ auf ‚Gegen-den-Uhrzeigersinn’ wird der zunächst langgezogene Haken auf einmal komprimiert und knickt ein. Dadurch dreht sich der Zellkörper, und die Zelle schwimmt in einer anderen Richtung weiter“, erklärt der Gießener Mikrobiologe. „Das heißt, dass aus einer ‚Fehlfunktion‘, der Instabilität der Flagelle, eine neue Funktion geworden ist.“

Die meisten Versuche zum bakteriellen Schwimmverhalten finden im flüssigen Medium statt, doch Shewanella lebt wie viele andere Bakterien in porösen Sedimenten voller Sackgassen. Um herauszufinden, wie sich das Bakterium verhält, wenn es feststeckt, haben die Wissenschaftler eine solche Umgebung nachgebaut. Dazu belegten sie eine unebene Agarosefläche mit einem Deckgläschen. Dazwischen bildeten sich feinste Spalten, in die sich Shewanella putrefaciens verirren konnte. Das Filament der polaren Flagelle wurde fluoreszenzmarkiert, sodass die Bewegung mit Hochgeschwindigkeitsmikroskopie aufgezeichnet werden konnte.

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Fanden eine bisher unbekannte schraubenförmige Bewegung der Flagellen von Shewanella putrefaciens: Bruno Eckhardt, Marco Kühn und Kai Thormann (v.l.n.r.) Foto: Larissa Tetsch

Wie erwartet, schwammen die Bakterien vorwärts, wenn die Flagelle gegen den Uhrzeigersinn rotierte, und rückwärts, wenn sie sich im Uhrzeigersinn drehte. In einer Sackgasse rotierte die Flagelle, ohne dass sich das Bakterium von der Stelle rührte. Um sich aus dieser Lage zu befreien, schalteten die Prokaryoten zuerst zwischen den beiden Drehrichtungen hin und her. Brachte das nichts, zeigten sie eine zuvor noch nie beobachtete Verhaltensweise: Die Flagelle „klappte um“ und umwickelte die Bakterienzelle. Sie rotierte dann als größere Helix um die Zelle herum, wodurch letztere nach hinten aus der Sackgasse heraus geschoben wurde. „Diese ‚schraubenartige‘ Bewegung des Filaments um die Zelle herum könnte man mit einer Schraube im Holz oder einem Korkenzieher vergleichen“, so Thormann.

Bakterielle Schraube

Um zu erklären, wie diese Bewegung zustande kommt, fokussierten sich die Mikrobiologen auf die Kräfte, die auf die Flagelle wirken, und holten sich Unterstützung vom Physiker Bruno Eckhardt, der an der Philipps-Universität Marburg die Arbeitsgruppe „Komplexe Systeme“ leitet. Der Kontakt wurde von einem gemeinsamen Marburger Kooperationspartner, Gert Bange, vermittelt. Den Physikern gelang es, die Entstehung und Funktionsweise der „bakteriellen Schraube“ am Computer nachzubilden.

„Ein schöner Teil der Geschichte ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Biologie und Physik“, ist Thormann überzeugt. Die Bildung der Schraube erklärt er anschaulich durch einen Vergleich der Flagelle mit einem Telefonkabel. „Dreht man das Kabel in Richtung der Helix, macht man diese kleiner, das ganze bleibt stabil. Dreht man diese halbwegs steife Helix aber auf, bildet sich in der Nähe der Finger sofort eine größere Schlaufe und die ganze Kabelhelix wird nach unten gezogen. Genau das passiert bei Shewanella, wenn der Zellkörper feststeckt.“

Unterschiedliche Kräfte

Auf das Bakterium angewendet, sieht das in etwa folgendermaßen aus: In der Sackgasse rotiert die Flagelle zuerst gegen den Uhrzeigersinn und bewegt sich seitwärts, wenn die Drehkräfte zu groß werden. Verändert die Zelle die Drehrichtung der Flagelle von „Gegen-den-Uhrzeigersinn“ zu „Im-Uhrzeigersinn“, wirken Scherkräfte. Diese werden normalerweise aufgefangen, indem der Zellkörper in Gegenrichtung rotiert. Steckt das Bakterium irgendwo fest, ist diese Gegenrotation nicht mehr möglich, sodass bei einer Rotation der linksgängigen Helix im Uhrzeigersinn die Drehkräfte sehr groß werden. Ein Umschalten der Drehrichtung führt deshalb dazu, dass die Flagelle unten am Filament instabil wird und eine Rechtsgängigkeit induziert.

„Anders als bei der Knick-Instabilität, die zur Richtungsänderung beim Vorwärtsschwimmen führt und bei Kompression des Flagellums auftritt, setzt diese Instabilität ein, wenn das Flagellum unter Zug ist“, erklärt Eckhardt die besonderen Kräfteverteilungen bei der Schraubenbildung. „Durch den Zug werden die untersten Windungen der Schraube gestreckt und in Richtung der Rechtsgängigkeit gedrängt, aber bevor sich diese vollständig ausbilden kann, wird das Flagellum zur Zelle hingezogen und wickelt sich um den Zellkörper“. Thormann ergänzt: „Die Schlaufe bildet sich unten am Filament, weil dort die Kräfte am stärksten sind. Diese drücken die Schlaufe in Richtung rechtsgängig. Irgendwann werden die Kräfte zu groß, und es bildet sich die bakterielle Schraube.“ Sobald das Bakterium die Engstelle verlassen hat, ändert sich die Drehrichtung der Flagelle wieder, die Flagelle wickelt sich ab und das Bakterium schwimmt erneut vorwärts.

Synthetisches Sediment

Die Ausbildung der Schraube konnten die Wissenschaftler übrigens auch induzieren, indem sie die Viskosität des Mediums durch den Zusatz eines synthetisch hergestellten Copolymers aus Saccharose und Epichlorhydrin (Ficoll, bekannt aus dem Probenpuffer der Agarosegele) erhöhten. Vermutlich reduziert das zähflüssige Medium die Gegenbewegung des Zellkörpers und erhöht dadurch die auf die Flagelle wirkenden Drehkräfte. „Allerdings sind zur Aufklärung der Wirkung von Ficoll noch weitere Untersuchungen erforderlich“, so Eckhardt. Überraschenderweise konnten sich die Bakterien mithilfe ihrer Schraube im Ficoll-haltigen Medium nur langsam vom Fleck bewegen. Offensichtlich benötigen sie für eine effektive Bewegung einen festen Untergrund, an dem sie sich abdrücken können.

Die Autoren sind sich sicher, dass in naher Zukunft viele weitere Beispiele der Flagellenschraube beschrieben werden: „Tatsächlich gibt es Hinweise von Kollegen, dass eine Reihe polar flagellierter Bakterien die Schraubenbildung der Flagelle zur Bewegung als eine Art ‚Bohrer‘ und zur Navigation nutzt.“

Flagellen-Bündel

Letzteres wurde kürzlich in einer Arbeit beschrieben, an der Thormann und der Erstautor der PNAS-Veröffentlichung über Shewanella putrefaciens Marco Kühn beteiligt waren (Sci. Rep. 7: 16771).

Sie zeigt, dass Pseudomonas putida mit einem ganzen Bündel polarer Flagellen eine Schraube bildet und dafür noch nicht einmal eine Sackgasse benötigt: „Unsere Kollegen aus Potsdam konnten zeigen, dass P. putida schon unter normalen planktonischen Bedingungen eine Schraubenbildung zum effektiven Richtungswechsel nutzt“, kommentiert Thormann die neuen Befunde. „Sowohl bei Shewanella als auch bei Pseudomonas wird durch die Instabilität der Flagelle eine weitere Funktion möglich – die bakterielle Schraube, die ihrerseits neue biologische Funktionen bietet.“



Letzte Änderungen: 10.10.2019