Editorial

Wirkung im Widerspruch

Juliet Merz


(11.11.2020) BOCHUM: Dass ein Wirkstoff einen Rezeptor gleichzeitig hemmt und verstärkt, klingt erst einmal paradox. Doch genau das hat ein Team von der Ruhr-Universität Bochum kürzlich dokumentiert und den Mechanismus hinter dem Paradoxon entschlüsselt.

Der Schauplatz unseres heutigen Journal Clubs befindet sich im Gehirn von Säugetieren. Dort haust eine Rezeptor-Familie, welche für die Signalweiterleitung, Modulation und Plastizität eine entscheidende Rolle spielt: die ionotropen Glutamat-Rezeptoren. Dabei handelt es sich um tetramere Ionenkanäle, die durch den Neurotransmitter Glutamat aktiviert und damit geöffnet werden können. „Pharmakologen und Neurowissenschaftler haben schon seit langem ein Auge auf die Ionenkanäle geworfen, weil sie für die Funktion des Gehirns wichtig sind und für die Behandlung einer Vielzahl von Erkrankungen geeignet sein könnten“, erzählt der Neurobiologe Andreas Reiner, der selbst seit seiner Postdoc-Zeit im US-amerikanischen Berkeley Glutamat-Rezeptoren untersucht und jetzt als Juniorprofessor an der Ruhr-Universität Bochum eine eigene Arbeitsgruppe leitet. So können die Glutamat-gesteuerten Ionenkanäle in pathologische Prozesse verstrickt sein, etwa bei Schmerzen, Migräne und Epilepsie oder bei Stimmungsschwankungen und Suchterkrankungen. Sogar für die Behandlung von Neurodegeneration, Schlaganfällen und Glioblastomen haben Pharmakologen den Rezeptor als Ziel im Visier.

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Versuchs-Set-up mit der Applikationspipette (links) und Patch-Pipette (rechts). Auf dem Mikroskop-Bild ebenfalls zu sehen: Links die Applikationspipette mit zwei Kanälen, aus denen die Lösungen mit und ohne Glutamat ausströmen (das Runde ist nur eine Verunreinigung). Rechts die Patch-Pipette für die Messung, an deren Spitze sich ein Membranstückchen (Patch) mit den Glutamat-Rezeptoren befindet. Fotos: RUB/Reiner(Set-up), RUB/Pollok(Mikroskop-Bild)

Unerwartete Nebenwirkungen

Im Gehirn sind vier Unterklassen von Glutamat-Rezeptoren bekannt, von denen drei Glutamat-gesteuerte Ionenkanäle sind – die AMPA-, Kainat- sowie NMDA-Rezeptoren. Sie alle übernehmen leicht unterschiedliche physiologische Aufgaben: Die AMPA-Rezeptoren leiten Signale weiter, die Kainat-Rezeptoren kümmern sich zwar auch um die Signalweitergabe, haben aber ebenso neuromodulatorische Funktionen, indem sie die synaptische Aktivität regulieren. Die NMDA-Rezeptoren als dritte Unterklasse stärken oder schwächen Synapsen und ermöglichen so die Lernfähigkeit. „Schon in den 90er-Jahren gab es Bestrebungen, bei bestimmten pathologischen Befunden die Aktivität der Glutamat-Rezeptoren zu hemmen“, erzählt Reiner. Doch die erste Generation dafür eingesetzter Antagonisten hatte ein zu breites Wirkungsspektrum, und die Pharmakologen dokumentierten viele unerwünschte Nebeneffekte, auch neurologischer Natur – etwa Halluzinationen oder Dämpfung der Sinneswahrnehmung. Das Problem: Die Antagonisten waren nicht in der Lage, spezifisch an einzelne Rezeptor-Unterklassen zu binden, sondern blockierten gleich einen Großteil aller Glutamat-Rezeptoren.

Eine zweite Generation von Antagonisten versprach Besserung. Die Liganden konnten zwischen den drei Unterklassen unterscheiden und sie spezifisch binden. Den Forschern gelang sogar eine noch passgenauere Bindung, die Reiner am Beispiel eines Kainat-Rezeptors erklärt: „Alle Glutamat-Rezeptoren bestehen aus vier Untereinheiten. Diese können beliebig zusammengesetzt in den Zellen vorkommen. So können Kainat-Rezeptoren homomer nur aus GluK1-Untereinheiten bestehen oder als Heteromere vorliegen und beispielsweise aus einer GluK1-Untereinheit sowie drei GluK2-Untereinheiten bestehen.“ Neuere Antagonisten können also nicht bloß an einzelne Glutamat-Rezeptor-Unterklassen binden, sondern besetzen spezifisch einzelne Untereinheiten-Typen.

Einer dieser Liganden ist das Molekül UBP-310, das 2006 von US-amerikanischen und britischen Wissenschaftlern beschrieben (J. Neurosci. 26(11): 2852-61) und 2015 als potenzieller Kandidat zur Behandlung von Epilepsie vorgeschlagen wurde. „Unter Neurobiologen ist UBP-310 inzwischen recht bekannt, weil es als GluK1-selektiver Kainat-Rezeptor-Antagonist genutzt werden kann, um speziell die Funktion dieser Untereinheit zu blockieren“, berichtet Reiner, der für seine Glutamat-Rezeptor-Grundlagenforschung zusammen mit seinem Doktoranden Stefan Pollok ebenfalls auf den Liganden setzt.

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Andreas Reiner (li.) und Stefan Pollok möchten verstehen, wie Glutamat-Rezeptoren im Gehirn von Säugetieren funktionieren. Foto: RUB/Marquard

Dabei war es gar nicht so einfach, einen passenden Antagonisten zu finden: „Wir haben eine ganze Weile gebraucht, bis wir einen Liganden identifiziert hatten, der die benötigte Selektivität hat“, beschreibt Reiner die Suche nach UBP-310. Allerdings verursacht dieser eigentlich recht spezifische Antagonist unerwartete Nebenwirkungen, wenn er auf heteromere Kainat-Rezeptoren trifft. Woher diese kommen könnten, beantworteten Reiner und Pollok kürzlich in einer in PNAS veröffentlichten Studie (117 (41): 25851-8).

In Zellkulturexperimenten beobachteten die Bochumer Neurobiologen, dass UBP-310 zwar als Antagonist an die GluK1-Untereinheit bindet und somit die Aktivierung des Ionenkanals vermindert, bei heteromeren Rezeptoren kann es dabei jedoch auch zu einer verstärkten Antwort kommen. Auf zellulärer Ebene passiert dabei Folgendes, wie die Daten von Reiner und Pollok zeigen: Normalerweise bindet Glutamat an den Kainat-Rezeptor und ein Stromsignal entsteht. Doch nur Millisekunden später folgt eine sogenannte Desensitisierung des Kanals, er verschließt sich temporär und kann nicht mehr aktiviert werden.

Dieser inaktive Zustand dauert je nach Rezeptor-Unterklasse unterschiedlich lang. Die Kainat-Rezeptoren pausieren etwa ein bis zwei Sekunden, die AMPA-Rezeptoren nur 20 bis 100 Millisekunden. Weil die Desensitisierung auf einer sehr schnellen Zeitskala abläuft, mussten Reiner und Pollok auf ein aufwendiges Messverfahren zurückgreifen. „Für unsere Versuche mussten wir mit sehr hoher Geschwindigkeit Glutamat oder einen anderen Liganden applizieren können“, meint Reiner und beschreibt das Applikationssystem weiter: „Dafür kontrollieren wir über ein Piezoelement eine Perfusionspipette, sodass wir im Sub-Millisekunden-Bereich die Position dieser Pipette variieren und somit sehr schnell Stoffe applizieren und entfernen können.“

Der Mechanismus der Desensitisierung verhindert, dass der Ionenkanal zu lange aktiviert bleibt und auch bei kleinen Glutamat-Restkonzentrationen ein Signal weiterleitet. UBP-310 konnte die Desensitisierung bei GluK1-Homomeren und GluK1/GluK2-Heteromeren stark abschwächen; bei Heteromeren, bei denen ein anderer Untereinheiten-Typ – nämlich GluK5 – auftritt, konnte UBP-310 die Desensitisierung komplett verhindern. Bei Homomeren, die ausschließlich entweder aus GluK2 oder GluK5 bestanden, war der Antagonist wirkungslos; wir erinnern uns: UBP-310 bindet nur an GluK1.

Sicherheitsmechanismus adieu

Reiner und Pollok haben eine Vermutung, wie UBP-310 die Desensitisierung hemmt: „Eigentlich bindet Glutamat den Rezeptor, aktiviert ihn und sorgt dafür, dass sich seine Konformation ändert. Damit verschließt sich die Ionenpore und eine erneute Aktivierung ist temporär nicht möglich. Mit UBP-310 verharrt der Kanal in einem geöffneten Zustand. Der Antagonist verhindert diesen zellulären Sicherheitsmechanismus, und obwohl die Rezeptoraktivierung zu Beginn inhibiert ist, verstärkt man zumindest in den heteromeren Rezeptoren die Antwort und hat quasi einen gegenteiligen Effekt erzielt.“ Welche Konsequenzen das physiologisch hat, lasse sich allerdings nur schwer vorhersagen. „Es hängt sehr davon ab, welche Rezeptor-Kombination genau exprimiert wird und an welcher Synapse man sich das System anschauen würde“, so Reiner. „Potenziell könnte UBP-310 sogar Schädigungen an den Nervenzellen verursachen.“

Mit den Ergebnissen konnte das Bochumer Duo obendrein ein weiteres Rätsel lösen, wie Studienleiter Reiner erklärt: „Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass ein einziges Glutamat-Molekül ausreicht, um den Ionenkanal sowohl zu aktivieren als auch zu desensitisieren. Unsere Daten widersprechen dieser Annahme. Für die Desensitisierung braucht man mehr als nur eine besetzte Untereinheit.“

Das Forscherteam nahm in seinen Experimenten auch einen AMPA-Rezeptor ins Visier, mit einem kleinen Trick: Da für den ­AMPA-Rezeptor noch kein spezifisch bindender Antagonist beziehungsweise in diesem Fall Agonist bekannt ist, behalfen sich Reiner und Pollok mit einer kleinen Mutation am Ionenkanal. Das Resultat war gleich: In Rezeptoren, in denen nur noch ein Teil der Untereinheiten Glutamat oder einen anderen Agonisten binden konnte, blieb die Desensitisierung reduziert.

„Die Ergebnisse dürften somit nicht nur für UBP-310, sondern auch für andere Glutamat-Rezeptor-Liganden gelten, wodurch sich zusätzliche beziehungsweise unerwartete Effekte sowie Nebenwirkungen ergeben könnten“, formuliert Reiner eine Hypothese. Vor allem Neurobiologen, die UBP-310 für ihre Grundlagenforschung einsetzen, sollten zukünftig die unterbundene Desensitisierung durch den Antagonisten im Blick behalten, wie Reiner betont: „Unsere Studie zeigt, dass man in der Nutzung und Interpretation der Ergebnisse deutlich vorsichtiger sein muss, als man das vielleicht bisher ist.“

Für Reiner und Pollok geht es mit dem Thema derweil weiter. „Zum einen interessiert uns, wie es bei anderen Wirkstoffklassen aussieht. Hier haben wir uns ja einen Antagonisten angeschaut, der an der gleichen Stelle bindet wie Glutamat“, so Reiner. Aber wie wirken beispielsweise allosterische Wirkstoffe, die an anderen Stellen binden, und haben sie einen vergleichbaren Einfluss auf heteromere Rezeptoren? Auch die AMPA-Rezeptoren bleiben Forschungsgegenstand der Bochumer, denn die Rezeptor-Unterklasse sei physiologisch besonders wichtig, begründet Reiner und ergänzt einen weiteren Aspekt: „In dieser Studie haben wir uns einen synthetischen Liganden angeschaut – möglicherweise gibt es aber auch endogene Substanzen, die im Gehirn den gleichen Mechanismus nutzen, damit ähnliche Effekte herbeiführen und quasi als Modulatoren wirken.“ Ob diese Art der Regulation im Gehirn von Säugetieren aber wirklich eine Rolle spielt, möchte die Gruppe in zukünftigen Forschungsarbeiten zeigen.



Letzte Änderungen: 11.11.2020