Editorial

Von wegen alternativlos
Neue Expressionssysteme

Henrik Müller


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Nicht nur grüne Expressionssysteme, etwa auf Basis von Moosen oder Grünalgen, machen klassischen Systemen inzwischen Konkurrenz. Foto: University of Michigan

(09.02.2020) Noch führen Expressionssysteme auf Basis von E. coli oder CHO-Zellen die Rangliste der beliebtesten Systeme für die Expression rekombinanter Proteine an. Aber selbst CHO-Zellen sind mit manchen posttranslationalen Modifikationen überfordert. Spätestens dann sind Alternativen gefragt.

Mutter Natur kann manchmal ein störrisches Biest sein, das auf komplizierten Lösungen beharrt. So reicht es ihr zum Beispiel nicht, dass Proteine aus dreidimensionalen Aminosäure-Puzzles bestehen. Nein, eukaryotische Proteine müssen meist phosphoryliert, N- und O-glykolysiert, lipidiert, proteolytisch verdaut oder kovalent mit sich oder anderen Makromolekülen verbunden sein, wenn sie funktionieren sollen. Mehr als dreihundert posttranslationale Modifikationen von Proteinen sind bekannt. Entsprechend steinig ist manchmal der Weg zu funktionalen, korrekt gefalteten sowie modifizierten rekombinanten Proteinen.

Forscher, die regelmäßig auf diesem Weg unterwegs sind, nutzen immer häufiger die zellfreie Proteinsynthese, die gegenwärtig eine wahre Renaissance erlebt. Der wesentliche Grund hierfür ist, dass viele ihrer technischen Einschränkungen in den letzten zehn Jahren überwunden wurden. Zellfreie Expressionssysteme nutzen die aus Zellen isolierte Translationsmaschinerie, die Forscher müssen sich um Zellmetabolismus und Lebensfähigkeit von Organismen also keinen Kopf zu machen.

Einfaches Verfahren

Wie sich zellfreie Systeme einfach herstellen lassen, erklärt Stefan Kubick, Abteilungsleiter am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Potsdam: „Im Labormaßstab funktioniert die Blasenkavitation gut: Ein Zellpellet wird mit Stickstoff unter hohem Druck beaufschlagt. Eine Druckentspannung lässt gelösten Stickstoff ausperlen und sprengt die äußere Membran von innen ab. Enzyme bleiben aktiv, da kein Sauerstoff eindringt. Zellkerne werden durch Zentrifugation entfernt, das Endoplasmatische Retikulum (ER) revesikuliert und Ribosomen, Initiations- und Elongationsfaktoren sowie Aminoacyl-tRNA-Synthetasen aktiv im Lysat erhalten. All das dauert einen Arbeitstag, selbst im Liter-Maßstab.“

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Stefan Kubick vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie am Standort Potsdam geht davon aus, dass der Kombination aus Klick-Chemie und zellfreier Proteinexpression die Zukunft gehört. Foto: glyconet Berlin Brandenburg

In den letzten Jahren wurden etliche neue zellfreie Expressionssysteme vorgestellt, etwa von Pseudomonas, Streptomyces, Vibrio und Bacillus, die häufig Ausbeuten von einigen Mikrogramm Protein pro Liter liefern. Für die Expression eukaryotischer Proteine eignen sich Lysate aus Protozoen, Hefe-, Tabak-, Insekten- oder Säuger-Zellen besser. Viele davon funktionieren in winzigen Picoliter-Tröpfchen genauso gut wie in großvolumigen Produktions-Reaktoren. Die Proteinausbeuten können etliche Gramm pro Liter erreichen.

Die zellfreie Proteinsynthese bringt laut Kubick enorme Vorteile: „Da wir keine gentechnisch veränderten Organismen herstellen, sind wir bei der Proteinsynthese nicht der Gentechnik-Sicherheitsverordnung unterworfen. Ohne lebende Zellen können wir unsere Synthesesysteme effektiv sterilisieren und arbeiten so immer unter standardisierten Bedingungen. Alle Klonierungsarbeiten entfallen ebenfalls. Viele zellfreie Systeme können außerdem gefriergetrocknet werden und erhalten ihre Aktivität für Monate. Entsprechend gut ist die Reproduzierbarkeit der Proteinausbeuten. All das beschleunigt die Forschung immens. Hier findet gerade ein Paradigmenwechsel statt.“

Im Gegensatz zu vielen Organismen arbeiten zellfreie Systeme auch unter harscheren pH-Werten, Temperaturen und Salzkonzentrationen. Dies erlaubt beispielsweise, thermophile Proteine heterolog im Lysat eines mesophilen Wirtes wie E. coli zu exprimieren und einfach durch Erhitzen abzutrennen. Auch Membranproteine können in E.-coli-Lysaten durch Zugabe künstlicher Lipid-Umgebungen wie Nanodiscs oder Liposomen exprimiert werden.

Glykosylierung kein Problem

Doch bei Membranproteinen kommen die Vorteile eukaryotischer Lysate besonders zum Tragen. Denn neben zytotoxischen und Zellwand-kontrollierten Makromolekülen, für die zellfreie Systeme natürlich prädestiniert sind, können auch komplexe glykosylierte Membranproteine exprimiert werden. Kubick dazu: „Die Vesikel des Endoplasmatischen Retikulums sind die Basis für alle posttranslationalen Modifikationen: Von Glykosylierungen über Lipidmodifikationen und Signalpeptid-Abspaltungen bis hin zu Disulfidbrücken. Bei der Herstellung zellfreier Extrakte ist es wichtig, das ER in noch aktive Vesikel zu überführen, um Proteine co-translational in Lipid-Bilayer einbetten und modifizieren zu können.“

Seit über einem Jahrzehnt entwickelt Kubicks Labor deshalb zellfreie Systeme aus Insektenzellen sowie Ovarialzellen des Chinesischen Zwerghamsters (CHO) weiter. Geringe Proteinausbeuten aufgrund einer schwachen Ex-vivo-Initiation der Translation haben Kubick et al. unter anderem mithilfe sogenannter Internal Ribosomal Entry Sites (IRES) überwunden. Diese spezifischen RNA-Sekundärstrukturen binden direkt an ribosomale 40S-Untereinheiten, wenn sie in die 5‘-untranslatierte Region einer DNA-Vorlage integriert sind. Sie sind deshalb nicht von Initiationsfaktoren abhängig und liefern höhere Ausbeuten. Selbst schwierig zu exprimierende Membranproteine wie der 160 kDa schwere Epidermal Growth Factor Receptor (EGFR) hat Kubicks Team mit ihrer Hilfe in Ausbeuten von einem Gramm pro Liter hergestellt (Sci. Rep. 7, 11710).

Kubick gesteht aber: „Die Verwendung von IRES muss proteinspezifisch angepasst werden. Ungewollte Hybridisierungen zwischen codierender Sequenz und IRE-Site könnten die Translationsleistung der Ribosomen auch inhibieren. Wir suchen also weiter nach Möglichkeiten, die Translationseffizienz zu verbessern.“

Humane zellfreie Systeme wurden bisher für HEK293-, K562- und HeLa-Zellen beschrieben. In letzteren können hochmolekulare Proteine wie GCN2 (170 kDa), Dicer (200 kD) oder mTOR (260 kD) zumindest in qualitativen Ausbeuten in Spezies-treuer Umgebung exprimiert werden (Protein Expr. Purif. 62(2): 190-8).

Natürlich lässt sich nicht jedes Protein zellfrei herstellen, erläutert Kubick: „Alles hängt vom Komplexitätsgrad ab. Wenn ein Protein im Zytosol exprimiert, im Mitochondrium modifiziert und in der dortigen Membran assembliert wird, wie etwa ATP-Synthasen, dann bleibt die zellfreie Expression für die nächsten Jahrzehnte eine Herausforderung. Auch fehlen uns bestimmte O-Glykosylierungen. Denn gegenwärtige Herstellungsverfahren von Lysaten zerstören die Cis-trans-Struktur des Golgi-Apparates, die dafür notwendig ist.“

Neues Traumpaar

Kubicks Vision reicht indes weiter: „Das Zukunftsthema ist die Kombination von Klick-Chemie mit zellfreier Proteinproduktion. Denn zu Lysaten können wir nicht-kanonische Aminosäuren und bioorthogonale tRNA/Synthetase-Paare einfach hinzugeben, um synthetische Modifikationen punktgenau co-translational etwa in Antikörper einzubauen und Wirkstoffe gezielt zu konjugieren. Die nicht-kanonische Aminosäure oder der Wirkstoff können auch zelltoxisch sein. Das spielt für uns keine Rolle.“ Welche neue Möglichkeiten diese Kombination eröffnet, beschreibt das Methoden-Special „Neue Protein-Labelling-Techniken“ in Laborjournal 10/2019 auf Seite 44 (Link).

Die Vor- und Nachteile pro- und eukaryotischer zellfreier Expressionssysteme vermittelt Kubicks Team in einem Review (Chembiochem. 16: 2420-31). Einen Vergleich kommerzieller Systeme findet man in einer Übersicht von Shorong Chong (Curr. Protoc. Mol.Biol. 108: 16.30.1-16.30.11). Einen Blick über den Tellerrand reiner Proteinproduktion hinaus gewährt schließlich Arren Bar-Even vom Potsdamer MPI für Molekulare Pflanzenphysiologie (Curr. Opin. Biotechnol. 60: 221-29). Wer dagegen eine praktische Einführung bevorzugt, dem sei die Winter School Glycobiotechnology des Glyconet Berlin-Brandenburg (www.glyconetbb.de/) Mitte März empfohlen. Kubick erklärt: „Dort bieten wir unter anderem Training in zellfreier Proteinsynthese an. Ebenso gern können Wissenschaftler bei uns aber auch für ein paar Wochen die zellfreie Synthese ihrer Wunschproteine erlernen.“

Schutz vor den Nachteilen zellfreier Systeme, besonders für schwach exprimierte oder kostenintensive Proteine, bieten häufig nur Zellmembranen. Proteine mit FeS-Zentren oder Cofaktoren wie Coenzym F verlieren ihre Aktivität unter zellfreien Bedingungen, wenn Sauerstoff eindringt. Auch puffern zelluläre Chaperone Störungen der konformationellen Stabilität von Proteinen ab. Ein weiterer Vorteil von Organismen ist die Kompartimentierung. Während zellfreie Systeme ihre ineffektive ATP-Regeneration erst im letzten Jahrzehnt überwanden, liefern zelluläre Systeme die Energieversorgung chemiosmotisch mit. Zudem erlauben es Organismen, Proteinmodifikationen durch Ansteuern bestimmter Kompartimente wie in einem Baukasten an- oder abzuschalten.

Eierlegende Wollmilchschweine existieren aber auch hier nicht. Falls posttranslationale Modifikationen von untergeordneter Bedeutung sind, bleibt E. coli das dominierende Expressionssystem. Doch auch für Alternativen wie Pseudomonas fluorescens stehen bereits mehrere Expressionsvektoren und Hochdurchsatz-Stämme mit Proteinausbeuten von hundert bis achthundert Milligramm pro Liter zur Verfügung. E. colis größte Konkurrenten sind stäbchenförmige Bakterien der Gattung Bacillus. Kommerzielle Kits von B. megaterium und B. subtilis versprechen Proteinausbeuten von einigen hundert Milligramm pro Liter. In der Industrie wird auch das thermophile B. licheniformis gerne verwendet, um native Enzyme wie Proteasen, Keratinasen und Tannasen zu produzieren. Alle drei Bacillus-Arten werden insbesondere für ihre Fähigkeit zur Sekretion heterologer Proteine geschätzt, was Reinigungsprotokolle immens erleichtert.

Einfache und günstige Hefen

Aber auch ertragreichste Prokaryoten erlauben keine komplexen posttranslationalen Modifikationen. Ähnlich kostengünstig und einfach kultivierbar wie Bakterien, aber zur N- und O-Glykosylierung befähigt, sind Hefen. In Säugern bestehen O-Glykosylierungen von Serinen und Threoninen aus N-Acetylglucosamin, Galaktose und Sialinsäure. Hefen dagegen lieben Mannose. Der Austausch von fünf O-Mannosyl-Transferase-Genen in Pichia pastoris durch vierzehn humane Gene erlaubt es seit 2013, Proteine mit humanen O-Glykosylierungen in Hefen herzustellen. Angeblich sogar homogener als in CHO-Zellen. Die N-Glykosylierungen von P. pastoris wurden bereits einige Jahre zuvor stufenweise humanisiert. Die weiteren genetischen Vorteile dieser Hefe erörtern die Biotechnologen Jin Chuan Wu und Veeresh Jutura vom Institute of Chemical and Engineering Sciences in Singapur in ihrem Review (Chembiochem. 19: 7-21).

Die Vielseitigkeit von Hefen zeigt sich auch bei anderen Vertretern. Arxula adeninivorans ist beispielsweise thermoresistent und halotolerant, während Kluyveromyces lactis zur Chymosin-Produktion sogar mit Laktose als Kohlenstoffquelle im Maßstab von mehreren zehntausend Litern eingesetzt wird. Für Saccharomyces cerevisiae als auch Pichia pastoris existieren Expressionsvektoren, die neben intrazellulärer auch sekretorische Expression ermöglichen. Hefe-Fermentation ist im Vergleich zur Säugerzellkultur zudem häufig günstiger.

Phylogenetisch näher am Menschen dran ist das Baculovirus-Expressionssystem, das virale Vektoren als In-vitro-Transpositionssystem in Insektenzellkulturen nutzt. Das doppelsträngige DNA-Genom von Baculovirus kann durch homologe Rekombination leicht verändert werden. Kommerziell ist es unter den Akronymen Bac-to-Bac, BacPAK oder FlashBAC erhältlich.

Die am meisten genutzten Zelllinien sind Sf21 und Sf9 des Eulenfalters Spodoptera frugiperda sowie BTITN5B14 der Aschgrauen Höckereule Trichoplusia ni. Beide benötigen im Gegensatz zu Säugerzellen keine CO2-Begasung, wachsen auch bei Raumtemperatur und können nicht von Humanpathogenen infiziert werden.

Transgene Insektenzelllinien mit humanen Glykosylierungsmustern müssen aber noch weiterentwickelt werden. Meist hängen sie im Vergleich zum Menschen kürzere, weniger sialylierte N-Glykane an. Den Stand der Forschung fasst ein Review von Robert Possees Gruppe von der Oxford Brookes University in England zusammen (Curr. Protoc. Protein Sci. 91: 5.5.1-5.5.22).

Als nicht-virale Alternativen werden die Schneiderlinie 2 der Schwarzbäuchigen Fruchtfliege Drosophila melanogaster sowie eukaryotische Einzeller wie der Gecko-Parasit Leishmania tarentolae oder das Wimpertierchen Tetrahymena thermophila verwendet. Vorteil der Ciliaten ist ihre Fähigkeit, Hitze-geschockte Reste von Mitochondrien in den extrazellulären Raum zu entlassen. Membranproteine können so direkt in Vesikeln exprimiert werden.

CHOs setzen Messlatte hoch

Eine sehr hohe Messlatte für alternative Expressionssysteme setzen allerdings die 1957 isolierten und immortalisierten Zellen aus Ovarien des Chinesischen Zwerghamsters (CHO). Aus diesen stammen zwei Drittel aller rekombinanten Säugerzellproteine. Die industrielle Bioproduktion verwendet meist CHO-Linien mit deaktivierter Dihydrofolat-Reduktase (DHFR), die einfach auf eine Co-Transfektion von DHFR und Zielgen selektiert werden können. Neben stabil transfizierbaren Zelllinien existieren auch Varianten, die Plasmide als Episom aufrechterhalten. Die Proteinausbeuten liegen bei bis zu zehn Gramm pro Liter Zellkultur. Als Säugerzell-Alternative ist die Human Embryonic Kidney-Zelllinie 293 (HEK293) etabliert. Sie wächst ebenfalls in Suspension, entweder episomal oder stabil transfiziert, in Serum-freiem Medium.

Für problematische Proteine sind oft transgene Tiere der letzte Ausweg. Problematisch sind zum Beispiel komplexe Impfstoffkandidaten wie das Merozoiten-Oberflächenprotein-1 (MSP1) des Malariaerregers Plasmodium falciparum – oder Proteine, deren Nachfrage andere Systeme nicht decken, wie das im Tonnenmaßstab benötigte Humanalbumin. Genmodifikationen des Säugergenoms sind dank homologer Rekombination zwar seit drei Jahrzehnten möglich. Aber erst die RNA-abhängige Endonuklease der CRISPR/Cas-Methode erlaubt ein ortsspezifisches, quantitatives und kostengünstiges Einfügen oder Entfernen von Zielsequenzen. Entsprechend sind mehrere Dutzend rekombinante Proteine bereits in der EU zugelassen oder in der klinischen Prüfung, die entweder aus der Milch transgener Hasen, Ziegen, Schweine und Rinder oder dem Eiklar von Hühnern gewonnen wurden. Transgene Tiere bringen finanzielle, wenn auch nicht moralische, Vorteile mit sich. Die Herstellung eines Gramms rekombinanten „CHO-Proteins“ kostet zwischen 45 und 135 Euro, während dieselbe Menge Protein aus transgenen Tieren mit nur fünf bis 18 Euro zu Buche schlägt (Transgenic Res. 25(3): 329-43). Genau wie für Insektenzellen ist die ethische Debatte aber nicht abgeschlossen.

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Ralf Reski von der Universität Freiburg verwendet das Moos Physcomitrella patens für die Expression des Glykoproteins Faktor H, an der CHO-Zellen scheitern. Foto: Sigrid Gombert
Moos, wenn‘s komplex wird

E.-coli- und CHO-Expressionssysteme wurden über fünfzig Jahre optimiert. Ist es möglich, alternative Wirte zu finden, die diese noch übertrumpfen? Ralf Reski, Professor für Pflanzenbiotechnologie an der Universität Freiburg und Gründer der Firma Greenovation Biotech, die mithilfe von Moos-Bioreaktoren Biopharmazeutika herstellt, bejaht: „Alles, was unglykosyliert oder einfach gefaltet ist, geht in E. coli besser. Humane komplexe Glykoproteine sind aber eine andere Hausnummer. Für sie verwenden wir Moose wie Physcomitrella patens. Wie gut sie funktionieren, zeigen die Homogenität und die Chargen-Reproduzierbarkeit unserer Moos-alpha-Galaktosidase, die als Enzymersatztherapie für Morbus Fabry die klinische Phase 1 bestanden hat.“

Reski schwärmt von den Vorteilen der Bryophyten: „CHO-Bioreaktoren stinken. Moos-Bioreaktoren riechen angenehm. Moose binden CO2, ihre Produkte sind vegan. Außerdem brauchen wir für Moose nur einfache und kostengünstige Mineralsalzmedien und eventuell eine CO2-Begasung. Physcos Stabilität gegen Rührkräfte, pH- und Temperaturänderungen erlaubt es außerdem, die Kulturführung an das Wunschprotein anzupassen. Letzteres sezernieren wir mittels einer Signalsequenz, was die Aufreinigung nochmals erleichtert. Ein Kontaminationsproblem mit Humanpathogenen wie Viren und Mykoplasmen haben wir ebenfalls nicht, da Moos für diese kein Wirt ist. Wir kommen komplett ohne Antibiotika oder Hormone in den Medien aus.“

Noch zu geringe Ausbeute

Reski verschweigt aber auch den gravierendsten Nachteil nicht: „Ausbeute! Momentan liegt sie zwischen 0,1 und 1 Gramm pro Liter, je nach Protein. Wir müssen also noch an einigen Stellschrauben drehen, von klassischen Promotor-Geschichten bis hin zur Kulturführung im Bioreaktor. Auf CHOs Bestmarke werden wir in Moos-Systemen kommen!“ Nicht zuletzt, weil eine genetische Optimierung einfacher ist: „Seit 1998 nutzen wir homologe Rekombination, um Gene in Moosen gezielt auszuschalten. Unser Vorteil ist, dass Moose haploid sind. Den Verlust von Eigenschaften sehen wir also direkt in den Transformanten.“

Eine weitere Baustelle existiert jedoch. Die co-translationale Synthese der Grundstruktur aller N-Glykosylierungen am Endoplasmatischen Retikulum ist in Eukaryoten konserviert. Ihre weitere Prozessierung sowie die O-Glykan-Biosynthese im Golgi-Apparat aber unterscheiden sich zwischen Pflanze und Tier. Pflanzliche N-Glykane enthalten häufig β-1,2-verknüpfte Xylose und α-1,3-verknüpfte Fucose, während tierische N-Glykane endständig sialyliert sein können. Reski dazu: „N-Glykosylierungen haben wir bereits von pflanzenspezifischen Zuckern befreit, indem wir die Xylosyl- und Fucosyltransferase-Gene durch Gene-Targeting ausgeschaltet haben. Momentan arbeiten wir daran, die Sialylierung einzuführen.“

Um das Potenzial von Moosen aufzuzeigen, arbeiten Reski und Kollegen außerdem am Glykoprotein Faktor H, das die Aktivierung des Komplementsystems im menschlichen Blut reguliert: „Warum? 155 kDa schwer, viele repetitive Einheiten, vierzig interne Disulfidbrücken und in tierischen Systemen wie CHO-Zellen bisher nicht rekombinant herstellbar – in Moos aber schon. Wenn Physco Faktor H auch noch sialyliert hinbekommt, könnten wir mit Moos-Faktor-H eine Reihe von Komplementstörungen kurieren, die bei Patienten bisher zu Dialyse und Nierentransplantationen führen.“ Die biotechnologische Nützlichkeit von Moosen erörtert Reski in einem Review (Curr. Opin. Biotechnol. 61: 21-7).

Expression in Algen

Auch die stammesgeschichtlichen Vorfahren der Moose, die Grünalgen, finden bei der Proteinexpression immer mehr Beachtung, sagt Jörg Nickelsen, Professor für Molekulare Pflanzenwissenschaften an der LMU München: „Grünalgen wie Chlamydomonas reinhardtii besitzen Chloroplasten, die als ehemalige Prokaryoten Hochdurchsatz-Expressionssysteme sind und sich unglaublich gut transformieren lassen.“ Stabile genetische Transformationen können sowohl in Zellkern und Chloroplasten als auch im mitochondrialen Genom erreicht werden. Nickelsen fährt fort: „E. colis Proteinausbeuten erreicht die ‚grüne Hefe‘ nicht, auch aufgrund ihrer Verdopplungszeiten von acht Stunden unter optimalen Bedingungen. Das Potential von Grünalgen liegt aber dort, wo E. coli versagt – etwa in der Herstellung von Lipiden oder Pigmenten. Denn Grünalgen sind kostengünstig, da sie photoautotroph wachsen und anstelle von Zuckern mit CO2-Begasung oder Acetat auskommen. Außerdem können sie Proteine glykosylieren und einfach über eine N-terminale Exportsequenz sekretieren. Der resultierende kontinuierliche Produktfluss ins Medium macht eine teure Zellernte und -aufschluss unnötig.“

Nickelsen blickt bereits über den Tellerrand herkömmlicher Expressionssysteme hinaus: „Im Gegensatz zu E. coli rufen Grünalgen keine Entzündungsreaktionen in immunkompetenten Mäusen hervor. Vielleicht wären sie also ein effizientes In-situ-Expressionssystem.“ Ihren potenziellen Nutzen demonstriert Nickelsens interdisziplinäres Projekt „Hyperoxie Unter Licht-Konditionierung“ (HULK): „Wir co-kultivieren Grünalgen und Fibroblasten auf einer Kollagenmatrix, um in Zusammenarbeit mit plastischen Chirurgen die Sauerstoffversorgung während der Wundheilung photosynthetisch sicherzustellen und Hypoxie-induzierte Apoptose zu vermeiden. Zusätzlich sekretieren unsere Grünalgen Wachstumsfaktoren, um die Ausbildung des vaskulären Systems anzuregen.“

Vielleicht ist die Zukunft alternativer Expressionssysteme also tatsächlich grün. Es ist anzunehmen, dass Molecular Pharming die konventionelle Zell- und Mikroorganismenkultur in Fermentern weiter herausfordern wird (Hum. Vaccin. Immunother. 13(4): 947-61). Denn in einem ist sich Nickelsen sicher: „In den nächsten Jahrzehnten werden weitere Algensysteme entwickelt.“



Letzte Änderungen: 09.02.2020