Editorial

Noch kein Handlungsbedarf - Welchen moralischen Status haben Organoide?

Mario Rembold, Laborjournal 04/2023


(18.04.2023) Eigentlich gelten Organoide als Königsweg, um Tierleid zu vermeiden und Menschen-ähnlichere Modelle zu erzeugen. Am Horizont tauchen aber bereits neue ethische Fragen im Umgang mit ihnen auf.

Unsterbliche Zelllinien waren über Jahrzehnte das Mittel der Wahl, um in vitro zu erforschen, wie menschliche Zellen auf molekulare Signale, Gifte oder Medikamente reagieren. Dass man damit weit weg ist von einem echten Gewebe oder Organ, leuchtet ein. Erst recht, wenn Zelllinien über Generationen in Laboren weitergereicht werden und Mutationen ansammeln. Hinzu kommt, dass Linien wie HeLa-Zellen von Krebszellen abstammen, die sich schon vor der Kultur aus dem konstruktiven Zusammenwirken im Organismus verabschiedet hatten.

Inzwischen werden immer mehr dreidimensionale Kulturmodelle etabliert. Besonders induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) bieten Forschenden weitreichende Möglichkeiten: Der Startpunkt ist keine uralte Zelllinie, sondern eine frisch gewonnene Körperzelle, die in einen früheren pluripotenten Zustand zurückprogrammiert wird. Der Experimentator bettet die Zellen in spezielle Medien ein, etwa das aus Sarkomzellen stammende, eine extrazelluläre Matrix nachbildende Matrigel, und steuert das weitere Ausdifferenzieren. Mit Morphogenen wie BMP4, Signalen des WNT-Pathways oder Activin gibt er den rückprogrammierten Zellen eine Entwicklungsrichtung vor und erzeugt aus ihnen dreidimensionale Verbände, die an Organe im Miniaturformat erinnern – natürlich mit einigen Einschränkungen, weshalb man etwas bescheidener von Organoiden spricht. Im Idealfall kann man hierdurch Tierversuche einsparen und stattdessen mit dreidimensional arrangierten Kulturmodellen arbeiten, die dem menschlichen Organismus viel näher kommen. Bei Studien an Organoiden muss kein Lebewesen leiden und auch ethisch ist man bislang auf der sicheren Seite – schließlich verwendet man als Ausgangsmaterial lediglich Körperzellen, und die Spender geben aktiv ihre Einwilligung für die Experimente. Doch welches Entwicklungspotenzial steckt in den auf diesem Weg erzeugten Organoiden?

Mikroelektroden nehmen Kontakt zu Hirnorganoiden auf
Über Mikroelektroden können Forschende bereits mit Hirnorganoiden in „Kontakt“ treten. Im Moment ist aber kaum vorstellbar, dass Hirnorganoide einen Zustand erreichen könnten, der mit einem Bewusstsein vergleichbar wäre. Foto: David Baillot

In einem Gespräch mit Laborjournal wies der Embryologe Michele Boiani unlängst darauf hin, dass man mit iPS-Zellen faktisch das Verbot des Klonens von Menschen umgehen könne (Laborjournal 1-2/2023, Seiten 16-19, Link). Schon jetzt lassen sich aus menschlichen Körperzellen Embryoide erzeugen (Nature 591(7851): 627-32). Zugegeben, das erreichte Stadium entspricht lediglich dem einer Blastocyste. Würde man allerdings die gleichen Gebilde nicht aus iPS-Zellen herstellen, sondern aus Stammzellen eines sehr frühen menschlichen Embryos isolieren, würde man sich laut Embryonenschutzgesetz in Deutschland strafbar machen. Hier mag man fragen: Warum hat schon eine einzelne menschliche Zygote einen höheren ethischen Status als der viel weiter ausdifferenzierte Blastocysten-ähnliche Embryoid?

Wenn wir uns als Gesellschaft darauf einigen, dass aktuelle ethische Grundsätze sinnvoll und richtig sind, sollten wir auch mit offenen Augen die Fortschritte rund um Organoide verfolgen. Dabei gilt es, kritisch zu hinterfragen, ob wir nicht qualitativ gleiche Dinge mit zweierlei Maß messen. Die Leopoldina hat ihr Augenmerk in diesem Zusammenhang besonders auf Hirnorganoide gerichtet, die aus menschlichen iPS-Zellen erzeugt werden. In ihrer Stellungnahme zu Hirnorganoiden vom Oktober 2022 diskutieren die Autorinnen und Autoren ethische Aspekte rund um die neuen Technologien und geben einen Ausblick auf künftige Herausforderungen (DOI: 10.26164/leopoldina_03_00514). Unter den Mitwirkenden des Papiers sind zum Beispiel die Stammzellforscherin Magdalena Götz aus München oder der Organoid-Experte Jürgen Knoblich aus Wien.

Die Autoren gehen auf zwei Punkte ein, die auch in der Vergangenheit als ethische Wegweiser maßgeblich waren: Zum einen ist die Frage nach der Leidensfähigkeit zentral. Egal um welche Spezies es sich handelt: Keinem Lebewesen soll aus unvernünftigen Gründen Leid zugefügt werden. Deshalb sind Tierversuche insbesondere an Säugetieren hierzulande streng reguliert und müssen von Ethikkommissionen zuvor geprüft werden.

Unabhängig von der Leidensfähigkeit schreiben wir dem Menschen einen moralischen Status „um seiner selbst Willen“ zu. Um es überspitzt zu formulieren: Man könnte sich vorstellen, dass ein Mensch nach einer schweren Hirnschädigung zwar noch basale Vitalfunktionen aufrechterhält, er aber nicht mehr zur Verarbeitung von Sinnesreizen fähig ist und auch kein Bewusstsein mehr erlangen kann. Obwohl dieser Mensch nicht leidensfähig ist, dürfte man seinen Körper nicht für beliebige Experimente freigeben. Selbst nach dem Tode wirkt die individuelle Menschenwürde weiter, sodass selbst der Leichnam einem besonderen Schutz unterliegt – einfach nur deshalb, weil er menschlich ist.

Die Frage nach der Leidensfähigkeit ist für die aktuell gängigen Organoid-Modelle schnell beantwortet: Zwar lassen sich neurophysiologische Aktivitäten messen, es gibt aber keinerlei Grund zur Annahme, dass auch nur annähernd eine Art von Empfindungsfähigkeit vorhanden sein könnte, geschweige denn ein Bewusstsein. Für die mediale Wissenschaftskommunikation sehen die Autoren daher auch den Begriff der „Minigehirne“ kritisch, weil dieser suggeriert, man könne die verkleinerte Version eines menschlichen Gehirns im Labor wachsen lassen.

Winzige Elektroden messen die Nervenaktivität von Gehirnorganoiden, die in das Gehirn einer Maus transplantiert wurden.
Winzige Elektroden messen die Nervenaktivität von Gehirnorganoiden, die in das Gehirn einer Maus transplantiert wurden. Foto: David Baillot

Keine Blaupause des Originals

Korrekt ist: Eine zum Hirnorganoid heranwachsende 3D-Kultur differenziert sich zu verschiedenen Zelltypen, die man aus dem menschlichen Gehirn kennt. Man findet diverse Arten von Gliazellen und myelinisierte Axone. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation reicht so weit, dass selbst eine Strukturierung des Nervengewebes erfolgt, die an den geschichteten Aufbau der menschlichen Hirnrinde erinnert. Die neuronalen Aggregate durchlaufen also ein Stück weit die frühen Entwicklungsprozesse eines embryonalen menschlichen Gehirns. Dennoch sollte man sich Hirnorganoide nicht als originalgetreue Blaupause der Embryonalentwicklung vorstellen, denn einzelne Zellpopulationen ähneln eher dem Zustand nach der Geburt. Nicht zuletzt deshalb kommen sie in Frage, um auch Vorgänge rund um neurologische Erkrankungen besser erforschen zu können. Aber es findet bislang kein originalgetreuer, chronologischer Ablauf der Embryonalentwicklung statt.

„Zudem verlieren Hirnorganoide im Laufe ihrer Entwicklung nach Aussehen und Aufbau jegliche Ähnlichkeit mit einem Gehirn“, schreiben die Autoren der Leopoldina-Stellungnahme. Die Zellaggregate eines Organoids befinden sich nicht in einer embryonalen Umgebung, in der sich ein gesamter Organismus heranbildet. Vor allem bilden sich in den Organoiden keine Blutgefäße, sodass die Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff ab einem bestimmten Entwicklungsgrad nicht mehr gegeben ist. „Insofern führt der Begriff des Minigehirns zu falschen Vorstellungen und Erwartungen“, bemängeln die Autoren in der Stellungnahme der Leopoldina.

Fundamentaler Unterschied

Die Nervennetze stehen in keinerlei Verbindung mit Sinnessensoren und können auch kein Verhalten generieren – das unterscheidet die meisten Hirnorganoide fundamental von den einfachsten Gehirnen im Tierreich. Hierzu resümiert das Autorenteam: „Um das Vorhandensein eines bewussten Zustandes zu diagnostizieren, bedarf es der Analyse von Verhaltensleistungen und im Idealfall der Berichte des betreffenden Organismus über seinen inneren Zustand. Solange Hirnorganoide in sich geschlossene Systeme darstellen, die nicht über Sinnesorgane und Effektoren mit der Umwelt kommunizieren können, stehen solche verhaltensbasierte Diagnosemethoden nicht zur Verfügung.“

Damit ist aber auch ein Ausblick gegeben, ab wann bei der Arbeit mit Hirnorganoiden eine zumindest prinzipiell mögliche Leidensfähigkeit in Erwägung gezogen werden muss: Dann nämlich, wenn die Neuronen nicht bloß spontan feuern, sondern tatsächlich sinnvolle Informationen verrechnen und dabei in irgendeiner Form mit ihrer Umwelt in Kontakt treten. In der Tat kann man menschlichen Organoiden bereits primitive Computerspiele beibringen (siehe Seite 44), und sicher sind das erst die Anfänge des Machbaren. Wer nicht überzeugt ist von einem Körper-Geist-Dualismus, sondern Bewusstsein und Leidensfähigkeit stattdessen als emergente Phänomene neuronaler Aktivität sieht, der wird auch anerkennen müssen, dass Korrelate von Bewusstsein zumindest im Prinzip durch eine Verschaltung von Neuronen in vitro abgebildet werden können.

Auch hier sollte man aber die Dimensionen nicht aus den Augen verlieren: Im Papier der Leopoldina ist von 86 Milliarden Neuronen im erwachsenen menschlichen Gehirn die Rede. Die Zahl der Synapsen, den eigentlichen „Verrechnungseinheiten“, dürfte nochmal um den Faktor Tausend höher sein, auch wenn man das vermutlich niemals nachzählen kann. Der Toxikologe, Pharmakologe und Organoid-Forscher Thomas Hartung (auf seine Arbeit gehen wir ebenfalls ab Seite 44 ein) erklärt hierzu: „Unsere Organoide kommen gerade mal auf 50.000 bis 100.000 Zellen. Das ist das, was eine Fliege an Nervenzellen hat.“ Mögliche ethische Grenzen kann sich Hartung etwa vorstellen, wenn man Organoide gezielt mit Schmerzrezeptoren koppelt und in ihnen Zustände induziert, die man dann auch als ein neuronales Korrelat für Schmerz oder Leiden interpretieren könnte. „Vielleicht ist das etwas, das man unterlassen sollte“, meint Hartung, gibt aber zugleich auch zu bedenken: „Was ist aber, wenn ich genau damit ein wichtiges Modell etabliere, um chronischen Schmerz zu erforschen? Das alles sind Diskussionen, die wir künftig führen müssen!“

Die Lebensdauer von Hirnorganoiden in vitro ist begrenzt, sie entwickeln sich ab einem bestimmten Punkt nicht Gehirn-ähnlicher sondern sterben ab. Transplantiert man solche Organoide aber in ein Mäusehirn, bilden sich Blutgefäße aus und die Strukturen bleiben ein halbes Jahr oder länger erhalten. Bei diesen chimären Organismen aus Empfängertieren und menschlichen Spenderzellen stellt sich eine weitere ethische Frage: Wie sehr bleibt eine Maus noch eine Maus? Wird ein Tier Menschen-ähnlicher, wenn man ihm menschliche Neuronen-Netzwerke ins Gehirn implantiert? Man spricht dabei von einer „Vermenschlichung“ der Empfängertiere. Hierzu heißt es im Leopoldina-Text: „Die zum Zweck der Hirnorganoid-Vaskularisierung vorgenommenen Verpflanzungsexperimente jedenfalls sind – nach gegenwärtigem Kenntnisstand – gänzlich frei von Vermenschlichungspotenzialen für die Empfängertiere.“

Stärkere Organoid-Integration bei Fötus

Anders sieht es aus, wenn menschliche Hirnorganoide bereits in einen Tierfötus eingesetzt werden. „Dies könnte zu einer deutlich stärkeren Integration der menschlichen Zellen in funktionelle Schaltkreise des Tiergehirns führen“, räumen die Autoren ein. Auch die Frage, ob menschliche Organoide in Gehirnen größerer und langlebiger Säugetiere wie Schweine oder Affen größer werden und sich komplexer ausdifferenzieren, lasse sich derzeit weder verneinen noch bejahen.

Aktuell sieht die Leopoldina keinen Handlungsbedarf des Gesetzgebers, da die Erzeugung von Hirnorganoiden aus menschlichen Zellen hinreichend reguliert sei. Für das Transplantieren in Versuchstiere sei ohnehin das Tierschutzgesetz einschlägig und die Forscher müssen Ethikkommissionen einbinden. Allerdings weisen die Autoren auch auf die Dynamik des Forschungsfeldes hin. „[Es] sollte zumindest hypothetisch darüber nachgedacht werden, welche ethischen Konsequenzen es hätte, wenn Hirnorganoide in ferner Zukunft ein mentales Innenleben hätten.“ Hier weisen die Autoren auf verschiedene Ansichten hin: „Während die einen mit der Entstehung auch nur minimalen Bewusstseins eine rote Linie ziehen, die jede weitere Forschung mit solchen hypothetischen Gebilden verbieten würde, vertreten andere eine sehr vorsichtige, aber weniger restriktive Position: Sie postulieren eine gegebenenfalls bestehende Pflicht zur Schmerzstillung, aber kein grundsätzliches Forschungsverbot.“

Was den ethischen Status „um seiner selbst willen“ betrifft, wird man die Debatte nicht allein der wissenschaftlichen Community überlassen können. Vielleicht könnte man einem aus menschlichen iPS-Zellen erzeugten Neuronen-Netzwerk einen ethischen Status per se zusprechen, so wie auch Embryonen unabhängig von ihrer Leidensfähigkeit geschützt sind. Andererseits lässt sich mithilfe von Organoiden ganz objektiv Leid vermeiden. Sei es durch weniger Tierversuche, den Erkenntnisgewinn bei der Erforschung von Krankheiten, dem Screening nach Wirkstoffen – oder künftig durch Organoide einzelner Patienten, die herangezogen werden, um therapeutische Entscheidungen zu treffen und zum Beispiel das für den einzelnen Patienten wirksamste Medikament zu ermitteln.

Die emotionalen Debatten rund um die Gentechnik sollten uns gelehrt haben, wie wichtig die Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse ist. Gesellschaftliche Regeln und Gesetze entstehen nicht allein durch wissenschaftliche Expertise – der ethische und moralische Kompass einer Gesellschaft hängt von vielen unterschiedlichen Dynamiken ab. Umso wichtiger, dass nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft über Organoide gesprochen wird.