Editorial

Organoide mit Mustergeneratoren - Komplexe neuromuskuläre Organoide

Larissa Tetsch, Laborjournal 04/2023


(18.04.2023) Komplexe Erkrankungen in herkömmlichen Zellkulturen zu erforschen, ist alles andere als ideal. Näher dran am natürlichen Vorbild sind dreidimensionale Organoide. Um sie in Hochdurchsatz-Verfahren einsetzen zu können, muss ihre Herstellung jedoch schneller und einfacher werden.

Die Erforschung der meisten Krankheiten beginnt in der Kulturschale. Doch die Experimente stoßen schnell an ihre Grenzen: Erkrankungen, bei denen verschiedene Gewebetypen oder ganze Organsysteme betroffen sind, lassen sich in zweidimensionalen Zellkulturen aus meist nur einem Zelltyp nur unzureichend oder gar nicht darstellen. Sofern geeignete Tiermodelle überhaupt existieren, bleibt oft nur die Möglichkeit, Tierversuche durchzuführen, die häufig umstritten und zudem aufwändig sowie teuer sind. Eine praktikablere Alternative sind dreidimensionale Kultursysteme, etwa Organoide. Diese Organ-ähnlichen Gebilde aus umprogrammierten Stammzellen lassen sich ähnlich wie Zellkulturen handhaben. Die Vorteile der Miniorgane: Man kann sie aus Patientenzellen herstellen. Zudem bilden sie Krankheiten und sogar deren individuelle Ausprägungen wirklichkeitstreu ab. Auf diese Weise helfen Organoide nicht nur, Krankheitsmechanismen zu verstehen – sie sind auch Hoffnungsträger für die Wirkstoffforschung.

Neuromuskuläre Organoide als Modellsystem für spinale Muskelatrophie in Kulturschale
Neuromuskuläre Organoide dienen unter anderem als Modellsystem für spinale Muskelatrophie. Foto: Pablo Castagnola

Noch immer viel Handarbeit

Für die in der pharmazeutischen Industrie gängigen Hochdurchsatz-Screening-Verfahren sind Organoide jedoch meist nicht geeignet, weil man sie noch immer weitgehend in mühevoller Handarbeit züchten muss. Die Herstellung ist daher teuer, und die Qualität kann je nach Charge und Experimentator deutlich schwanken. Mina Gouti, die am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (kurz: Max-Delbrück-Centrum) in Berlin die Arbeitsgruppe „Stammzell-Modellierung der Entwicklung und Erkrankung“ leitet, möchte dies ändern. Ihr Projekt zur Herstellung von standardisierten Organoiden wird mit einem „Proof-of-Concept“-Grant des European Research Council (ERC) gefördert. Für Gouti ist das nicht die erste Auszeichnung des renommierten ERC. Bereits 2020 hat die Griechin einen Consolidator Grant in Höhe von 2,8 Millionen Euro erhalten, um ihre Organoide weiterzuentwickeln.

Goutis Gruppe erforscht neuromuskuläre Erkrankungen. Dazu gehört beispielsweise die Spinale Muskelatrophie (SMA), an der vor allem Kinder leiden. Die SMA ist eine potenziell tödliche, fortschreitende Muskelschwäche, die zu einem allmählichen Verlust der Bewegungsfähigkeit führt und mit schweren Behinderungen einhergeht. Die Ursache dafür sind Mutationen im Protein Survival of motor neuron (SMN). Sie lassen Motoneurone degenerieren, die vom Rückenmark sowie dem unteren Hirnstamm ausgehen und zu den Muskeln des Rumpfs und der Gliedmaßen ziehen. Ein Rückgang der Motoneurone führt langfristig zu einem Absterben der nicht mehr angesteuerten Muskelfasern. Der fortschreitende Muskelschwund verursacht Lähmungen der Gliedmaßen und des Rumpfs inklusive der Atemmuskulatur, wodurch eine künstliche Beatmung notwendig wird. Kinder, die an der schwersten Form, der infantilen SMA, leiden, erleben selten den zweiten Geburtstag ohne schwere Behinderungen. Behandelt wird die Krankheit heute vor allem durch Antisense-Oligonukleotid-Wirkstoffe, die die Menge an intaktem SMN erhöhen und so die Überlebensfähigkeit der Motoneurone verbessern.

Eine weitere Modellkrankheit, an der Gouti arbeitet, ist die Amyotrophe Lateralsklerose, die überwiegend bei Erwachsenen auftritt. Prominentester Patient war der britische Physiker Stephen Hawking, der 2018 an der Krankheit verstorben ist. Auch die ALS ist eine chronische und fortschreitende Erkrankung des motorischen Nervensystems. Ihre Ursachen sind vor allem bei der weitaus häufigeren, spontan auftretenden Form noch weitgehend unbekannt, die erbliche Variante wird durch verschiedene Mutationen ausgelöst. Die Überlebensdauer der Patienten lässt sich durch Gabe eines Natriumkanal-Blockers ausweiten, der die Wirkung des Neurotransmitters Glutamat abschwächt.

Gestörtes Zusammenspiel

Neue Medikamente können die Lebenszeit der Patienten mit SMA und ALS verlängern, eine Heilung ist aber noch nicht möglich. Außerdem sind die verfügbaren Therapien sehr teuer. Gouti, die in London Molekularbiologie studierte und 2016 als Gruppenleiterin ans Berliner Max-Delbrück-Centrum kam, hat zur Erforschung neuromuskulärer Krankheiten spezielle Organoide entwickelt. Diese bilden das Zusammenspiel zwischen Muskeln und Nervensystem ab, das bei derartigen Erkrankungen typischerweise gestört ist. „Wir suchen im Moment nach Wirkstoffen, die die Krankheit aufhalten, bevor überhaupt Motoneurone absterben“, so die Forscherin. „Unsere neuromuskulären Organoide schenken uns die Möglichkeit, in einem menschlichen Modellsystem den Ablauf der Krankheitsprogression mit hoher und zeitlicher Auflösung zu erforschen und nach einem geeigneten Therapieziel zu suchen.“

Dazu enthalten die neuromuskulären Organoide alle wesentlichen Zelltypen, aus denen die motorische Endplatte besteht – die Kontaktstelle zwischen Nervenzelle und Muskelzelle. Schon zuvor versuchten Forscher und Forscherinnen, die motorische Endplatte „nachzubauen“, doch mussten sie dafür beide Zelltypen getrennt kultivieren und anschließend zusammenführen. Das funktionierte aber nur eingeschränkt, da vermutlich die Schwann-Zellen fehlten. Diese spezielle Form der Gliazellen sind Stützzellen, die die Axone der Nervenzellen umhüllen und dadurch die Myelinscheide bilden, die den Nervenzellfortsatz elektrisch isoliert.

Im Gegensatz zu den früheren Ansätzen entstehen Goutis Organoide aus neuromesodermalen Vorläuferzellen, die von induzierten pluripotenten Stammzellen abstammen. In Kultur können sie sich zu Nerven- sowie Muskelzellen und auch zu Schwann-Zellen differenzieren. „Neuromesodermale Vorläuferzellen sind die Bausteine des neuromuskulären Systems im Embryo“, erklärt Gouti. „Wir rekapitulieren die Vorgänge der Embryonalentwicklung in der Kulturschale, um so die Vorläuferzellen herzustellen.“ Werden diese in nicht-adhärenten 96-Well-Mikrotiterplatten bei 37 Grad Celsius kultiviert, differenzieren die Vorläuferzellen und organisieren sich von selbst zu komplexen dreidimensionalen Strukturen. Unter dem Durchlichtmikroskop sieht man, dass im Inneren der rundlichen Gebilde die dunkleren Muskelzellen liegen, umgeben von einem helleren Nervengewebe.

Die Berliner Forscherin Mina Gouti begutachtet Kulturschalen mit Organoiden unter der Sicherheitswerkbank.
Mina Gouti und ihr Team opfern sehr viel kostbare Zeit für die Aufzucht neuromuskulärer Organoide. In Zukunft soll eine Roboter-Plattform die Routinearbeiten bei der Kultur der „Miniorgane“ übernehmen. Foto: Pablo Castagnola

Kontrahierende Organoide

Das Faszinierende an den NMOs, wie Gouti die neuromuskulären Organoide abkürzt: Sie funktionieren in der Kulturschale tatsächlich wie ihr natürliches Vorbild. Nach etwa vierzig Tagen in Kultur beginnen die Muskelzellen, sich rhythmisch zu kontrahieren, und halten die Kontraktionen über Monate autonom aufrecht. Wie an der motorischen Endplatte lösen die Nervenzellen dieses Verhalten aus, indem sie den Neurotransmitter Acetylcholin ausschütten. Blockierte Goutis Team die Acetylcholin-Rezeptoren auf den Muskelzellen, kontrahierten diese nicht mehr. In den Organoiden bildeten sich komplexe neuronale Schaltkreise, die selbstständig Aktionspotenziale aussenden können – und damit nicht von Signalen aus übergeordneten Hirnarealen abhängen.

Derartige Zentrale Mustergeneratoren (ZMG) spielen bei allen rhythmischen Bewegungen eine Rolle, etwa beim Laufen, Schwimmen, Atmen oder Kauen. Die Entstehung von Zentralen Mustergeneratoren in künstlicher Umgebung hat vor Goutis Experimenten noch niemand am humanen System gezeigt. Ihr Auftauchen in den neuromuskulären Organoiden war deshalb auch für die Entwicklungsbiologin und ihr Team überraschend: „Dass in unseren Organoiden ZMG-artige Netzwerke entstanden sind, übertraf unsere Erwartungen und eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten, um die Rolle der Zentralen Mustergeneratoren bei neuromuskulären Erkrankungen zu erforschen.“

Die ersten NMOs stellten die Berliner 2020 vor (Cell Stem Cell 26: 172-86). Sie repräsentieren mit ihren Motoneuronen den unteren Abschnitt des Rückenmarks, der für die Ansteuerung der Beinmuskulatur zuständig ist. Der damals zugesprochene Consolidator Grant des ERC soll es ermöglichen, die Organoide so weiterzuentwickeln, dass sie auch die oberen und mittleren Rückenmark-Segmente nachbilden können, die jeweils unterschiedliche Muskelgruppen ansprechen. Denn nur mit Positions-spezifischen Organoiden („GPSorganoids“) lässt sich der Verlauf von Krankheiten wie SMA und ALS im Detail verstehen. Bei diesen sind typischerweise zuerst die Motoneurone betroffen, die Arme und Beine ansteuern, während die mittleren Rückenmark-Segmente erst sehr spät beeinträchtigt sind. Ein weiteres Ziel ist es, die Organoide dazu zu bringen, Blutgefäße auszubilden. „Wir gehen davon aus, dass dies die Reifung des Gewebes verbessern wird“, so Gouti.

Input von Gehirnzellen

Die Forscherin mit der Leidenschaft für Stammzellen, wie sie selbst sagt, möchte aber noch einen Schritt weitergehen und ein Manko der NMOs beseitigen: Sie sind zwar bereits sehr langlebig – nach einigen Monaten im Labor hören sie jedoch auf zu kontrahieren. Das könnte am fehlenden Input des Gehirns liegen, denn auch Mustergeneratoren müssen ab und zu mit dem Gehirn koordiniert werden. Gouti möchte deshalb die NMOs um weitere Zelltypen ergänzen. Von der Kombination mit einem Hirn-ähnlichen Organoid erhofft sie sich, das gesamte neuromuskuläre Netzwerk vom Signal aus dem Gehirn über das Rückenmark bis zum Muskelgewebe abdecken zu können. Am Ende soll das den Patienten zugutekommen. „Mithilfe unserer neuromuskulären Organoide wollen wir verstehen, warum beispielsweise bei der SMA die Moto­neurone der Kinder absterben und wie wir das verhindern können. Das Organoid-Modell soll dabei als Brücke zwischen vorklinischen und klinischen Studien dienen. Eine realistischere Annäherung an menschliches Gewebe gibt es nicht“, fasst Gouti zusammen.

Der ERC-„Proof-of-Concept“-Grant mit einer Fördersumme von 150.000 Euro soll die Entwicklung von Methoden unterstützen, mit denen die NMOs in großer Menge mit gleichbleibender Qualität produziert werden können. Das ist nicht nur wichtig, um Organoide als präklinisches Modell zu etablieren und damit Tierversuche zu reduzieren, es spart den Forschern vor allem auch Zeit für die eigentlichen Versuche mit den Organoiden. „Im Moment ist der größte Teil meines Labors damit beschäftigt, die komplexen Organoide von Hand zu erzeugen“, sagt Gouti. Das sei arbeitsintensiv und teuer. Außerdem würden die Ergebnisse je nach Experimentator variieren. Die Entwicklungsbiologin möchte deshalb den gesamten Herstellungsprozess der Organoide automatisieren. Nur wenn gleichzeitig viele Organoide gleichen Alters und mit gleichen Eigenschaften zur Verfügung stehen, können sie in Hochdurchsatz-Verfahren eingesetzt werden, etwa um Wirkstoff-Screenings durchzuführen. „Nur so können unsere modernen 3D-Zellkultursysteme ihr volles Potenzial ausschöpfen und auch für die Industrie interessant werden“, ist Gouti überzeugt.

Organoide vom Fließband

Im Rahmen einer Kollaboration mit Sebastian Diecke, dem Leiter der Abteilung Pluripotente Stammzellen am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max-Delbrück-Centrums, nutzt Goutis Gruppe für ihre Organoid-Versuche eine entsprechende Technologie-Plattform. Ein Robotorarm pipettiert die Versuchsansätze in standardisierte 96-Well-Mikrotiterplatten, ein Hochdurchsatz-Bildgebungssystem mit einem Konfokalmikroskop, das mit den Mitteln des Consolidator Grants angeschafft wurde, dokumentiert das Wachstum der Organoide und wertet es mithilfe einer künstlichen Intelligenz hinsichtlich Größe und Morphologie aus. Noch zu lösen ist das Größenproblem der Miniorgane: Nach zwei bis drei Monaten sind sie mit fünf bis sechs Millimetern zu groß für die Wells herkömmlicher 96-Well-Mikrotiterplatten. „Damit wir Hochdurchsatz-Verfahren nutzen können, arbeiten wir gerade an der Miniaturisierung der Organoide“, sagt Gouti.

Schon heute können die Berliner NMOs aus Zellen von Patienten mit SMA und ALS produzieren, um die Auswirkung einzelner Mutationen, aber auch die Wirkung von Medikamenten zu untersuchen. Standardisierte Herstellungsverfahren für die NMOs sind damit auch ein wichtiger Schritt in Richtung personalisierter Therapien.