Editorial

Intelligente Modellorgane - Wachsender Organoid-Zoo

Mario Rembold, Laborjournal 04/2023


(18.04.2023) Ob Magenepithel mit Helicobacter oder Hirnorganoide mit Autismus-Allelen – für viele Organe existieren inzwischen Organoide, die Wissenschaftlern als naturgetreue Modellsysteme für die Erforschung der echten Organe dienen. Ganz Wagemutige denken bereits darüber nach, Gehirnorganoide als biologische Computer einzusetzen.

Wenn in der Presse von „Minigehirnen“ die Rede ist, hat der Leser wohl eher einen Frankenstein im dunklen Keller vor Augen als einen seriösen Wissenschaftler. Auch wenn die Community etwas bescheidener von cerebralen Organoiden oder Hirnorganoiden spricht, scheint manch eine Pressemitteilung der jüngeren Vergangenheit doch eher auf Reichweite denn auf Wissenschaftskommunikation ausgelegt gewesen zu sein. In vielen Fällen geht es beim Design von Organoiden um ein Proof of Concept. Inzwischen bieten sie zusammen mit anderen dreidimensionalen Kulturmodellen aber einen echten Mehrwert, zum Beispiel in toxikologischen Studien. Daher liegt der Fokus der Organoid-Forschung mehr und mehr auf reproduzierbaren Standards und gleichbleibender Qualität (siehe hierzu auch den Beitrag ab Seite 40).

Organoide können wichtige Aspekte von Geweben und Organen widerspiegeln, doch extrem komplexe Organoide sind nicht automatisch besser. „Pluripotente Stammzellen sind die Alleskönner“, erklärt Sina Bartfeld, Leiterin der medizinischen Biotechnologie an der TU Berlin. Hierzu gehören etwa embryonale Stammzellen (ESC), die aber durch das deutsche Embryonenschutzgesetz besonders geschützt sind. Unter bestimmten Bedingungen darf man menschliche ESC für Forschungszwecke nutzen, die vor einem Stichtag im Jahr 2007 gewonnen wurden.

Forscherin verbindet Vorderhirn-Organoide mit Mikroelektroden aus Graphen.
US-Forscher und -Forscherinnen verbanden Corticale-Vorderhirn-Organoide mit Mikroelektroden aus Graphen, um die Reaktion der Neuronen auf Lichtreize zu messen. „Intelligente“ Organoide könnten in ferner Zukunft auch als biologische Computer in der Diagnostik fungieren. Foto: David Baillot

Als ethisch unbedenklich gelten hingegen induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen oder iPSC), die aus Körperzellen menschlicher Spender stammen. Durch geeignete extrazelluläre Medien und Wachstumsfaktoren, die die notwendigen molekularen Signalgeber enthalten, können sie sich differenzieren. Ihr Schicksal lässt sich gezielt in eine bestimmte Richtung lenken – zum Beispiel zur Bildung von dreidimensional arrangierten Nervenzellen, die ein Stück weit die Schichtung der menschlichen Hirnrinde widerspiegeln. „Man muss dafür ihre embryonale Entwicklungsgeschichte nachstellen“, erläutert Bartfeld.

Zu viele Optionen

Auf den ersten Blick scheinen iPS-Zellen das Mittel der Wahl zu sein, da man aus ihnen prinzipiell jeden Zelltyp generieren kann. Je nach Fragestellung ist es aber geschickter, Organoide aus adulten Stammzellen herzustellen – gerade weil diesen nicht mehr alle möglichen Entwicklungswege offenstehen. „Wenn die Stammzellen zunächst die komplette Entwicklungsgeschichte durchlaufen müssen, ist schon intuitiv verständlich, dass sich nicht jede Stammzelle identisch entwickeln wird. Hirnorganoide können innerhalb eines Ansatzes also relativ heterogen sein“, erklärt Bartfeld. Das ist bei adulten Stammzellen anders, fährt sie fort: „Die sind bereits vorprogrammiert, wenn sie aus dem Gewebe isoliert werden. Alles, was man in vitro machen muss, ist, ihre natürliche Nische zu simulieren und ihnen zu suggerieren, sie seien noch im Organ.“

Auch beim Faktor Zeit haben Modelle mit adulten Stammzellen Vorzüge, vor allem bei menschlichen Organoiden. Weil man mit iPSC die Wege der Embryonalentwicklung in der Petrischale praktisch erneut beschreiten muss, kann es Wochen oder Monate dauern, bis daraus ein Organoid entstanden ist. Anschließend lässt es sich nicht unbegrenzt vermehren – man muss früher oder später wieder mit einer iPS-Zelle beginnen.

„Bei adulten Stammzellen ist das fundamental anders“, erläutert Bartfeld. „Wenn wir eine Biopsie erhalten, wachsen daraus innerhalb von ein bis zwei Wochen die ersten Organoide. Und die kann man dann wieder splitten und erneut aussäen, so wie wir es von klassischen Krebszellkulturen gewohnt sind. Dann bekommt man innerhalb von zwei Wochen wieder neue Organoide.“ Selbstorganisation und Proliferation kultivierter adulter Stammzellen entsprechen folglich eher der Regeneration verletzter Gewebe und verlaufen viel schneller als mit iPSC.

Allerdings hat man oft keine andere Wahl, etwa bei Organoiden, die die Niere oder das Gehirn modellhaft repräsentieren und sich nicht aus adulten Stammzellen erzeugen lassen. Hier ist eine entwicklungsbiologische Ausdifferenzierung unumgänglich. „Bis jetzt können wir aus adulten Stammzellen nur Epithelien wachsen lassen“, fasst Bartfeld zusammen und nennt als Ausnahme lediglich die Blutstammzellen aus adulten Organismen, mit denen man komplexere Modelle herstellen kann.

FStammzell-Forscherin Sina Bartfeld von der Technischen Universität Berlin
Sina Bartfeld ist nicht darauf aus, nur „tolle Organoide“ herzustellen – ihre Organoide sollen funktionieren und die Infektion der Magenschleimhaut mit Helicobacter naturnah abbilden. Foto: Christian Kielmann

Bartfelds Team selbst erforscht Infektionen, Entzündungsprozesse und Tumorbildung im Magen-Darm-Trakt anhand dreidimensionaler Kulturmodelle. Die Gruppe verwendet für ihre Experimente adulte Stammzellen, entwicklungsbiologische Vorgänge stehen bei den Berlinern nicht im Vordergrund. Stattdessen wollen sie verstehen, wie das Gewebe sein natürliches Gleichgewicht aufrechterhält und sich bei Krankheiten verändert – zum Beispiel, wenn ein Krankheitserreger die Magenschleimhaut befällt.

Adulte Stammzellen kommen in diesem Fall der Natur näher. Sie stammen von Biopsien menschlicher Spender, denen beispielsweise ein Tumor herausoperiert wurde. „Dabei wird ja immer auch in einer Pufferzone um den Tumor gesundes Gewebe entfernt, das wir nutzen können“, ergänzt Bartfeld. In geeignetem Medium arrangieren sich die Zellen dreidimensional, bilden Röhren oder Hohlräume, die wiederum Einstülpungen hervorbringen. Die Strukturen entsprechen zum Beispiel Drüsen in der Magenschleimhaut. Auch die Polarität der Epithelzellen mit einer apikalen Seite, die ins Lumen zeigt, erinnert an das Organ in vivo (Exp. Mol. Med. 53(10): 1471-82).

Wo greift Helicobacter an?

Bartfeld interessiert sich unter anderem für Helicobacter pylori, der nicht nur Entzündungen der Magenschleimhäute hervorruft, sondern auch bösartige Tumore induzieren kann. „Man weiß, dass Helicobacter an Magenzellen andocken kann und in der Lage ist, ein Protein in diese Zellen zu injizieren“, berichtet Bartfeld und meint damit das Genprodukt CagA des Cytotoxin-associated gene A (cagA). „CagA ist auch für die Krebsentstehung mitverantwortlich, aber man wusste nie genau, ob Helicobacter spezielle Zellen als Ziel bevorzugt“. Sind es die ausdifferenzierten Epithelzellen oder die Stammzellen, die Helicobacter angreift? „Das konnte man schlichtweg nicht beantworten, bevor es passende Organoidmodelle gab“, blickt Bartfeld zurück, „und dafür reichen die einfachen epithelialen Organoidmodelle aus – wir brauchen in diesem Fall weder Bindegewebe noch Blutgefäße“.

Dieser Frage sind Bartfeld und Kollegen unlängst nachgegangen (Nat. Commun. 13(1): 5878). Ihre Schlussfolgerung: „Helicobacter hat eine besondere Vorliebe für die Oberflächenzellen und nicht für die Stammzellen. Lässt man den Bakterien die Wahl, bevorzugen sie die sogenannten Grübchenzellen oder Foveolarzellen, die den Mucus im Magen produzieren.“

Bartfeld betont: „Wir versuchen, so nah wie nötig am Leben dran zu sein. Wir wissen, dass der Mensch nun mal kein zweidimensionaler Zellrasen ist.“ Auf der anderen Seite stellt die Forscherin klar, dass es ihr nicht darum gehe, einfach nur „tolle Modelle“ zu bauen. „Mir muss man erstmal zeigen, warum ein 3D-Modell besser ist für eine wissenschaftliche Frage. Für unsere Forschung zu Infektionen ist vor allem wichtig, dass wir die richtigen Zielzellen für die Pathogene haben.“

Äußerst anspruchsvoll sind Organoide, die auch das Immunsystem mit einbeziehen. „So etwas wird durchaus schon gemacht, auch wenn man sich da eher noch auf der Ebene des Modellbauens befindet“, weiß Bartfeld. Als Beispiel nennt sie eine Arbeit aus dem Jahr 2019 von Norman Sachs et al., an der auch der Organoid-Pionier Hans Clevers als Senior-Autor mitwirkte (EMBO J. 38(4): e100300).

Clevers leitete bis 2022 das Hubrecht Institute in Utrecht und ist inzwischen Chef von Roches pharma Research and Early Development (pRED) in Basel. Seine Gruppe erzeugte Atemwegsorganoide aus Material, das sie von Bronchialbiopsien oder Spülungen gewonnen hatte. Die Organoide enthielten verschiedene Zelltypen wie schleimproduzierende Zellen sowie Cilienzellen und waren mit Neutrophilen co-kultiviert worden. Das Forscherteam beobachtete Unterschiede zwischen Organoiden von gesunden Spendern und Menschen, die an Mukoviszidose oder Lungenkrebs litten. Nach einer Infektion der Organoide mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) wurden die co-kultivierten Neutrophile rekrutiert – das Organoidmodell bildete die untersuchten Lungenleiden also sehr realitätsnah ab.

Versucht man einzelne Organoide komplexer zu gestalten, werden sie immer unübersichtlicher. Viele Modelle scheitern daran, dass sich noch keine Blutversorgung an Organoiden realisieren lässt. Ein Ausweg ist das Transplantieren menschlicher Organoide in die Maus. Die Gewebe werden dabei vaskularisiert und können sich sehr viel weiter entwickeln als in einer In-vitro-Kultur, wenn sie aus iPS-Zellen generiert wurden.

Einen vielversprechenden Kompromiss verheißen sogenannte Organ-on-a-chip-Ansätze: Das einzelne, recht einfach gebaute Organoid befindet sich auf dem Chip in einer künstlichen Umgebung, die sich durch entsprechende Mikrofluidik-Techniken mit anderen Organoiden verbinden lässt.

Pharmakologe Thomas Hartung kann sich intelligente Organoide als Diagnostik-Modelle vorstellen.
Thomas Hartung sieht in intelligenten Organoiden keine Konkurrenz zu Computern. Er könnte sie sich aber als Diagnostik-Modelle vorstellen. Foto: Johns Hopkins
Kombinierte Organoide

„Man kann also verschiedene Organmodelle verbinden. Das ist besonders spannend, wenn man noch einen simulierten Blutfluss oder Strömungen implementiert“, erläutert Bartfeld. Allein die mechanischen Kräfte einer Strömung können sich auf die Organisation eines Gewebes auswirken. „Es wird mehr Schleim produziert, und die Zell-Zell-Kontakte bilden sich anders aus, um dem Strömungsstress widerstehen zu können. Das sind natürliche Prozesse. Mit Chip-Technologien können wir unsere Modelle der In-vivo-Situation annähern.“

In dem modularen System lassen sich unterschiedliche Organe kombinieren. Bartfeld nennt als Beispiel Arbeiten an ihrem Institut zu Darmkrebs-Organoiden, die mit Leber-Organoiden kombiniert wurden. „Wir geben einen Wirkstoff zu, der erst in der Leber metabolisiert werden muss, um therapeutisch wirksam zu sein. Und wie erwartet zeigt sich in unserem Modell: Erst mit einem Leberorganoid auf dem Chip können wir eine Wirkung auf die Magenkrebsorganoide sehen.“ Im Projekt „Der Simulierte Mensch (Si-M)“ arbeitet die auf Grundlagenforschung fokussierte TU mit der klinisch ausgerichteten Charité an solchen Organ-on-a-Chip-Modellen, um den Menschen sozusagen in vitro in vereinfachter Form nachzubauen (si-m.org).

Wie werden Chemikalien verstoffwechselt? Was verändert ein Medikament in den Zellen menschlicher Organe? Welche Umweltgifte könnten für menschliche Organe schädlich sein? Diesen Fragen geht der Toxikologe Thomas Hartung nach. Hauptberuflich forscht er an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, hat aber auch eine Professur für Pharmakologie & Toxikologie an der Uni Konstanz inne. Sein besonderes Augenmerk gilt dem Gehirn, für seine Fragestellungen verwendet er Hirnorganoide aus menschlichen iPSC.

„Hirnorganoide gibt es seit 1979“, erläutert Hartung. „Wissenschaftler aus Lausanne, die dafür primäre Rattenzellen verwendet hatten, haben das damals in Nature publiziert.“ Gemeint ist eine Arbeit von Paul Honegger, Dominique Lenoir und Pierric Favrod (Nature 282(5736): 305-8).

„Die drei gingen natürlich nicht von Stammzellen aus, denn dieses Wissen stand damals nicht zur Verfügung“, stellt Hartung klar. Stattdessen hatte das Trio Gehirne von Rattenembryonen dissoziiert und dann beobachtet, wie sich die Zellen in vitro neu aggregieren. Die extrazellulären Entwicklungssignale waren damals nicht bekannt, man konnte also nur auf bereits vorhandene Zelltypen zurückgreifen. Dennoch weist Hartung auf Parallelen zu heutigen Anwendungen hin: „Das Prinzip gleicht der heutigen sogenannten Shaker-Methode, mit der zunächst uniforme Zellkugeln entstehen. Und auch schon damals hat man in den Organoiden neben Nervenzellen bereits Gliazellen gefunden.“

Für menschliche Organoide will man natürlich keine Gehirne in Suspension bringen – erst die iPSC-Technologien ermöglichten die Entwicklung moderner Organoide. Sobald sich die Neuronen vernetzen, zeigen sie auch eine spontane elektrophysiologische Aktivität. „Es entstehen Oligodendrocyten und myelinisierte Axone, und man findet funktionelle Astrocyten“, schwärmt Hartung. „Da entstehen also wirklich funktionelle Einheiten, deshalb sprechen wir von einem mikrophysiologischen System.“

Biologisch relevant

Hartung legt Wert darauf, dass sich aus den Modellen auch relevante Schlussfolgerungen für den Menschen ableiten lassen. Hierzu erforscht sein Team, ob sich neurologische Auffälligkeiten oder Erkrankungen auch in den Organoiden widerspiegeln – etwa wenn die iPS-Zellen von einem betroffenen Spender stammen oder wenn man die Kulturen chemischen Stressoren aussetzt. Hartung nennt Autismus als ein Beispiel. „In den USA hatten wir in den Siebzigerjahren ein autistisches Kind unter 10.000, jetzt sind wir bei einem Verhältnis von 1:44. Diesen enormen Anstieg kann man nicht genetisch erklären.“ Die verbesserte Autismus-Diagnostik könne nur für maximal zwanzig Prozent dieses Anstiegs verantwortlich sein. Derzeit geht man beim Autismus als Phänotyp von einem Zusammenspiel genetischer Prädispositionen und Umweltfaktoren aus. „Das macht die Ursachensuche so schwer, denn es gibt nicht die eine Chemikalie oder das eine Gen, weil ja beide gemeinsam wirken müssen.“

Für eine Studie hatten Hartung und seine Mitstreiter sogenannte humane BrainSpheres gezüchtet. Die Kontroll-Organoide verglichen sie mit Organoiden, die ein ausgeknocktes CHD8-Gen (chromodomain helicase DNA binding protein 8) aufwiesen. CHD8 gilt als Hochrisiko-Gen für Autismusspektrum-Erkrankungen. Außerdem setzte das Team einige Organoide dem Pestizid Chlorpyrifos aus. Die Wissenschaftler berichten von einem schädlichen synergistischen Effekt des CHD8-Knockouts gemeinsam mit der Chemikalie auf die Organoide (Environ. Health Perspect. 129(7): 77001).

Um die Effekte zu quantifizieren, suchte Hartungs Gruppe in der Literatur nach Metaboliten, die im Gehirn autistischer Patienten verändert sind. „Dazu gehört das Gleichgewicht zwischen GABA und Glutamat“, nennt Hartung eine von vielen Veränderungen. Mittels massenspektrometrischer Analytik nahmen sie dann die Organoide bezüglich dieser Metaboliten unter die Lupe. „Was sich im Modell verändert, sind genau dieselben Marker, die wir auch aus den Patienten kennen“, freut sich Hartung. „Wir haben also eine Art mechanistische Validierung unseres Modells“.

Doch sind Hirnorganoide auch in der Lage, Information zu verarbeiten? Können sie sogar trainiert werden und lernen? Diese Frage stellt ein Autorenteam um Hartung in einer kürzlich erschienenen Publikation (Front. Sci. doi.org/j3xf). Die Forscher befassen sich darin mit dem sogenannten „Biocomputing“, das in einigen Aspekten effizienter funktionieren könnte als Machine Learning. Während Informatiker versuchen, die Architektur von Computerprogrammen der Arbeitsweise des Gehirns anzunähern, geht es den Autoren des Papers darum, Organoide Computer-ähnlicher zu gestalten – in Analogie zum Begriff künstlicher Intelligenz (KI) sprechen sie von Organoid Intelligence oder kurz OI.

Beeindruckende Daten

In der Einleitung des Artikels wird man zunächst mit eindrucksvollen Zahlen konfrontiert: Ein menschliches Gehirn verbraucht zwanzig Watt und läuft mit einer Geschwindigkeit von circa einem Exaflop. Ein ähnlich schneller Supercomputer verbraucht ungefähr zwanzig Millionen Watt – vom räumlichen Platzbedarf ganz zu schweigen. Einige Werte rund um das menschliche Gehirn, etwa die Speicherkapazität von 2,5 Petabyte, kann man lediglich schätzen. Aber die Größenordnungen bleiben überwältigend: Wir tragen einen 1,4 Kilogramm schweren Hochleistungsrechner mit uns herum, der verglichen mit Silicium-basierten Rechnern nahezu keine Energie verbraucht.

„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir unsere Zellen enorm langweilen und bin gespannt, was sich ändert, wenn wir ihnen eine Aufgabe geben“, meint Hartung zu den Hirnorganoiden. Dazu bräuchte man für die Neuronenkultur Schnittstellen zur Eingabe und Ausgabe ähnlich wie bei Computern. „Wir verwenden momentan vor allem High Density Microelectrode Arrays, auf denen die Elektroden einen Abstand von einem Mikrometer voneinander haben“, erklärt Hartung weiter. Auf diesen Arrays kann man die Neuronen kultivieren. „Dabei bekommt jeder Zellkörper Kontakt zu mehreren Elektroden.“

Neuronen lernen Pong

Durch die Elektroden lassen sich Neuronen stimulieren, mit dem Array kann man aber auch neuronale Aktivität auslesen. Brett Kagan et al. brachten kultivierten Neuronen auf diese Weise das Computerspiel Pong bei, bei dem der Spieler einen Balken entlang einer Achse steuert, um einen Ball zu treffen. Ähnlich wie beim maschinellen Lernen kennen die Neuronen die Spielregeln zunächst nicht. Die Autoren gehen aber davon aus, dass ein Gehirn darauf ausgelegt ist, regelmäßige Muster zu erkennen und diese zu verstärken. Verrauschter Input hingegen steht für eine geringe Übereinstimmung zwischen neuronaler Aktivität und der Außenwelt. Um sie zu trainieren, erhalten die Neuronen via Elektronen-Array sozusagen als „Belohnung“ regelmäßige Signale, wenn der Ball getroffen wird – geht der Ball jedoch verloren, ist das Feedback verrauscht (Neuron 110(23): 3952-69).

Ob sich auf lange Sicht auch technisch relevante Anwendungen der OI abzeichnen, mag Hartung noch nicht prognostizieren. Aber: „Es geht sicherlich nicht darum, Nullen und Einsen besser zu verarbeiten.“ Es sei nicht sinnvoll, die Neuronen mit einem Taschenrechner konkurrieren zu lassen. Vielleicht könnten biologische Computer komplexe Muster aber effektiver erkennen als In-silico-Systeme, die dafür aufwändig trainiert werden müssen. Ein Mensch, der gelernt hat, einen Esel von einem Pferd zu unterscheiden, kann anhand eines einzigen Beispielbildes lernen, wie ein Einhorn aussieht. Das schaffen technische Systeme derzeit nicht.

Hartung sieht in der OI aber auch die Chance für neue Diagnostik-Modelle oder für die Entwicklung neuer Therapien. Durch das Trainieren von Hirnorganoiden könnte man etwa einen neuronalen Readout erzeugen. Lernt zum Beispiel ein Alzheimerorganoid ein Computerspiel schlechter? Lässt sich anhand der Performance einer Zellkultur testen, wie gut oder schlecht Medikamente bei einem bestimmten Patienten gegen psychiatrische Erkrankungen wirken?

„Das wollen wir herausfinden“, blickt Hartung in die Zukunft.