Editorial

Das Gaspedal der Evolution - Die vielen Gesichter Nicht-codierendeR RNA

Mario Rembold, Laborjournal 11/2023


(10.11.2023) Menschen unterscheiden sich nur unwesentlich durch ihre Proteine von anderen Tieren. Weit gravierender sind die Abweichungen bei den nicht-codierenden RNAs. Inzwischen ist unstrittig, dass ncRNAs essenziell sind für Haushalt und Regulation der Zelle.

Die Bezeichnung nicht-codierende RNA oder non-coding RNA (ncRNA) kann einen durchaus auf eine falsche Fährte locken. Mit nicht-codierend könnte man auf den ersten Blick assoziieren, dass diese Nukleinsäuren auch keine sinnvollen Aufgaben übernehmen. Schließlich war die Genetik jahrelang vom Dogma geprägt, dass ein funktioneller DNA-Abschnitt die Information für ein Protein enthält. Nach dieser Lesart besteht die Aufgabe einer RNA nur darin, diese Botschaft zuverlässig an die Translationsmaschinerie weiterzugeben. Und wo kein Protein codiert ist, erfüllt die RNA nach diesem Paradigma auch keine Funktion. Vokabeln wie „Junk“ haben die Reputation nicht-proteincodierender DNA-Regionen auch nicht gerade gestärkt. Ganz nach der Devise: Falls etwas von dem „Unrat“ in RNA transkribiert wird, kann man einfach darüber hinwegsehen – obwohl dieser „Müll“ beim Menschen den allergrößten Anteil im Genom ausmacht.

Symbolbild RNA
Illustr.: MIPT

Dabei kannte man auch zu dieser Zeit schon längst ribosomale RNA (rRNA) und transfer-RNA (tRNA), die ebenfalls keine Proteine codieren und dennoch für die Funktion der Zelle essenziell sind. Bereits in den Neunzigerjahren und vor allem nach der Jahrtausendwende waren Molekularbiologinnen und Sequenzier-Experten auf immer neue ncRNAs gestoßen. Irgendwann ließ sich nicht mehr leugnen, dass die Zelle diese Transkripte nicht aus reiner Freude am Energieverschwenden erzeugt. Inzwischen wissen wir: Einige ncRNAs übernehmen Housekeeping-Funktionen und sind fast überall in hoher Kopienzahl anzutreffen. Andere regulieren Prozesse in bestimmten Geweben, Zelltypen oder bei einzelnen Differenzierungsschritten. Einen Überblick hierzu erhält man zum Beispiel mit einem im Journal of Integrative Bioinformatics erschienenen Review-Artikel aus dem Jahr 2019 (J. Integr. Bioinform. 16(3): 20190027).

ncRNAs gehören zum täglich Brot des Molekularbiologen Gerhard Schratt, Leiter des Labors für Systemneurowissenschaft an der ETH Zürich. Seine Arbeitsgruppe möchte verstehen, wie die Hirnentwicklung und die Bildung von Synapsen gesteuert wird. Dabei stößt sie regelmäßig auf nicht-codierende Transkripte. Ein besonderer Fokus des Teams liegt auf microRNAs beziehungsweise miRNAs. Schratt sieht sich daher vor allem als Molekularen Neurobiologen.

Im Gegensatz zu mRNAs sind miRNAs wenig konserviert. Obwohl es da, wie Schratt betont, auch einige Ausnahmen gibt: „Die microRNA let-7 ist zum Beispiel bis hin zum Fadenwurm konserviert.“ Let-7 findet man auch im Menschen sowie in Drosophila. Die miRNA steuert in diesen das Timing der Teilung und Differenzierung von Stammzellen. miRNAs binden andere RNA-Moleküle über komplementäre Basenpaarung. „So können sie mRNAs und damit die Proteinsynthese hemmen und über unterschiedliche Mechanismen den Abbau von mRNAs auslösen“, erläutert Schratt.

Für die Bindung an die mRNAs ist die sogenannte Seed-Region der miRNAs besonders wichtig, die mit der zweiten Base am 5’-Ende beginnt. Nach dieser folgen etwa acht Basen, über die miRNAs an das 3’-Ende von mRNAs vor dem Poly-A-Schwanz andocken. „Die Basenpaarung mit einer miRNA ist meistens nicht perfekt“, erklärt der Molekularbiologe – die kurze Basenfolge muss nicht exakt komplementär sein. Das macht es häufig schwer, eine miRNA auf eine einzelne Funktion festzunageln. „In der Regel exisitieren hunderte von möglichen Partnern, schon aufgrund dieser nicht perfekten Komplementarität in der Basenpaarung.“

Hinzu kommt, dass eine miRNA ihre Ziel-mRNA nicht immer komplett ausschaltet. „Deshalb sehen wir in der Folge oft nur subtile Veränderungen und nicht eine hundertfache Aktivierung wie bei klassischen Transkriptionsfaktoren“, geht Schratt auf die Hürden beim Erforschen von miRNAs ein. „Die Zellantwort ergibt sich meist aus einer kumulativen Wirkung auf viele unterschiedliche Targets.“ An die miRNA gebunden gelangt normalerweise auch ein Argonauten-Protein an die Ziel-RNA, das dann wiederum Prozesse zum RNA-Abbau einleitet, je nachdem wie fest oder locker die Seed-Region mit der Ziel-Sequenz hybridisiert.

Will man den für einen bestimmten Prozess relevanten miRNAs auf die Spur kommen, beginnt man in der Regel mit Transkriptom-Analysen. Dabei können die kurzen miRNAs aber leicht im Hintergrundrauschen anderer Transkripte untergehen. Nicht nur mRNAs sind dabei hinderlich, sondern vor allem die großen Mengen ribosomaler RNA in den Isolaten. Daher verwenden viele miRNA-Jäger die sogenannte ribo-minus-RNA-seq. „Wie der Name schon impliziert, depletiert man bei dieser Methode die Ribosomen-RNA“, erläutert Schratt. „Dadurch erhöht man die Sensitivität für die anderen RNAs und erhält eine größere Tiefe beim Sequenzieren.“

Schwierige Suche nach der Funktion

Ans Eingemachte geht es, wenn man aus den Korrelationen zwischen miRNAs und dem Zelltyp oder einem Differenzierungsstadium auch auf Funktionen und Kausalitäten schließen möchte. Analog zu genetischen Studien existieren aber auch hier Strategien, die Signalwege systematisch aufzuschlüsseln. Schratt nennt eine Arbeit aus dem Jahr 2009 als Beispiel, auf die er heute noch gern zurückblickt. Mit seinen Kollegen konnte er den Einfluss der miRNA miR-138 auf die Bildung dendritischer Spines aufklären, die als winzige pilzförmige Ausstülpungen aus der dendritischen Zellmembran hervortreten (Nat. Cell Biol. 11(6): 705-16). „Wir hatten zunächst gesehen, dass eine wichtige Ziel-mRNA von miR-138 für APT1 codiert“, erinnert sich Schratt. „APT1 ist eine Protein-Thioesterase, die die De-Palmitoylierung von Proteinen auslöst. Palmitoylierungen wiederum sind wichtig, um Proteine an eine Membran zu bringen.“ APT1 entfernt die Fettreste von Proteinen, sodass sie nicht mehr an die Membran gelangen. miR-138 bremst die Aktivität von APT1. „Wir konnten damals zeigen, dass es zu einer verstärkten De-Palmitoylierung kommt, wenn wir miR-138 inhibieren“, fasst Schratt zusammen.

Den miRNA-Knockdown erreicht man zum Beispiel mithilfe von Locked Nucleic Acid (LNA) modifizierten Antisense-Oligos – diese Methode nutzte Schratts Team auch 2009. „Das ist eine klassische Antisense-Technologie, für die passende Oligonukleotide synthetisiert werden“, erklärt er und weist darauf hin, dass man diese nach eigenen Wünschen generierten Oligonukleotide heute ganz unkompliziert kommerziell bestellen kann. „Die Antisense-Stücke haben eine perfekte Komplementarität zur miRNA, um sich einen Vorteil zu verschaffen gegenüber den vielen endogenen Paarungen.“ Über eine chemische Modifikation der Oligos wird die Affinität deutlich erhöht, sodass diese, nachdem sie binden, fest an der miRNA verankert bleiben und das Ziel damit gewissermaßen abgeriegelt (locked-in) ist.

„In diesem Signalweg konnten wir später noch weiter runtergehen und ein G-Protein ermitteln, das genau solch eine Palmitoylierung aufweist“, fährt Schratt fort. „Am Ende hatten wir einen recht vollständigen Pathway – und haben dann auch klassische Epistasis-Experimente gemacht und den Phänotyp bei unterdrückter miRNA wieder befreit.“

Symbolbild Gehirn
Nicht-codierende RNAs könnten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns spielen. Illustr.: NIH

Derzeit geht Schratts Arbeitsgruppe der Frage nach, wie sich das menschliche Gehirn molekularbiologisch von anderen Gehirnen unterscheidet. Betrachtet man nämlich allein die proteincodierenden Gene, so könnte man überspitzt sagen, dass sich C. elegans und Mensch nicht unterscheiden – beide Organismen enthalten etwa 20.000 Gene. Aufs Gaspedal drückt die Evolution viel lieber in nicht-codierenden Regionen der DNA. Hier findet man bereits zwischen Menschen und anderen Primaten große Unterschiede. Man spricht bei diesen meist nicht mit Proteinen assoziierten DNA-Abschnitten auch von Human Accelerated Regions.

„Ein fundamentaler Unterschied im menschlichen Gehirn ist die verlängerte Reifungsperiode“, sagt Schratt. Er weist insbesondere auf den präfrontalen Cortex hin, in dem Eigenschaften lokalisiert sind, die man speziell dem Menschen zuschreibt. Offenbar ist es nicht allein die größere Anzahl an Neuronen und die größere Cortex-Oberfläche, die uns Menschen eigen ist, sondern auch die Steuerung der Entwicklung. Vieles läuft bei uns langsamer ab, die Zeitfenster bleiben länger offen. Das Gehirn erhält dadurch bis ins Alter eine hohe Plastizität. Damit verbunden sind besondere Fähigkeiten, die bei anderen Säugetieren nur sehr jungen Individuen vorbehalten bleiben. Man spricht daher von „menschlicher Neotenie“, wobei mit Neotenie das Beibehalten jugendlicher Merkmale auch im adulten Individuum gemeint ist. Das bekannteste Beispiel für Neotenie ist der Axolotl, ein Querzahnsalamander, der lebenslang im Larvenstadium verbleibt, aber dennoch fortpflanzungsfähig ist.

Was macht den Unterschied?

Was den Menschen auf molekularbiologischer Ebene zum Menschen macht, sind aber offensichtlich nicht in erster Linie die Proteine. „Hier könnten die nicht-codierenden RNAs ein wichtiger Mosaikstein sein“, spekuliert Schratt. Inzwischen kennt man miRNAs, die während der menschlichen Hirnentwicklung aktiv sind, in den Gehirnen anderer Primaten aber nicht vorkommen. Diesen humanspezifischen miRNAs ist Schratt derzeit auf der Spur.

Nah genug an der Realität

Für die Experimente verwendet seine Gruppe ein Zellkulturmodell aus exzitatorischen Neuronen, die die Forschenden aus menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen gewinnen. „Wir glauben, dass man diese Zellen mit humancorticalen Neuronen vergleichen kann, auch wenn uns klar ist, dass wir natürlich nicht die In-vivo-Situation vorfinden“, betont Schratt und führt weiter aus: „Die Zellen dürften aber gut geeignet sein, um Differenzierung, Synapsenbildung und synaptische Plastizität nachzustellen. Und wir haben darin bereits viele nicht-codierende RNAs gesehen, die tatsächlich nur im humanen Kontext anzutreffen sind und keine Homologe in verwandten Primaten wie dem Schimpansen haben.“ Das sei ein fundamentaler Unterschied zu den klassischen proteincodierenden Genen.

Erste Ergebnisse hierzu hat Schratts Arbeitsgruppe im Oktober in einem Preprint vorgestellt (bioRxiv doi.org/k2sq). Die microRNA miR-1229-3p fiel den Forschenden besonders ins Auge: Ihre Kopienzahl sinkt beim Ausdifferenzieren der Synapsen zunächst, steigt aber wieder an, wenn sich die Dendriten entwickeln. Man habe aber in den Human Accelerated Regions auch viele andere Kandidaten gefunden, zum Beispiel einige lange nicht-codierende RNAs (lncRNAs), schreiben die Autoren (mehr zu lncRNAs finden sie in dem Special-Artikel ab Seite 42 - Link). „Die werden wir uns in den nächsten Jahren genauer anschauen“, blickt Schratt in die Zukunft.

Er meint, dass man nicht-konservierte Sequenzen lange Zeit vernachlässigt habe, mit dem Credo, dass diese dann auch keine wichtige Funktion ausüben könnten. „Inzwischen wissen wir“, so Schratt, „dass nicht-konservierte ncRNAs und auch nicht-konservierte Interaktionen durchaus von biologischer Relevanz sein können – und dass wir dabei auf spezifische Funktionen stoßen, die erst kürzlich von der Evolution kreiert wurden.“