Pflanze mit Gedächtnis
Verantwortlich für das Schließen der Falle sind Aktionspotenziale, die entstehen, wenn ein Beutetier – meist ein Insekt – auf der Innenseite der Fangblätter die sogenannten Fühl- oder Auslöseborsten berührt. Diese haarartigen, vielzelligen Blattauswüchse besitzen an ihrer Basis eine Verjüngung, die als Gelenk fungiert. Direkt dahinter und damit an der Basis der Fühlborsten befinden sich die Rezeptorzellen. Werden die Fühlborsten durch ein Insekt mit einer bestimmten Kraft verbogen, entsteht ein Aktionspotenzial. Wenn innerhalb von 20 Sekunden ein zweites Aktionspotenzial folgt – die Pflanze muss sich also an das erste erinnern –, entspannt sich die anatomisch vorgespannte Falle und klappt zu. Dabei wird die Beute eingeschlossen. Ihr Zappeln führt zu weiteren Aktionspotenzialen, die zuerst die Produktion des Pflanzenhormons Jasmonsäure und dann die von Verdauungsenzymen auslösen.
Bereits seit 1875 weiß man, dass das Narkosemittel Äther – chemisch korrekt Diethylether – den Fangmechanismus der Venusfliegenfalle Berührungen gegenüber unempfindlich macht. Ihrer medizinischen Bedeutung und intensiver Forschung zum Trotz ist die Wirkung von Narkosemitteln noch immer rätselhaft. Äther als kleines, lipophiles Molekül wirkt vermutlich an der Grenzfläche zwischen Plasmamembranlipiden und dem Zielprotein. Bei Tieren vermutet man eine Interaktion mit den Kationen-Kanälen, die für die Ausbildung tierischer Aktionspotenziale unabdingbar sein. Da bei Pflanzen Aktionspotenziale aber hauptsächlich durch die Aktivität von Anionen-Kanälen zustande kommen, muss Äther bei der Venusfliegenfalle an einer anderen Stelle angreifen. Wissenschaftler um Rainer Hedrich von der Universität Würzburg haben sich deshalb die Vorgänge im Fangblatt unter Narkose noch einmal im Detail angeschaut.
Komplizierte Ionenströme
Was im Fangblatt nach einer Berührung der Fühlborsten geschieht, ist unter anderem durch Vorarbeiten von Hedrichs Arbeitsgruppe bereits gut bekannt. So werden im ersten Schritt sowohl mechanosensitive Calcium-Kanäle (OSCA) als auch der mechanosensitive Anionen-Kanal MSL10 aktiviert. Das in die Rezeptorzelle einströmende Calcium aktiviert dann zum einen andere Calcium-Kanäle, die Calcium über die Plasmamembran und in der Folge wohl auch aus dem Endoplasmatischen Reticulum ins Cytoplasma strömen lassen und damit das Calcium-Signal in der Zelle verstärken. Zum anderen aktiviert es aber auch spannungsabhängige Anionen-Kanäle, die für eine Depolarisierung der Zelle sorgen und somit letztlich das Aktionspotenzial auslösen. Kalium-Ausstrom stellt anschließend das Ruhepotenzial wieder her.
Sowohl das elektrische als auch das Calcium-Signal können sich blitzschnell von der Rezeptorzelle auf angrenzende Zellen ausbreiten wie Hedrich erklärt: „Die Aktionspotenziale lösen in den Nachbarzellen durch die Aktivierung von noch unbekannten, direkt oder indirekt spannungsabhängigen Ionenkanälen ebenfalls den Einstrom von Calcium aus. So schaukeln sich Aktionspotenziale und Calcium-Welle gegenseitig auf.“ Mithilfe eines genetisch codierten fluoreszierenden Calcium-Sensors konnte das Forschungsteam sichtbar machen, wie sich das Calcium-Signal von einer stimulierten Fühlborste zu den anderen Fühlborsten des Fangblatts ausbreitete.
Narkose unterbricht die Weiterleitung
Um nun zu untersuchen, wie Äther das Calcium-Signal beeinflusst, verwendeten Hedrich et al. ein Fangblatt, bei dem eine Hälfte entfernt worden war und das sich deshalb nicht mehr schließen konnte. Eine der drei Fühlborsten pro Fallenhälfte wurde nun wiederholt berührt. Nach dem dritten ausgelösten Aktionspotenzial wurde das Blatt mit Äther bedampft. Bereits nach zwei Minuten zeigte sich die erste Veränderung: Die Calcium-Welle wanderte nicht mehr zur Spitze der Fühlborsten. Nach weiteren zwei Minuten blieb das Signal ganz auf die stimulierte Fühlborste beschränkt.
Dabei war die Hemmung reversibel; bereits wenige Minuten nach der Entfernung des Äthers breitete sich die Calcium-Welle wieder wie gewohnt aus. Weil sich die Calcium-Ströme in der stimulierten Fühlborste selbst nicht veränderten, schlossen die Autoren die beteiligten mechanisch-aktivierbaren Calcium-Kanäle und die Ca2+-ATPase, die als Rückstellkraft verhindert, dass die Mechanorezeptorzelle mit Calcium-Ionen vollläuft, als Ziele des Betäubungsmittels aus. Aber nicht nur auf die Calcium-Wellen hatte der Äther einen Einfluss. Mithilfe von Oberflächenelektroden konnten die Würzburger nachweisen, dass unter dem Einfluss von Äther die Amplitude der Aktionspotenziale immer kleiner wurde, bis die elektrischen Impulse ganz verschwanden. Auch dieser Effekt war reversibel.
Glutamatrezeptor als mögliches Ziel
Etwas Ähnliches haben die Botaniker beobachtet, als sie sich unreife Fangblätter angeschaut haben. Diese schließen sich noch nicht als Reaktion auf Berührung. Dennoch erzeugen sie ein Calcium-Signal, das sich aber genau wie unter Betäubung nicht ausbreiten kann. Auch Aktionspotenziale wurden keine gebildet. Hedrich und sein Team leiteten daraus ab, dass das Ziel, am dem Äther angreift, nur in reifen Fangblättern aktiv sein sollte und suchten nach entsprechenden Kandidaten.
Interessanterweise stießen sie dabei auf ein Gen, das für einen ganz bestimmten Glutamatrezeptor codiert (DmGLR3.6). Dieser spielt beispielsweise bei der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana eine Rolle bei der systemischen Antwort auf eine Verletzung, die für die Pflanze ein Zeichen für einen Fressfeind ist. Ausgelöst wird die systemische Reaktion durch Glutamat, das passiv aus verwundeten Zellen austritt. Fehlt der entsprechende Rezeptor, bleibt die Reaktion aus. Durch eine externe Zugabe der Aminosäure lassen sich Calcium-Welle und elektrisches Signal auch bei unverletzten Pflanzen auslösen.
Ungelöste Fragen
Auch bei der Venusfliegenfalle führte eine Verwundung mit einer Pipettenspitze zu einem schnellen elektrischen sowie einem Calcium-Signal, die sich seitlich von der verwundeten Stelle weg über das gesamte Fangblatt ausbreiteten. Anders als bei der bloßen Berührung blieb das Calcium-Signal an der Basis der betroffenen Fühlborste lange erhalten. Unter Ätherbedampfung ließ sich dagegen durch eine Verwundung kein Aktionspotenzial mehr auslösen. Zwar entstand an der Wunde wie zuvor lokal ein Calcium-Signal, doch breitete sich dieses nicht mehr aus. Auch die externe Zugabe von Glutamat änderte daran nichts. Damit ist der Glutamatrezeptor ein guter Kandidat für den Äther-Angriffspunkt.
Doch warum wird dann auch die Reaktion auf eine normale Berührung unterdrückt, bei der Glutamat eigentlich keine Rolle spielen sollte? „Eine gute Frage“, antwortet Hedrich. „Äther verhindert sowohl durch Glutamatgabe ausgelöste Aktionspotentiale als auch solche, die durch Berührung der Fühlborsten auf den Weg gebracht werden. Unsere Daten deuten darauf hin, dass der Glutamatrezeptor, der während der Reifung der Fangblätter induziert wird, sowohl durch Glutamat als auch durch Spannungsänderungen aktiviert werden kann und dass er irgendwie an der Weiterleitung der Calcium-Welle bzw. der Aktionspotenziale eine Rolle spielen muss.“ Diese Hypothese soll nun mit einer Mutante, der der Glutamatrezeptor fehlt und die sich mit verschiedenen Rezeptorvarianten komplementieren lässt, getestet werden.
Larissa Tetsch
Scherzer S. et al. (2022): Ether anesthetics prevents touch-induced trigger hair calcium-electrical signals excite the Venus flytrap. Sci Rep, 12:2851
Bild: Pixabay/NicholasDeloitteMedia
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