Unverständnis und Kritik
In der Corona-Pandemie mussten Politiker plötzlich Entscheidungen treffen, die die Gesundheit von Millionen von Menschen betrafen und im schlimmsten Fall den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachten. Diese Entscheidungen basierten auf wissenschaftlichen Fakten, die sie nicht im Detail verstehen konnten und die sich darüber hinaus schnell veränderten. In einem solchen Fall ist es sinnvoll, jemanden zu fragen, der sich auskennt. So wurden über Nacht Virologen und Epidemiologinnen wertvolle Ansprechpartner und Beraterinnen.
Was das für die meist auf diese Rolle nur unzureichend vorbereiteten Akteure bedeutet hat, ließ sich in der Presse verfolgen: Experten wurden zum Teil massiv für ihre Stellungnahmen angegriffen und insbesondere der offene Umgang mit der Tatsache, dass Forschung immer „Work in Progress“ ist, sorgte in der Öffentlichkeit für Unverständnis und Kritik. Ein spannendes Forschungsfeld für Sprachwissenschaftler wie Kersten Sven Roth, Nina Janich und ihre Teams. Roth forscht an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg vorwiegend zu Politik- und Mediensprache, seine Kollegin von der TU Darmstadt hat einen ihrer Schwerpunkte in der Wissenschaftskommunikation.
„Direkt zu Beginn der Pandemie 2020 haben wir beschlossen, den laufenden Corona-Diskurs unter dem Gesichtspunkt ‚live‘ zu untersuchen, wie die Wissenschaftskommunikation einer Fachwissenschaft, die öffentliche Aufmerksamkeit nicht gewohnt ist, im Kontext prekärer politischer Entscheidungsprozesse funktioniert“, erklärt Roth, der in Magdeburg die Arbeitsstelle für linguistische Gesellschaftsforschung leitet. Dabei handelt es sich um eine Forschungs- und Beratungseinrichtung, die u. a. „Wissenschaft in der Öffentlichkeit“ als Profil-Schwerpunkt hat. Laut Roth war das Pandemie-Projekt dafür gewissermaßen ein prototypisches Modellprojekt. „Die Annahme war, dass sich hier ‚unter dem Brennglas‘ beobachten lässt, was auch für andere politisierte Wissenschaftsdiskurse (Gentechnik, Klimawandel usw.) gilt“, so der Linguist.
Brinkmann, Drosten et al.
Gemeinsam mit den Projektmitarbeiterinnen Sina Lautenschläger (Magdeburg) und Lisa Rhein (Darmstadt) untersuchten Roth und Janich über zwei Jahre lang das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien: von November 2020 bis Frühjahr 2023 – der Hochzeit der Corona-Pandemie. Die Analysen konzentrierten sich auf neun während der Pandemie in der Öffentlichkeit besonders präsente Wissenschaftler, darunter Melanie Brinkmann und Christian Drosten. Neben Zeitungsartikeln, Pressekonferenzen und Interviews waren für die Studie vor allem Talkshows ergiebig, weil hier Politik, Wissenschaft und Medien direkt aufeinandertrafen.
Während Politikerinnen und Pressevertreter den Umgang miteinander gewohnt waren, waren die Forscher medial weitgehend unerfahren. So konnten die Sprachwissenschaftler beobachten, ob und wie die Politik die Wissenschaft vereinnahmte und wie sich die Forschenden dagegen abgrenzten. „Im Fokus des Projektes standen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, da diese quasi aus dem Elfenbeinturm, der Wissenschaftsblase, hinausgetreten sind und Wissenschaftskommunikation nun jenseits des sonst gewohnten Rahmens auf ‚rauer See‘, also im Angesicht massenmedialer und politischer Logik betreiben wollten und mussten“, erklärt das Projektteam in der Pressemitteilung zur Studie („Zwischen Elfenbeinturm und rauer See – zum prekären Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik und seiner Mediatisierung am Beispiel der ‚Corona-Krise‘“).
Unterschiedlicher Umgang mit Unsicherheiten
Die unfreiwilligen Probanden seien anfangs sehr offen mit dem „bestehenden, aber überwindbaren Nichtwissen“, das ein Kennzeichen von Forschung ist, umgegangen. Von den Akteuren, die das nicht gewohnt waren – also Politikern und Medienvertreterinnen – wurde das allerdings nicht positiv ausgelegt. Im Gegenteil: Die Politik habe Unsicherheiten ausgenutzt, um Verantwortung abzugeben beziehungsweise fehlende politische Maßnahmen zu rechtfertigen, wird Lautenschläger zitiert. „Auch in der medialen Berichterstattung wurde diese transparente Kommunikation des Nichtwissens und eines bis dato unvollständigen Wissensstandes genutzt, um die Glaubwürdigkeit und den Nutzen von wissenschaftlicher Forschung in Frage zu stellen.“
Nicht überraschend frustrierte das die Wissenschaftler. Während sie anfangs weitgehend Fakten dargelegt hätten, seien sie später dazu übergegangen, die Medienlogik zu bemängeln, die „die virologisch-epidemiologische Komplexität nicht nur drastisch reduziert darstellte, sondern auch Machtkämpfe zwischen den einzelnen Forschenden konstruierte und in den Vordergrund stellte.“ Ein wesentlicher Grund für die Irritationen sei, dass der „in der Wissenschaft geforderte, transparente Umgang mit Nichtwissen für Politikerinnen und Politiker ungewohnt und schwer auszuhalten sei“, fasst Roth zusammen. Die Politik wolle klare Antworten, die die Wissenschaft nicht geben könne.
Tipps für die Kommunikation
Deshalb sei es wichtig, dass künftig die unterschiedlichen Rollen und Erwartungshaltungen beider Akteursgruppen definiert werden. Die Wissenschaftler hätten die klare Abgrenzung zur Politik zwar immer gefordert, seien aber zum Teil sehr deutlich gedrängt worden, eine politische Bewertung abzugeben. Dadurch wurde ihnen große politische Entscheidungsmacht zugeschrieben – eine Verantwortung, die die Experten oft nicht tragen wollten.
Da die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Studienautoren zufolge auf ihre neue Rolle als Politikberater in Zeiten der Pandemie nicht ausreichend vorbereitet waren, werden die Linguisten in Kürze einige kurzgefasste Hinweise für die Praxis von Wissenschaftskommunikation im politischen Kontext veröffentlichen, die auf ihren Beobachtungen beruhen. Den Corona-Experten bescheinigen sie übrigens eine eigentlich sehr gute Leistung: Sie hätten „während der Corona-Pandemie in den Massenmedien mehrheitlich sachlich und evidenzorientiert kommuniziert, auf Dramatisierung weitgehend verzichtet und auf bestehende Wissenslücken deutlich hingewiesen.“ Den Fallstricken medialer und politischer Logik konnten sie allerdings auch damit nicht immer entkommen.
Larissa Tetsch
Bild: ZDF/Harry Schnittger
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